Babyn Jar: Wie gedenken?

Seite 2: Die Rache der Toten

"Im Jahre 1961 hatte er die Höhe eines sechsstöckigen Hauses erreicht", schreibt Kusenzow. Dann, am Montag, dem 13. März 1961, brach der Damm. Eine zehn Meter hohe Woge dünnflüssigen Schlammes erbrach sich über die umliegende Gegend.

"Einige Straßenbahnen wurden von der Woge erfasst und bis zu zweihundert Meter weit geschleppt, wo sie im Schlamm begraben wurden. Im Schlamm begraben wurden auch das Straßenbahndepot, das Krankenhaus, das Stadion, die Werkzeugfabrik, das gesamte Wohnviertel." So Kusnezow. Es war die schlimmste menschengemachte Katastrophe der Sowjetunion bis Tschernobyl 1985.

Die Bergungsarbeiten und Ausgrabungen dauerten zwei Jahre. Die offizielle Zahl der Toten beläuft sich auf 145. Die Schätzungen über die tatsächliche Anzahl der Toten auf 1500. Kusnezow kommentiert jedoch lakonisch:

Die Zahl der Umgekommenen wurde nie bekannt. Babij Jar hatte Pech mit Zahlen. (…) Der Versuch, Babij Jar vom Erdboden wegzuwischen, hatte also eine recht unerwartete Wendung genommen und zu neuen Massenopfern geführt. Es kamen sogar abergläubische Stimmen auf. Ein Satz machte die Runde: "Babij Jar rächt sich".

Ein Gedicht, das Wellen schlägt

Drei Monate nach dem tödlichen Dammbruch besuchte der Dichter Jewgeni Jewtuschenko gemeinsam mit Kusnezow Babyn Jar. Jewtuschenko notierte zutiefst erschüttert:

Ich wusste, dass es dort kein Denkmal gab, aber ich hatte erwartet, eine Art Gedenkstein oder einen gepflegten Platz zu sehen. Und plötzlich sah ich eine ganz gewöhnliche Mülldeponie, die in ein schlecht riechendes Müllsandwich verwandelt worden war.... Vor unseren Augen fuhren Lastwagen vor und kippten immer mehr Müll auf den Platz, auf dem die Opfer lagen.

Wenig später trägt er öffentlich sein Gedicht vor, das hier in einer Übersetzung von Paul Celan zitiert wird. Es beginnt:

Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal.
Ein schroffer Hang - der eine, unbehauene Grabstein.
Mir ist angst. Ich bin alt heute, so alt wie das jüdische Volk,
Ich glaube, ich bin jetzt
ein Jude.

Und endet:

Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras.
Streng, so sieht dich der Baum an,
mit Richter-Augen.
Das Schweigen rings schreit.
Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle,
ich werde
grau.
Und bin - bin selbst
ein einziger Schrei ohne Stimme
über tausend und aber
tausend Begrabene hin.
Jeder hier erschossene Greis -:
ich.
Jedes hier erschossene Kind -:
ich.
Nichts, keine Faser in mir,
vergißt das je!
Die Internationale -
ertönen, erdröhnen soll sie,
wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde,
im Grab ist, für immer.
Ich habe kein jüdisches Blut in den Adern.
Aber verhaßt bin ich allen Antisemiten.
Mit wütigem schwieligem Haß,
so hassen sie mich -
wie einen Juden.
Und deshalb bin ich
ein wirklicher Russe.

Im Dezember 1962 präsentierte Dimitri Schostakowitsch seine dreizehnte Sinfonie, die er auf Grundlage des Gedichts von Jewtuschenko komponiert hatte, was bei der sowjetischen Regierung kaum auf Gegenliebe stieß.

Überbauen

Aber die Arbeit, Babyn Jar dem Erdboden gleich und dem Vergessen anheimzugeben, ging weiter. 1961 begann der Bau einer Schnellstraße, die mitten durch das Gelände führte, wo Hunderttausende Menschen ermordet worden waren.

"An der Stelle des KZs wurde eine neue Wohnanlage gebaut, sozusagen auf den Knochen der KZ-Opfer, denn bei den Ausgrabungen stieß man immer wieder auf Knochen, die manchmal mit Draht gefesselt waren", wie Kusnezow beschreibt.

1962 wurde dann der unmittelbar an Babyn Jar gelegene jüdische Friedhof zerstört, um einen Sportkomplex zu bauen. Sowie einen Fernsehturm. Es war zwar Familienangehörigen erlaubt, ihre Toten zu anderen Friedhöfen zu bringen, aber viele Juden hatten keine Angehörigen mehr.

Kusnezow kommentiert abschließend:

Das geplante Stadion wurde nicht gebaut. Auf dem verfluchten Ort wird jetzt nichts mehr getan. Zwischen der Wohnanlage an der Stelle des Lagers an einer Seite und dem Fernsehzentrum an der Stelle des Friedhofs an der anderen Seite der Schlucht liegt eine riesige Ödfläche, die mit Kletten und Dornen überwachsen ist.

So ist Babij Jar beim dritten Anlauf doch verschwunden. Ich denke, wenn die deutschen Nazis genug Zeit und genauso viele technische Mittel besessen hätten, so hätten sie von einer besseren Lösung nicht träumen können.

Der 25. Jahrestag

Im Sommer 1962 beantragte der Vorsitzende des Ministerrates der Ukrainischen SSR in Moskau die Erlaubnis, zwei Denkmäler zum 25. Jahrestag errichten zu lassen. Eines in Babyn Jar, eines im Konzentrationslager Syrez. Keiner der eingereichten Entwürfe zu einem Denkmal wurde jedoch angenommen. Stattdessen wurde der Wettbewerb geschlossen und die Jury aufgelöst. Einmal mehr blieb Babyn Jar ohne irgendeine Art Denkmal.

Jewgeni Jewtuschenko schrieb einmal:

Babyn Jar war ein Verbrechen des Faschismus. Aber unser jahrelanges Verschweigen eines fremden Verbrechens wurde zu unserem eigenen Vergehen. Eine Sache totzuschweigen ist ebenfalls Mord. Es ist die Ermordung des Gedächtnisses.

Dennoch wurde 1966, das Jahr in dem sich das Massaker an den Juden in Babyn Jar zum 25-ten mal jährte, ein besonderes Jahr des Gedenkens. Zum einen erschien die zensierte Fassung des autobiografischen Romans von Anatoli Kusnezow.

Zum anderen kamen am Morgen des 29. September rund eintausend Menschen zu einer ungenehmigten Versammlung, um gemeinsam zum ersten Mal – nach 25. Jahren – an das Massaker an den Juden zu gedenken.

Unter ihnen waren vorwiegend Juden, aber auch Ukrainer und Russen. Einer von ihnen war der Schriftsteller Ivan Dzjuba. Seine Rede in Babyn Jar, in der er sich ausdrücklich an die Juden, aber auch die Ukrainer und die gesamte Menschheit wandte, wurde als Beweis für seine antisowjetischen Aktivitäten in die Akten des KGBs aufgenommen:

Babyn Jar ist eine Tragödie der gesamten Menschheit, aber sie hat sich auf ukrainischem Territorium ereignet. Und deswegen dürfen die Ukrainer sie genauso wenig vergessen wie die Juden. Babyn Jar ist unsere gemeinsame Tragödie, eine Tragödie des jüdischen und des ukrainischen Volkes in erster Linie. Diese Tragödie hat der Faschismus über uns gebracht. Aber wir sollten nicht vergessen, dass der Faschismus nicht in Babyn Jar beginnt und nicht in Babyn Jar endet. Der Faschismus beginnt mit der Herabsetzung von Menschen und endet mit ihrer Vernichtung, mit der Vernichtung von Völkern.

Die sowjetische Miliz löste die Gedenkversammlung auf und konfiszierte die Filmaufnahmen, die dort gemacht worden waren. Aber: "Diese spontanen, gemeinsamen Aktionen zum Jahrestag der Tragödie von Babyn Jar waren eine Zäsur – sowohl für die Teilnehmer als auch die sowjetischen Behörden". kommentiert der ukrainische Historiker Vladyslav Hrynevyc.

Das erste Denkmal

Es kam ein wenig Bewegung in das Gedenken an Babyn Jar. Nun wurde der Besuch von Babyn Jar, insbesondere zum Jahrestag in den nächsten beiden Jahrzehnten zu einem identitätsstiftenden Ritual. Am 12.10.66 entschloss sich die Stadt Kiew aufgrund der Demonstration stärkere Maßnahmen für das Gedenken zu unternehmen und beschloss die Errichtung eines Gedenksteins in Babyn Jar.

Zehn Jahre später, am 2. Juli 1976, wurde dann das sowjetische Gedenkmal in Babyn Jar eingeweiht. Knapp 35 Jahre nach dem Massaker: Eine Figurengruppe aus Bronze mit der ukrainischen Inschrift "Hier wurden in den Jahren 1941-1945 über hunderttausend Kiewer Bürger und Kriegsgefangene von den deutsch-faschistischen Besatzern erschossen." Das Wort Jude suchte man in der Inschrift allerdings – einmal mehr – vergeblich.

Der Termin der Eröffnung des Denkmals war nicht zufällig in einem zeitlichen Abstand zum Jahrestag gewählt. Bereits im Vorfeld der Eröffnung wurden Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, um "Provokationen" jüdischer Aktivisten zu verhindern. Zudem wurde zahlreichen Menschen die Teilnahme an den Eröffnungsfeierlichkeiten untersagt. Offizielle, staatlich organisierte Kundgebungen in Babyn Jar fanden nach 1976 nicht mehr statt.