Autist im Online-Rollenspiel

Interview mit Nic Balthazar, dem Regisseur von Ben X

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Am 8. Mai kam der Film Ben X in die deutschen Kinos. Dort wird die Geschichte eines autistischen Jungen erzählt, der sich in die Welt eines Online-Rollenspiels flüchtet. Das besondere an dem Film ist, dass ein kleiner Teil der Handlung in der Online-Rollenspielwelt gedreht wurde. Christian Schiffer sprach mit dem Regisseur von Ben X, Nic Balthazar.

Alle Bilder : Kinowelt

Wie ist die Idee entstanden einen Teil der Handlung von Ben X in dem Online-Rollenspiel Archlord spielen zu lassen?

Nic Balthazar: Inspiration für den Film, war die Geschichte eines autistischen Jungen, der sich vor einigen Jahren das Leben genommen hat, weil er in der Schule gemobbt wurde. Einen Großteil seiner Freizeit verbrachte er mit dem Spielen von Computerspielen. Wir wollten das Leben des Jungen glaubwürdig darstellen und kamen so auf die Idee, einen Teil des Films in dem Online-Rollenspiel Archelord zu drehen. Neben dem interessanten ästhetischen Effekt, gebe ich zu, dass wir so auch eine Menge Geld sparen konnten.

Wie muss man sich Dreharbeiten in einer Online-Rollenspielwelt vorstellen?

Nic Balthazar: In einer Online-Rollenspielwelt zu drehen ist eigentlich ein Traum für jeden Regisseur. Die Sets, die Kostüme, das ist alles schon da, es regnet nie und die Schauspieler werden nicht krank. Wir haben den Film dann tatsächlich so gedreht, wie wir es sonst auch machen würden: Mit Drehbuch, Regieanweisungen, verschiedenen Kameraeinstellungen, ich habe sogar tatsächlich „Action“ gerufen, wenn die Szene gespielt werden sollte.

Das klingt tatsächlich nach echten Dreharbeiten…

Nic Balthazar: Ja. Aber alle Probleme von Dreharbeiten in der echten Welt lassen sich aber auch in einer virtuellen Welt nicht vermeiden. Die Schauspieler waren high-level-Charaktere und hatten in der Spielwelt auch eine gewisse Prominenz erreicht. Für die Dreharbeiten kamen sie alle zusammen und Schaulustige ließen nicht lange auf sich warten. Die mussten wir dann öfters bitten, aus dem Bild zu gehen.

Haben Sie selbst Online-Rollenspiele gespielt?

Nic Balthazar: Bevor ich den Film gemacht habe eigentlich nicht. Aber natürlich habe ich mich dann, schon aus Recherchegründen, damit auseinander gesetzt. Ich habe so eine neue, faszinierende Welt kennen gelernt. Oft hört man ja, dass Computerspiele die Jugend verdummen würde. Meine Erfahrung war, dass es Spiele gibt die richtig poetisch sind und einen nicht dümmer machen, sondern im Gegenteil. Mittlerweile bin ich sogar der Meinung, dass es die Erwachsenen sind, die borniert sind und sich hinter dem Argument, Computerspiele würden die Jugend verdummen, verstecken, um sich nicht mit einer neuen Kulturform beschäftigen zu müssen.

Wenn es um Computerspiele geht, hat man oft den Eindruck, dass man es hier zu einem Teil auch mit einem Generationenkonflikt zu tun hat. Kann ein Film wie Ben X dazu beitragen, dass dieser Graben ein bisschen zugeschüttet wird?

Nic Balthazar: Es gab immer einen Graben zwischen der Kultur der jüngeren und der Kultur der älteren. Was jetzt dazu kommt ist, dass dieser Graben, durch den unterschiedlichen Zugang zu der Technik, noch tiefer wird. Comics oder Romane, konnte man der älteren Generation, zumindest in der Theorie noch näher bringen, denn schließlich konnte sie jeder lesen der das wollte. Auch die Rockmusik konnte jeder, der sich darauf einließ, auf seinem Plattenspieler abspielen. Aber wie soll das bei Computerspielen gehen, wenn viele Ältere kein Internet oder einen brauchbaren Computer haben? Oder nicht wissen wie man ein Spiel installiert und es bedient? Die Schwelle liegt hier viel höher. Ein Film wie Ben X kann tatsächlich etwas erreichen, denn viele Ältere werden so zwar nicht auf dem Computer, aber immerhin im Kino, mit der virtuellen Welt der Jugend konfrontiert. Uns haben auch Zuschriften von Eltern erreicht, die froh waren endlich zu verstehen, weshalb ihr Kind so viel Zeit mit diesen Spielen verbringt.

Oft wird der Eskapismus dieser Spiele kritisiert. Die Jugendlichen würden sich in eine andere Welt flüchten…

Nic Balthazar: Man kann schwarz oder weiß, schwul oder behindert sein: In einem Online-Rollenspiel interessiert das niemanden. Ist es schlimm sich in solch eine Welt zu flüchten? Ich glaube nicht. Viele Spieler lernen in online-Rollenspielen auch Dinge, die sie durchaus im Beruf benutzen können, etwa den Umgang mit moderner Technik, die Kommunikation per Chats und Foren oder die Organisation einer größeren Gruppe, etwa einer Gilde. Ich glaube es ist ganz gut, sich in eine andere Welt zu flüchten, wenn man dort Dinge lernt, die man in der realen Welt gebrauchen kann.

Bisher haben sich Computerspiele ästhetisch eher beim Film bedient, als umgekehrt. Kaum ein Spiel kommt ohne filmreife Intros oder Zwischensequenzen aus. Kehrt sich dieses Verhältnis jetzt um?

Nic Balthazar: Ich glaube, dass sich Computerspiel zunehmend vom Film emanzipieren werden. Zum Teil ist das ja auch schon geschehen. Als sich vor Jahren die CD-Rom durchsetze, gab es ja viele wirklich schlechte Spiele, die unbedingt aussehen wollten wie ein Film. Das ist jetzt vorbei, Computerspiele finden zunehmend zu einer eigenen Bildsprache und Erzählform. Der Film wiederum war anfangs stark vom Theater inspiriert und hat sich mit der Zeit emanzipiert. Oder das Fernsehen: Früher waren Serien eine schlechte Kopie des Kinos. Das ändert sich gerade. Plötzlich gelten Serien sogar als die „besseren Filme“, weil dort wendungsreiche Handlung und eine komplexe Charakterentwicklung möglich ist.

Computerspiele werden also vermehrt zum Vorbild für das Kino?

Nic Balthazar: Ja. Schon allein deswegen, weil das Kino meiner Meinung nach künstlerisch stagniert. Man hat auf der Leinwand im Prinzip schon alles gesehen, echte Innovation ist selten. Bei den Computerspielen gibt es dagegen zurzeit einen großen kreativen Schub. Das Interessante ist, dass dieser Schub nicht nur von den Designern von Computerspielen ausgeht, sondern auch von den Nutzern. Viele Spieler programmieren Spiel ja um, erfinden neue Geschichten oder designen neue Gegenstände. Dieses Wechselspiel befruchtet beide Seiten und ist im Kino so nicht möglich.

Wie haben denn die Archlord-Spieler auf den Film reagiert?

Nic Balthazar: Wir haben schon im Vorfeld mit vielen Gamern zusammengearbeitet, schließlich wollten wir zum Beispiel die Art wie in dem Spiel kommuniziert wird. Realistische wiedergeben. Die Community hat auf den Film sehr positiv reagiert. Und gefreut hat sich natürlich auch der Betreiber von Archlord. Einen Monat nach Erscheinen des Films war die Zahl der Archelord-Spieler in Belgien um 600 % gestiegen.