Auto-Nomie
Seite 5: Der Hirsch röhrt vom Auspuff her
Sloterdijks Sexualmetaphorik des Autos lässt sich noch weiter treiben - und erklärt bei ihrer Kalauer-affinen Assoziationen doch einiges: die Geschichte des Fahrens hat nicht zufällig mit einem sublimierten Akt der Paarung begonnen, mit dem Besteigen des Rückens eines Tieres, das man zwischen die Schenkel nimmt, um es zu "zähmen"= ihm den Willen des Reiters aufzuzwingen, welchen Weg es fürderhin zu gehen hat.
Reiten ist das Ende der wilden, selbst bestimmten Freiheit des Tiers, das nun fortan Tragetier ist und dessen Vermehrung selbst der Reiter kontrolliert, mit dem Ziel, durch Zucht seine eigene Mobilität zu sichern und zu verbessern. Im Akt des Besteigens und Bezwingens zeigt sich unverhüllt ein Begriffspaar, das zentral ist für die Frage nach der Mobilität. Autorität steht gegen Autonomie und lässt unmittelbar einsichtig werden, dass man Bewegungsfreiheit nur als "auf Kosten von" verstehen kann. Man möchte mit Virilio ergänzen: Das alles passiert in dem Moment, in dem die "Öffnungen des Autos zu leben beginnen", wenn klares Sekret aus dem hinteren Auspufftopf rinnt, die Pleuel hämmern, Achsen stöhnen, die Buchsen schwitzen und die Stutzen gierig saugen: eine kriegerisch-futuristische Apotheose der Maschine, als männlich-hartes, nie ermüdendes, priapes Fleisch, das dauernd unter Druck steht, "Gas gibt", mit dem röhrenden Auspuff als flacher Abzug vom Bild des beim Ejakulieren röhrenden Hirsch-Männchens.
"We handle everything!"
Wer die individuelle Mobilität revolutionieren will, muss folglich nicht nur an der Technik arbeiten. Er muss den Menschen, genauer: wahrscheinlich insbesondere den Mann einer Rosskur unterziehen, damit er in den autonomen Wagen passt.
Widerstand wird sich nur regen, wenn der Übergang abrupt vollzogen wird. Findet die "Entmündigung" schrittweise statt durch langsame Gewöhnung, wird sie sich vergleichsweise geräuschlos vollziehen. Der selbstbestimmte Fahrer muss zum Cyborg mutieren und den Wagen als ein unentbehrlichen Teil seiner selbst empfinden, etwas, in das er sich so nahtlos einfügt, das ihn so bestimmt, dass ihm nicht mal der Gedanke kommt, ob er dem Wagen, oder der Wagen ihm gehorcht.
Wer aber baut den Menschen um? Die wahren Pioniere des autonomen Fahrens, die Avantgardisten bei der Renovierung des Konzeptes "Auto" sind keine Automobilkonzerne, sondern im Internetgeschäft erfahrene Firmen. Larry Page und Sergey Brin, ehemals Google, jetzt Alphabet Inc. und der Paypal-Milliardär und Elektroautokönig Elon Musk. Zum Alphabet-Konzern gehört nicht zufällig X, das Forschungsunternehmen von Alphabet, aufgebaut von Sebastian Thrun, der mit dem Stanford Racing Team den autonom fahrenden VW-Touareg "Stanley" entwickelte.
2013 stellte Elon Musk unter der Bezeichnung Hyperloop ein Unternehmen für Personen- und Güterverkehr für Fernstrecken vor: In einer Doppelröhre sollen abgeschlossene Kapseln für 28 Personen per Luftkissen auf 1220 km/h beschleunigt werden, also zu einer Art Speedpillen werden. Hyperloop kann wohl als erster Schritt zur Einlösung von Musks Ziel gelten, die Menschen in eine "multiplanetare Spezies" umzuwandeln.
Im Jahr 2015 wurde das mit einer Milliarde US-Dollar ausgestattete Unternehmen OpenAI in Form einer gemeinnützigen Gesellschaft gegründet, das sich die Erforschung künstlicher Intelligenz zum Ziel gesetzt hat; diese solle der Öffentlichkeit, also der ganzen Menschheit, dienen. Zur Stärkung des gemeinnützigen Charakters von OpenAI tragen Firmen wie Amazon Web Services und der Besitzer der Risikokapitalfirma Founders Fund, der rechtskonservative Tea-Party-Unterstützer Peter Thiel bei, der sich ebenfalls gegen das Altern und für die Arbeiten von Aubrey de Grey zur Überwindung der Alterungsprozesse beim Menschen engagiert.
Wenn gemäß solcher "Unternehmensphilosophie" das Altern als eine Art Krankheit betrachtet wird, die man mit geeigneten Mitteln heilen kann, wie viel mehr dürfte dieser Glaube für den Unfall gelten. Während man am Medikament gegen das Altern noch forscht, ist die Rezeptur gegen den Unfall schon bekannt: den Menschen das Lenken abzunehmen.
Auf den Supercharger-Stationen für Tesla stehen 20 Meter hohe Obeliske. Die Gelände rings um diese Kirchtürme des frei flottierenden Kapitals gehören SolarCity, der Firma von Musks Cousins Lyndon und Peter Rive, in die - sic! - Alphabet-Google mit 280 Millionen Dollar eingestiegen ist. "we handle everything!" heißt es im imperativen SolarCity-Marketing-Jargon.
Wer "vorausdenken" möchte, wohin uns die Google-Paypal-Hybriden gern bringen (zu den Kettenrestaurants im Konzernbesitz) und wohin sie uns niemals fahren werden (in die Bewohner-Zone, wo die Durchschnittsgehälter deutlich höher liegen als die des aktuellen Nutzers), der weiß wenigstens gleich, woher die Daten stammen, mit denen diese soziale Ausdifferenzierung unterfüttert wurde: aus "deinem Käuferprofil".
So kommt man elegant von der (technischen) Flexibilität zur (sozialen) Immobilität, in ein digitales Kastensystem. Ein weiterer SolarCity-Marketing Satz bringt das auf den Punkt: "We can give the gift of power." Kraft ist alles. Ohne Kraft bist du nichts. Ein Geschenk ist das nicht. Eher eine Drohung.
Das "Sartre-Projekt"
Aber nicht nur US-amerikanische Unternehmen basteln an dem "Geschenk der Freiheit", das sie ihren Kunden machen möchten. Das europäische "Sartre-Projekt" zeichnet sich durch geradezu rücksichtslose Verwendung des Namens des französischen Philosophen aus. Mit Volvo als Partner und Geld aus dem Rahmenprogramm 7 der EU wird die Machbarkeit sogenannter "road trains" oder - etwas militärischer - von "Platoons" untersucht.
Der bedeutende Existenzialist Jean-Paul Sartre, Autor von "Das Sein und das Nichts", eine Leitfigur der europäischen Intellektuellen seit den 60er Jahren, hat einmal in der Art, wie nur Franzosen, die keinen Joseph Goebbels als Minister hatten, das Wort "total" benutzen können, in Bezug auf die Selbstbestimmung gesagt, der Mensch könne nur eins wollen, "nämlich die Freiheit als Grundlage aller Werte. So kann ich im Namen der menschlichen Befindlichkeit als Freiheit Urteile fällen über diejenigen, die danach trachten, die Autonomie ihres Daseins und ihre totale Freiheit zu verbergen."
Zeit, den Begriff Autonomie, sprachhistorisch und philosophisch aufzuschlüsseln: Autonomie ist aus zwei griechischen Komponenten zusammengebaut: aus "autos" (selbst) und "nomos" (Gesetz). Es bedeutet Selbstbestimmung, Selbstständigkeit, Unabhängigkeit, Souveränität, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.
Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) beschreibt die Autonomie als wesentliches Merkmal der Würde, als besondere, gottgegebene Gabe des Menschen, die ihn von den Tieren unterscheidet. Immanuel Kant baut den Gedanken in der für ihn typischen Diktion aus: "Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze […]. Also drückt das moralische Gesetz nichts anders aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d. i. die Freiheit." Autonomie hängt nach Kant mithin von der Überwindung gegebener Formen der Abhängigkeit und Fremdbestimmung ab. Theodor W. Adorno ergänzt wie folgt: "Autonomie: die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen."
Soweit die philosophische Worterklärung. Sartres Namen als "Safe Road Trains for the Environment" aufzulösen, liegt fraglos jenseits eines zulässigen Zynismus - in etwa so, als würde Mercedes den neuen autonomen Smart, der auf der IAA 2017 Premiere feierte, "Kant" taufen - zu dechiffrieren als "Kugelförmiges Autonomes Naturfreundliches Transportmittel".
Gemäß der offiziellen Level-Einteilung von 0 bis 5 (Level 5 ist: "Die völlige Autonomie des Fahrzeugs. Das Fahrzeug ist ohne Lenkrad ausgestattet, das Fahrzeug kann sich fahrerlos bewegen.") hat das Sartre-Projekt zum Besseren von "Umwelt, Sicherheit und Komfort" ein Level 3-Verfahren zur Einführung im Jahr 2020 ausgearbeitet: "Hochautomatisierung. Der Fahrer muss das System nicht dauernd überwachen. Das Fahrzeug führt selbstständig Funktionen wie das Auslösen des Blinkers, Spurwechsel und Spurhalten durch."
Wie eine Animation auf der Website sartre-project.eu zeigt, widmen sich die Insassen der Einheiten, die mit einer "digitalen Deichsel" verbunden sind, tatsächlich dem Genuss von Kaffee oder Musik, telefonieren, lesen oder essen, während sie am Heck eines LKW zu kleben scheinen.
Freude am Fahren
Der Umbau des Menschen, seine Vorbereitung für die Welt autonomer Systeme ist nicht nur ein Kampf gegen "Reiseübelkeit im Roboterauto", sondern ganz eng an den Zugriff auf das Gehirn gebunden - und das ist ganz sicher keine Erfindung von Elon Musk.
Der "Dekade des Gehirns" (1990-2000, initiiert von George W. Bush) folgte Anfang des neuen Jahrtausends ein ganzes "Century of the Mind": zwei machtvolle Initiativen zur Intensivierung der Neurowissenschaften.
Es nimmt nicht Wunder, dass in den Strategie-Abteilungen der großen Autokonzerne nach dem Sitz der "Freude am Fahren" gefahndet wurde. Die Zukunftsforschung von VW legte dafür Anfang der Nuller Jahre einen Probanden unter den Brainscanner, mit dem erklärten Ziel, nicht nur den Sitz der Fahrfreude im Gehirn zu lokalisieren, sondern insbesondere das Fahrzeug so zu optimieren, dass die betreffende Zone mehr angeregt wird.
Von "Aufmerksamkeitssteuerung" ist in diesem Zusammenhang die Rede: Ein Fahrzeug sollte ohne Pedale und Handknüppel rein durch den Willen und die Konzentration lenken. Dazu müssten ins Auto "nicht-invasive Gehirn-Scanner" eingebaut werden, wie sie für Starfighter-Piloten in Form von Helmen mit Elektroden bereits im Umlauf waren. Wie aber müsste das Auto aussehen, das zwar noch einen Fahrer hätte, dessen Beine und Arme plötzlich arbeitslos werden?
Wie könnte die Gehirnaktivität, die zur steuernden Aufmerksamkeit führt, über lange Zeit auf einem gleichbleibend hohen Niveau gehalten werden? Die amerikanisch Luftwaffe hat hierfür bereits eine Lösung: Piloten, die kein Metamphetamin nahmen (die sog. "Go-Pills"), erhielten im letzten Irak-Krieg schon keine Einsatzbefehle mehr und mussten (zu schlechteren Lohnkonditionen) auf die Ersatzbank, während die gedopten Kollegen nonstop durch den Himmel rasten. Solche Verfahren scheinen für Verkehrsteilnehmer im Alltag nicht praktikabel. Man kann sie erst recht nicht an die Krankenkassen verkaufen. Aber wie lange noch?
Tropfende Psychopharmaka zur Bekämpfung der Langeweile
Das Muster für ein Umdenken in Sachen chemisch augmentierte Aufmerksamkeitserhöhung hat die NASA in den 70ern entwickelt: die "Osmomouse", der erste Cyborg. Ein Psychiater und ein Drogenexperte, das Team Klines und Clyne, hatten für die Weltraumbehörde das Problem zu lösen, wie Astronauten die langen Flugzeiten im All in völliger Bewegungslosigkeit physisch und psychisch überstehen könnten, ohne die Konzentration auf die komplexen wissenschaftlichen Aufträge einzubüßen.
Ihr Vorschlag war revolutionär: Nicht der Raum in der Kapsel sollte den Bedürfnissen des Lebewesens angepasst werden. Andersherum sollte der Mensch mit den räumlichen Gegebenheiten, der Enge und Ereignislosigkeit in der Weltraumfähre kompatibel werden. Probehalber montierten sie einer lebenden Ratte eine osmotische Pumpe anstelle des Schwanzes an, aus der über lange Zeit niedrige Dosen Psychopharmaka in den Körper tröpfelte. Während die Vergleichstiere ohne Droge vor Langweile verkümmerten, war Osmomouse stets frisch und aufgeweckt.
In Analogie zu diesem erfolgreichen Experiment fährt man in Zukunft seinen langweiligen Stiefel durch die Gegend, aufgereiht am Schnürchen der GPS-basierten Verkehrskoordination und ist nachhaltig begeistert, nicht selber steuern zu müssen, weil das Fahrfreudezentrum von einem harmlosen Pharmakon bis zur Exaltation gereizt wird.
Algorithmen unter Verdacht
Wir leben alle längst im "Sonnenstaat des Doktor Herold" (Spiegel 25/1979) - ein Bonmot aus der Zeit der Rasterfahndung gegen die RAF. Um das zu wissen, brauchte es keinen NSA-Skandal. Es stand schon vor 40 Jahren in der Zeitung, dass wir alle "gläsern" sind.
Um dem zu entkommen, bedarf es einer gewaltigen Anstrengung - und wahrscheinlich ist es ohne einen Radikal-Ausstieg aus dem System kapitalistischer Warenzirkulation gar nicht wirklich möglich. Aber wer will in letzter Konsequenz auf all die Vorzüge verzichten, auf das geschmiert laufende System der permanenten täglichen Hilfe durch leistungssteigernde Produkte und Dienstleistungen, der Anreicherung mit schönen Dingen und bequemen Lösungen für alle Lebenslagen, die den Kapitalismus so attraktiv, so unverzichtbar erscheinen lassen?
Was verlieren wir, wenn wir das Lenkrad aus der Hand geben? Vergleichsweise nichts Essentielles - aber nur solange die Maschine auf Befehle reagiert und vorausgesetzt, dass nicht Zalando, Amazon und Konsorten alle Wege der Welt privatisieren und uns den Zugang zu bestimmten Zonen verwehren.
Denn während das autonome Fahrzeug Schluss macht mit der Exklusion der Nutzer rückständiger oder unterlegener Systeme, ermöglicht es gleichzeitig eine smarte Apartheid auf Rädern.
Technisch gesehen ist es kein Problem, die ganze Erdoberfläche in Zonen zu zerlegen und zwar sehr feingliedrig. Jeder Abzweig könnte mit einer digitalen Lizenz gesperrt werden. Interessant wird diese Option, wenn sie sich zum gängigen Verfahren einer sozialen Segregation auswächst: "Wir sehen an deinem Nutzer-Profil, dass du knietief im Dispo dümpelst. Deine Route endet vor dem Viertel der besser Verdienenden."
So kommt der Algorithmus in Verdacht, Gewalt von bisher unbekannter Qualität auszuüben. Und die Maschine, auf der die vermeintliche neutrale Rechenoperation läuft, erhält Anteil an einer sozial relevanten Entscheidung.
Denn - gaukeln wir uns nichts vor, besonders keine "demokratische Kontrolle". Kurt Schwitters trifft den Nagel auf den Kopf: Wenn es eine Schraube gibt, wird sich auch einer finden, der dran dreht. Die Vorstellung ist ohne Zweifel beklemmend: gewissermaßen die Version 2.0 der oben beschriebenen Exklusion, die jeder zentral überwachten Technologie immanent ist. Es empfiehlt sich, sorgfältig zu prüfen, ob das autonome Fahren nicht ein verführerisch smarter Schlüssel ist, um einem neuen Totalitarismus Tür und Tor zu öffnen.