Ausufernde Machtkämpfe und Schlammschlachten - Tunesien in der Sackgasse?

Oben: Abdelkrim Zbidi. Bild: Gemeinfrei / Abdelfattah Mourou, Bild: Parti Mouvement Ennahdha, CC-BY-SA-2.0 / Unten: Nabil Karoui, Bild: Magharebia, CC-BY-2.0 / Hamadi Jebali, Bild: World Economic Forum, CC-BY-SA-2.0

In einem richtungsweisenden Wahlmarathon werden die Karten im "Vorzeigeland" des Arabischen Frühlings neu gemischt.

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Ermittlungen und Klagen gegen mehrere Präsidentschaftsanwärter wegen Korruption, Geldwäsche oder Steuerhinterziehung, die Verhaftung eines Topfavoriten auf den Einzug in die Stichwahl kurz vor Wahlkampfbeginn und sich immer weiter hochschaukelnde Graben- und Machtkämpfe, die selbst innerhalb der politischen Lager mit einem Eifer geführt werden, der seinesgleichen sucht. Die am 15. September anstehende erste Runde der Präsidentschaftswahl in Tunesien mauserte sich auch deshalb bereits im Vorwahlkampf zu einem veritablen Politkrimi - mit ungewissem Ausgang.

Ernüchterung über die politische Klasse

Während das Rennen um den Einzug in den Präsidentenpalast von Carthage im schicken Norden von Tunis auch angesichts der Vielzahl an Kandidaten spannend zu werden verspricht, macht sich in weiten Teilen der Bevölkerung schon seit Jahren Ernüchterung über die politische Klasse im Land breit. Diese vermochte es in den neun Jahren seit Ausbruch des landesweiten Massenaufstandes im Dezember 2010, der zum Fall der Diktatur von Expräsident Zine el-Abidine Ben Ali geführt hatte, nicht, den seither immer heftiger werdenden sozialen und ökonomischen Verwerfungen der tunesischen Volkswirtschaft wirksam etwas entgegenzusetzen.

Vor allem in den seit Jahrzehnten strukturell vernachlässigten und an hoher Arbeitslosigkeit leidenden Regionen im Süden und Westen des Landes macht man sich kaum noch Illusionen über die Versprechungen politischer Parteien oder Regierungsvertreter. Tunesiens politischen Eliten wird vorgeworfen, vor allem mit sich selbst beschäftigt zu sein. Neun verschiedene Regierungen hat das Land seit 2011 verschlissen. Kein Wunder also, dass der Zentralstaat kaum in der Lage war, der heftigen sozioökonomischen Strukturkrise mit kohärenten Entwicklungsstrategien zu begegnen.

Nicht unerheblich für diese Instabilität der sich neu formierenden politischen Klasse im Land war gewiss auch die Repression des Ben Ali-Regimes, das mehr als 20 Jahre lang alles daran gesetzt hatte, sämtliche Oppositionsbewegungen politisch kaltzustellen.

Entsprechend mühsam waren und sind parteipolitische Selbstfindungsprozesse sowie Allianz- und Koalitionsbildungen innerhalb und zwischen den politischen Lagern. Die in solchen parteipolitischen Entstehungsphasen unausweichlichen Grabenkämpfe nahmen aber in den letzten Jahre teils absurde Züge an und werden allmählich zu einem ernsthaften Problem. Ein Ausweg, der auch langfristig ein gewisses Maß an politischer Stabilität garantieren könnte, ist bisher nicht in Sicht.

Richtungsweisender Wahlmarathon

Die Intensität der jüngsten Machtkämpfe hat gewiss auch mit der Signifikanz des anstehenden Wahlmarathons zu tun, schließlich steht in den kommenden zwei Monaten nicht weniger als die komplette Neubesetzung von Exekutive und Legislative bevor. Neben einem neuen Staatsoberhaupt, das wie in der 2014 in Kraft getretenen neuen Verfassung festgeschrieben nur begrenzte exekutive Befugnisse innehat, findet am 6. Oktober zusätzlich die erste Runde der machtpolitisch wichtigeren Parlamentswahl statt, denn es ist das Parlament, das Premierminister und Regierung einsetzt.

Die eigentlich erst für Mitte November geplante Präsidentschaftswahl musste derweil vorgezogen werden, nachdem Tunesiens erster frei gewählter Präsident Béji Caïd Essebsi im Juli verstorben war. Parlamentspräsident Mohamed Ennaceur übernahm daraufhin wie in der Verfassung vorgeschrieben kommissarisch das Amt und rief vorgezogene Neuwahlen aus.

Dass nun Präsidentschaftswahlen vor Parlamentswahlen stattfinden, zwang Tunesiens Parteien dazu, sich für die Wahlgänge strategisch neu aufzustellen, könnte aber den Parteien der beiden in die Stichwahl einziehenden Kandidaten Rückenwind für die Parlamentswahl verschaffen. Zeitgleich könnten unabhängige Listen für die Legislativwahl von der anhaltenden Schlammschlacht zwischen den etablierten Parteien profitieren. Ein noch zersplitterteres Parlament scheint unausweichlich, die Bildung einer stabilen Regierung dürfte damit zusätzlich erschwert werden.

Verfrühte Wahlen dürften zudem der unabhängigen Wahlkommission ISIE Probleme bereiten, da diese nun zwei Monate weniger Zeit hat, sich auf die Urnengänge vorzubereiten, Kandidaturen zu überprüfen und die gesetzlich festgelegten Obergrenzen für Wahlkampfausgaben zu überwachen. In Tunesiens nach wie vor fragilem demokratischen Umfeld mit all seinen administrativen Defiziten ist das gewiss keine Kleinigkeit.

Das Rennen um das Präsidentenamt gilt derweil als absolut offen. Wesentlicher Grund für die Unberechenbarkeit des Ausgangs der ersten Runde ist vor allem die Tatsache, dass aus allen politischen Lagern mehrere hochkarätige Kandidaten antreten.

Im gemäßigt-islamistischen Spektrum stehen neben dem Kandidaten der Ennahda-Partei, Abdelfattah Mourou, auch Hatem Boulabiar und Expremierminister Hamadi Jebali - beides ehemalige Ennahada-Führungskader - auf der Kandidatenliste. Im wirtschaftsliberal-säkularen, anti-islamistischen Lager stellen sich gar sechs ehemalige Führungsköpfe der von Expräsident Essebsi gegründeten Partei Nidaa Tounes zur Wahl.

Auch die als chancenlose geltende Linke ist zersplittert.

Gute Ausgangslage für Tunesiens gemäßigte Islamisten

Die von persönlichen Ambitionen und erbitterten Feindschaften unterfütterte Selbstzerfleischung von Nidaa Tounes dürfte dabei für den betont moderat auftretenden Mourou von Vorteil sein. Seine Ennahda erwies sich in der letzten Legislaturperiode als mit Abstand stabilste politische Kraft im Land.

Auch ihre Fraktion wurde durch abwandernde Parlamentarier leicht dezimiert, Nidaa Tounes jedoch ist seit 2014 sprichwörtlich auseinandergefallen. Letztere zog damals mit 86 Mandaten ins 217 Sitze zählende Parlament ein, Ennahda mit 69. Zu Ennahda bekennen sich heute noch 68, zu Nidaa nur 26 Abgeordnete.

Unklar bleibt, wie stramm Ennahdas traditionelle Wählerbasis heute hinter der Partei steht und wie stark sich deren Stimmen auf die drei Kandidaten verteilen werden. Jebali verließ die Partei bereits 2014, Boulabiar jedoch sagte sich erst im Juli nach wochenlangen öffentlichen Konflikten von der Partei los und kündigte daraufhin an, für das Präsidentenamt kandidieren zu wollen. Während Mourous Kandidatur bei der innerparteilichen Wahl zwar fast einstimmig abgesegnet wurde, unterstützten vier Ennahda-Parlamentarier die Kandidatur Boulabiars.

"Muslimdemokraten"

Mourou spielte eine mögliche Spaltung innerhalb Ennahdas im Interview mit der tageszeitung trotzdem entschieden herunter. Die Partei scheint aber dennoch nervös zu werden und versucht im Vorfeld der Parlamentswahl die eigenen Reihen mit Druck schließen zu wollen. Gegen Ennahda-Mitglieder, die auf unabhängigen Listen antreten, sollen Disziplinarmaßnahmen verhängt werden.

Mourou hat trotzdem gute Chancen, in die Stichwahl um das Präsidentenamt einzuziehen, denn mit seiner auf Überparteilichkeit setzenden Rhetorik könnte er auch in andere Wählerschichten abseits der traditionellen Ennahda-Basis vordringen. Der aus einem bürgerlichen Umfeld in Tunis stammende Mourou gilt schon seit Langem als moderater, pragmatischer und auf Konsens setzender Vertreter seiner Partei.

Rhetorisch gibt er sich kompromissbereit und präsidial und präsentiert sich als Vermittler zwischen den verschiedenen politischen Lagern. Seine Partei firmiert dabei schon länger unter dem Label "Muslimdemokraten", während Mourou inzwischen den Begriff "konservativ" ins Spiel bringt und damit die explizite Abgrenzung seiner Partei zu den Muslimbrüdern konsequent fortsetzt. Ob ein solches Label in seiner Partei mehrheitsfähig ist, darf aber getrost bezweifelt werden.

Die Angst vor einer zu dominanten Rolle Ennahdas in Tunesiens Politik bleibt derweil bestehen. Der Partei wird bis heute unterstellt, sich pragmatisch zu geben, aber eigentlich eine deutlich konservativere Agenda zu verfolgen.

Vor allem in linken und liberalen Kreisen wird ihr vehement misstraut. Ihr nahe stehende Netzwerke werden beschuldigt, für die politisch motivierten Morde an den Linkspolitikern Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi 2013 verantwortlich gewesen zu sein. Mourou als Präsidentschaftskandidaten aufzustellen, war angesichts dieser Ressentiments fraglos eine strategisch geschickte Personalentscheidung, wird die Partei den Präsidentschaftswahlkampf doch dafür nutzen, ihren Ruf abseits ihrer Basis als moderate politische Kraft aufzupolieren.

Nidaa Tounes' folgenreiche Selbstzerfleischung

Prognosen über die Stimmenverteilung bei den Kandidaten aus dem Dunstkreis der weiterhin im Chaos versinkenden Nidaa Tounes sind derweil deutlich schwieriger. Sowohl dem seit 2016 amtierenden Premierminister Youssef Chahed, der damals von Nidaa ins Amt gehievt wurde, sich aber mit der Partei überwarf und im Winter mit Tahya Tounes (Lang lebe Tunesien) eine eigene Partei gründete, als auch dem parteilosen, Expräsident Essebsi nahe stehenden ehemaligen Verteidigungsminister Abdelkrim Zbidi werden Chancen auf den Einzug in die Stichwahl eingeräumt.

Klarer Favorit aus diesem Lager ist jedoch der umstrittene Medienmogul Nabil Karoui, der sämtliche im Sommer durchgeführten Wahlumfragen teils mit Abstand anführte.

Chahed agierte seit seiner Amtseinführung dabei durchaus geschickt und hielt sich deutlich länger an der Regierungsspitze als alle seine Vorgänger. Der Preis, den sein Lager dafür zahlen musste, ist jedoch hoch. Der 42jährige Wirtschaftsliberale legte sich in den letzten drei Jahren nicht nur mit Staatspräsident Essebsi an, sondern lieferte sich zudem einen nicht enden wollenden Machtkampf mit Nidaa-Chef Hafedh Caïd Essebsi, dem Sohn des inzwischen verstorbenen Parteigründers, der letztendlich das Auseinanderbrechen von Nidaa Tounes nur noch beschleunigte. Im Winter verließ Chahed auch formell seine alte politische Heimat, gründete eine eigene Partei und schmiedete eine neue Koalition im Parlament, bestehend aus Nidaa-Abweichlern (43 Sitze) und Ennahda.

Die dadurch im Parlament stark dezimierte Nidaa Tounes blieb außen vor, konnte aber trotz dieses reinigenden Gewitters die parteiinternen Querelen bis heute nicht beenden. Während Hafedh Caïd Essebsi schon vor Wochen seine Unterstützung für Zbidis Kandidatur bekannt gab, stellte sich erst letzte Woche Nidaas Politbürochef, Radhouane Ayara, überraschend hinter Chahed.

Ayara rief dabei in bizarrer Manier zur Einheit der Partei auf und erklärte, die Unterstützungserklärungen für Zbidi aus den Reihen Nidaas seien ohne Konsultationen mit Nidaas Politbüro gemacht worden. Nidaas Zerfall dürfte also weitergehen.

Die Affäre Karoui spaltete das Land

Nidaa Tounes‘ beispiellose Flügelkämpfe machten dabei monatelang Schlagzeilen in der lokalen Presse, werden inzwischen aber von einem anderen skandalträchtigen Machtkampf überlagert. Der schon seit Juli immer wieder aufflammende Schlagabtausch zwischen Chahed und Nabil Karoui hat sich zu einem nicht ungefährlichen Politkrimi entwickelt, in dem wahltaktisches Kalkül nicht nur den politischen Gegner, sondern auch staatliche Institutionen unterminiert. Denn die Justiz wird von zweiterem inzwischen offen beschuldigt, Chahed Wahlkampfhilfe geleistet zu haben.

Karoui, Mehrheitseigner des in Tunesien äußerst populären und seit 2018 ohne Lizenz operierenden Fernsehsenders Nessma TV, hatte sich ironischerweise ebenso wie Chahed mit Hafedh Caïd Essebsi überworfen, Nidaa Tounes daraufhin verlassen und eine eigene Partei gegründet. Der exzentrisch auftretende Politiker genießt den Ruf, sich für die Belange der Armen einzusetzen und verteilte immer wieder Lebensmittel und andere Sachleistungen in marginalisierten Regionen des Landes - öffentlichkeitswirksam festgehalten durch Kamerateams seines Senders. Ende August war er kurz nach der Eröffnung eines Lokalbüros seiner Partei Qalb Tounes (Herz Tunesiens) im Westen des Landes verhaftet worden und sitzt seither hinter Gittern - ein politisches Erdbeben kurz vor Beginn der heißen Wahlkampfphase.

Hintergrund der Ermittlungen gegen den 56jährigen und seinen Bruder Ghazi sind Recherchen der tunesischen NGO I-Watch, die offenbar mehr als nur Verdachtsmomente gegen die Brüder ans Tageslicht beförderten. Schon 2016 reichte die Organisation Klage wegen angeblicher Geldwäsche und Steuerhinterziehung gegen die Brüder ein, die sie mit einem Netz an Tarnfirmen im Ausland zu verschleiern versucht haben sollen. Passiert war nach dem Einreichen der Klageschrift lange nichts, bis im Juli 2019 ein Gericht die Konten der beiden einfror und sie mit Ausreiseverboten belegte.

Während Karouis 2007 gegründeter TV-Sender schon seit Jahren in teils unverhohlener Manier für Nidaa Tounes geworben hatte, setzt er ihn auch heute ungeschminkt für politische Zwecke ein und wurde dafür nicht nur einmal von Tunesiens Medienaufsichtsbehörde HAICA heftig kritisiert. Indes sich Ghazi Karoui Berichten des tunesischen Radiosenders Mosaique FM zufolge trotz Ausreiseverbots ins Nachbarland Algerien abgesetzt hat, erklärte der Präsident der Wahlkommission ISIE, Nabil Baffoun, Karouis Verhaftung disqualifiziere ihn keineswegs von seiner Präsidentschaftskandidatur. Er gelte so lange als unschuldig bis ein Gericht ihn rechtskräftig verurteilt hat. Das aber wird bis zum Wahltermin am 15. September nicht passieren.

Politisch motivierte Instrumentalisierung der Justiz

Qalb Tounes-Offizielle schlachten die Affäre dabei genüsslich aus. Ein Berater Karouis bezeichnete dessen Verhaftung als "Entführung", während seine Partei unverblümt Chahed und seine "Gang" beschuldigte, hinter der Verhaftung zu stecken. Chahed stritt wenig überraschend alles ab, die Vorwürfe implizieren nicht weniger als eine Justiz, die sich vom Regierungschef instrumentalisieren lässt. Entsprechend heftig waren die Reaktionen.

Während die einen Aufklärung über die Umstände der Erlassung der Haftbefehle forderten, erklärten die anderen, man solle die Justiz ihre Arbeit machen lassen. Der heterogene und im Land einflussreiche Gewerkschaftsverband UGTT entschied sich für den Mittelweg und forderte in einer Stellungnahme praktisch beides. Das Justizministerium reagierte derweil schnell und leitete eine interne Untersuchung ein - bisher jedoch ohne deren Ergebnisse bekanntzugeben.

Ob die Verhaftung Karoui tatsächlich schadet oder ihm nicht vielmehr nützt, wird sich am Wahltag zeigen. Klar ist; Sie ist Wasser auf den Mühlen seiner Wahlkampagne, inszeniert sich Karoui doch als nicht zum Establishment gehörender Politiker und spätestens seit dem Einfrieren seiner Konten als Opfer einer politisch motivierten Kampagne seitens des amtierenden Regierungschefs, der allerdings einiges daran zu setzen scheint, Karouis Präsidentschaftskandidatur Steine in den Weg zu legen.

Unklare Gewaltenteilung unterminiert politische Transition

Schon im Juni hatte Tunesiens Parlament einer von Chaheds Partei eingebrachten Revision des Wahlgesetzes zugestimmt. Diese wurde gemeinhin als Versuch bewertet, bestimmte Kandidaten von dem Urnengang auszuschließen, hätte sie doch ausländische Parteienfinanzierung und die Verteilung von Geld- oder Sachleistungen verboten.

So sinnvoll eine solche Änderung auch sein mag, der Zeitpunkt ihres Ratifikationsprozesses warf Fragen auf, denn Karoui wäre davon zweifelsfrei betroffen gewesen. Das Gesetz trat jedoch nie in Kraft, denn der damalige Staatspräsident Essebsi weigerte sich schlichtweg, das Gesetz zu unterschreiben. Ende August trat das Parlament jedoch erneut zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen, bei der abermals eine Änderung der Wahlgesetzgebung beschlossen wurde. Doch auch diese Änderung ist weiterhin nicht wirksam, denn die Unterschrift von Interimsstaatschef Ennaceur fehlt weiterhin.

Die Auseinandersetzung um die bisher gescheiterte Revision des Wahlgesetzes weist jedoch auf eine andere Problematik in Tunesien und die Schwierigkeiten des politischen Übergangsprozesses hin. Denn die in der Verfassung vorgesehene Kompetenzaufteilung und Gewaltenteilung zwischen Präsident, Regierungschef und Parlament sind teils unklar. Solche Unklarheiten zu beseitigen, wäre eigentlich Aufgabe des Verfassungsgerichtes.

Doch aufgrund der in der Verfassung festgelegten Wahlprozeduren für die Richter - jeder an den Gerichtshof berufene Jurist muss vom Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit bestätigt werden - ist die Institution nicht arbeitsfähig. Bislang wurde erst ein Posten besetzt, ein bisher letzter Anlauf zur Wahl der offenen Posten scheiterte Mitte August. Damit können Entscheidungen von Staatspräsident oder Premierminister, aber auch von der Regierung eingebrachte und vom Parlament verabschiedete Gesetze praktisch nicht angefochten werden, verfassungsrechtliche Unklarheiten bleiben bestehen.

In Tunesiens politischer Klasse ist diese Schwachstelle inzwischen ganz oben auf der politischen Agenda angekommen. Mit Zbidi, Chahed und Mourou (siehe taz-Interview) sprachen sich gleich drei Favoriten bei der Präsidentschaftswahl für eine zügige Verfassungsreform aus, mit dem Ziel, das Land wieder regierungsfähig zu machen. Ob sie sich nach ihrer möglichen Wahl noch an derlei Versprechen erinnern werden, dürfte jedoch davon abhängen, wie ihre jeweiligen Parteien nach den Parlamentswahlen machtpolitisch dastehen.

Große Fortschritte, aber nicht in Stein gemeißelt

Trotz dieser politischen Schlammschlachten, der institutionellen und verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten und exekutiver Instabilitäten darf jedoch nicht vergessen werden, unter welchen freiheitsrechtlichen Umständen die bevorstehenden Wahlen stattfinden. Tunesien hat trotz all der erwähnten Probleme und Herausforderungen große Sprünge nach vorne gemacht.

Meinungs- und Pressefreiheit sind weitgehend etabliert, die Zulassung neuer politischer Parteien funktioniert weitgehend reibungslos und die Repressions- und Einschüchterungsmaschinerie Ben Alis scheint der Vergangenheit anzugehören - zumindest in der systematischen Form, in der sie unter Ben Alis Regentschaft mehr als 20 Jahre lang zum Alltag gehörte.

Die freie und teils politisch explizite Kulturszene floriert und die Zivilgesellschaft ist äußerst aktiv; regierungskritische Kampagnen, Veranstaltungen wie Konferenzen und Workshops sowie Demonstrationen sind heute Tagesgeschäft in Tunesien. In Sachen Frauenrechte und politischer Transparenz sind Etappensiege zu verzeichnen, vor allem wurden jedoch über längere Zeiträume öffentliche Debatten losgetreten.

In Zusammenhang mit Karouis Verhaftung und der darauf folgenden Querelen scheint in der tunesischen Öffentlichkeit derweil untergegangen zu sein, dass I-Watch nicht nur Karoui angezeigt hat, sondern gleich mehrere Präsidentschaftskandidaten.

So erklärte I-Watch Gründer Ashref Aouadi gegenüber Mediapart, die Anti-Korruptionskampagne seiner Organisation habe sich zwar auf Karoui konzentriert, die NGO habe aber auch gegen Chahed, Slim Riahi (ein weiterer ehemaliger Nidaa-Politiker, der heute ebenso mit einer eigenen Partei im Rücken kandidiert) und Boulabiar Klagen eingereicht. Ein solches Vorgehen einer zivilgesellschaftlichen Organisation gegen führende Vertreter der politischen Elite wäre unter Ben Ali undenkbar gewesen.

Dennoch bleibt Vorsicht angebracht. Die soziale Lage im marginalisierten Hinterland ist explosiv, die Strukturkrise der Wirtschaft könnte durch die vom IWF geforderten Reformen weiter verschärft werden. Zeitgleich findet inzwischen eine die Ben Ali-Ära romantisierende Rhetorik zunehmend Anklang im Land.

Präsidentschaftskandidatinnen wie Abir Moussi - früher stellvertretende Generalsekretärin der Ben Ali-Partei RCD und heute Chefin der Partei PLD - versuchen aus genau dieser Frustration zahlreicher Menschen politisches Kapital zu schlagen und fordern die Rückkehr zu einem starken Präsidialsystem.

Der partiell erfolgreiche Übergang von einer Präsidialdiktatur zu einer parlamentarischen Demokratie und die freiheitsrechtlichen Errungenschaften der letztes Jahre in diesem zum "Vorzeigeland" des Arabischen Frühlings hochstilisierten Land sind daher keinesfalls in Stein gemeißelt.

Vor diesem Hintergrund kann gar nicht oft genug betont werden, dass sich Tunesien - insbesondere vor dem Hintergrund der Ankündigungen mehrerer Präsidentschaftskandidaten, die Verfassung ändern zu wollen - derzeit in einer kritischen Phase seiner Transition befindet. In den kommenden Wochen werden die Weichen für die jeweils zweite Legislaturperiode von Staatspräsident und Parlament gestellt und deren Besetzung könnte über Erfolg oder Scheitern des tunesischen "Experimentes" entscheiden.

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