Babyn Jar: Wie gedenken?
Seite 3: Glasnost und Unabhängigkeit
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Nachdem 1985 Michail Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU wurde, begann in vielerlei Hinsicht eine Phase der Entspannung. Nicht nur wurden formale Hindernisse zur Ausreise von Juden beseitigt, sondern auch die Aktivitäten der nationalen Oppositionsbewegungen erlaubt. In der Nähe der Gedenkstätte von Babyn Jar wurde nun ein Schild auf Jiddisch angebracht.
Am 24. August 1991 feierte die Ukraine ihre Unabhängigkeit. Für die junge Republik war es wichtig, nun unter Beweis zu stellen, dass die Zeit des Verschweigens, des von Moskau verordneten Schweigens, vorbei war.
Daher war auch die Anerkennung des Massakers von Babyn Jar, als ein vorrangig gegen Juden gerichteten Massakers von großer Bedeutung. Zwei Wochen nach der Unabhängigkeit wurde eine einwöchige Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag von Babyn Jar beschlossen. In dieser Gedenkwoche wurde auch das Denkmal für die jüdischen Opfer eingeweiht, eine Menora.
Der Parlamentspräsident Leonid Krawtschuk, der wenige Monate später zum ersten Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, hielt eine Rede, in der er Babyn Jar als ersten Akt der "Endlösung der Judenfrage" bezeichnete. Er verurteilte das jahrzehntelange Schweigen der Sowjetunion und entschuldigte sich bei der jüdischen Gemeinde.
Krawtschuk erwähnte zudem auch eine ganze Reihe weiterer Opfergruppen: Polen, Russen, Ukrainer, Litauer, Partisanen, Untergrundkämpfer und Kriegsgefangene. Unter Krawtschuks Präsidentschaft folgten danach allerdings kaum mehr nennenswerte Schritte zum Gedenken an Babyn Jar, gerade in Hinsicht auf dessen Komplexität.
Wechselnde Erinnerungspolitik
Seit der Unabhängigkeit der Ukraine ist Babyn Jar kein Tabuthema mehr. Wie die konkrete Gedenk- und Erinnerungspolitik des Landes aussah, war jedoch aufgrund der unterschiedlichen Präsidenten recht wechselhaft. Stark vereinfacht, kann man sie wie folgt zusammenfassen:
Leonid Kutschma, der zweite Präsident der Ukraine, verfolgte eine Rückkehr zur nationalen Identität. Heldentaten und Opferbereitschaft der Ukrainer wurde ins Zentrum gerückt und Babyn Jar wurde etwas zum Nebenkriegsschauplatz (im Jahr 2000 wurde mitten in der ehemaligen Schlucht eine U-Bahn-Station eröffnet, was dann allerdings die einzige Baumaßnahme auf dem Gebiet von Babyn Jar bleiben sollte).
Im Jahr 2004 erkannte die Ukraine die Ermordung der Sinti und Roma als Genozid an und erklärte den 2. August zum Internationalen Gedenktag an diesen Genozid. Während der Feier zum 60. Jahrestag der Befreiung der Ukraine im Zweiten Weltkrieg sprach Kutschma über Babyn Jar und erwähnte erstmals, dass auch ukrainische Nationalisten dort starben. Dabei betonte er jedoch zugleich die Komplexität und Ambiguität:
Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs enthält noch viele widersprüchliche Seiten, die von unseren Zeitgenossen ambivalent wahrgenommen werden. Es handelt sich insbesondere um Fragen im Zusammenhang mit den Kriegsgefangenen und den Aktivitäten der OUN (Organisation ukrainischer Nationalisten) und der UPA (Ukrainische Aufständische Armee). Zweifelsohne verdienen all jene, die unschuldiges Blut an ihren Händen haben, eine Verurteilung. Es wäre jedoch ungerecht, solche Anschuldigungen gegen alle Mitglieder der Aufstandsbewegung zu erheben. Die Suche nach Kompromissen und Möglichkeiten zur gegenseitigen Versöhnung zwischen den verschiedenen politischen Kräften, einschließlich des Veteranen-Milieus, ist der einzige Weg zur Konsolidierung der ukrainischen Gesellschaft.
Unter Viktor Juschenko, der im Zuge der Orangenen Revolution zum dritten Präsident der Ukraine gewählt wurde, und dessen Vater als Kriegsgefangener in Auschwitz war, nahm der Holocaust und auch Babyn Jar einen zentralen Platz in der Erinnerungs- und Gedenkpolitik ein. Juschenko sah die Ukraine als Opfer der Verbrechen zweier Diktaturen.
Schwerpunkt der ukrainischen Geschichtspolitik sollte nun auf den Verbrechen des Kommunismus liegen. 2005 erteilte er den Auftrag zur Errichtung eines Gedenkkomplexes Babyn Jar. Er legte dabei auch großen Wert auf die Erinnerung an die in Babyn Jar ermordeten ukrainischen Nationalisten.
Im Juni 2006 ließ er ein Monument für die Schriftstellerin und ukrainische Nationalistin Olena Teliha errichten. Bei der Gedenkfeier zum 65. Jahrestag des Massakers von Babyn Jar legte Juschenko auch Blumen an dem Gedenkstein von Olena Teliha nieder.
Im Jahr 2007 bzw. 2010 verlieh Juschenko an Roman Shukevych, den obersten Befehlshaber der UPA, und Stepan Bandera, den Führer der OUN (B), posthum den Titel "Held der Ukraine". Das Europäische Parlament und das Simon Wiesenthal Center in den USA verurteilten dies und wiesen auf die Kollaboration der OUN mit Nazi-Deutschland und die Beteiligung der OUN an Massenmorden hin.
Der vierte Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch, vollzog abermals eine Kehrtwende der nationalen Gedenk- und Erinnerungspolitik. Für ihn spielte die Wiederbelebung und Gestaltung einer eigenständigen ukrainischen Identität keine Rolle. Stattdessen stand die neuerliche Heroisierung des sowjetischen Erbes im Zentrum.
Bei der Gedenkveranstaltung 2011 zum 70. Jahrestages des Massakers von Babyn Jar wurde in Folge eines Erlasses Juden und Roma nicht gesondert als Opfer erwähnt. Stattdessen hieß es schlicht "Personen verschiedener Nationalitäten".
In seiner Rede erwähnte Janukowtisch weder den Holocaust noch die Juden. Unter Janukowitschs Präsidentschaft annullierten die Gerichte die Entscheidung, Shukhevych und Bandera den Titel "Helden der Ukraine" zu verleihen. Janukowitsch weigerte sich, Verbrechen des sowjetischen Staates zu thematisieren.
Unter der Präsidentschaft von Petro Petroschenko wandelte sich die ukrainische Geschichtspolitik ein weiteres Mal. In dem Erlass "Über die Veranstaltungen zum 75. Jahrestag der Tragödie von Babyn Jar" wurde Babyn Jar zum ersten Mal auf höchster Ebene nun direkt mit dem Holocaust in Verbindung gebracht.
Zugleich wurden aber auch die zahlreichen weiteren Opfergruppen genannt, auch die Mitglieder der ukrainischen Nationalisten. Poroschenko sprach bei seiner Rede im israelischen Parlament davon, dass Babyn Jar eine gemeinsame unheilbare Wunde der Ukrainer und der Juden sei. Erwähnung fand in der Rede auch die Kollaboration.
Als Vorbereitung zum 75. Jahrestag des Massakers von Babyn Jar hatte Kiew die Gedenkstätte saniert und die Grünanlage neu gestaltet. Bei seiner Rede im ukrainischen Parlament mahnte der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin:
Etwa 1,5 Millionen Juden wurden während des Zweiten Weltkriegs auf dem Gebiet der heutigen Ukraine ermordet, in Babi Jar und an vielen anderen Mordorten. Sie erschossen sie in den Tälern, in den Wäldern, in Gruben und in Massengräbern. Viele der Kollaborateure waren Ukrainer, zu den berüchtigtsten gehörten die Mitglieder der OUN, die Pogrome und Massaker an den Juden verübten und sie in vielen Fällen an die Deutschen auslieferten. Es ist wahr, dass es mehr als 2.500 Gerechte unter den Völkern gab, einsame Kerzen, die in der Dunkelheit der Menschheit leuchteten. Doch die Mehrheit blieb stumm.
Zwei widerstreitende Gedenkstätten-Projekte
Heute stehen mehr als dreißig Zeichen und Denkmäler in Babyn Jar, die an die nicht selten miteinander in Konflikt stehenden Gruppierungen erinnern. Bereits optisch fällt auf, wie kompliziert es ist, einen gemeinsamen Erinnerungsort an Babyn Jar zu erschaffen.
Seit dem Euromaidan im Jahr 2014 und dem herrschenden Konflikt mit Russland, in dessen Zentrum der Donbass und die Krim steht, ist Erinnerung und Gedenken an Babyn Jar noch komplizierter geworden.
Im Jahr 2016 kam es zu einer neuen Etappe der Suche nach einem angemessenen Gedenken an Babyn Jar, als der ukrainische Präsident Poroschenko den Bau eines Holocaust Memorial Centers auf dem Grund von Babyn Jar ankündigte.
Das Museumsprojekt, das bald den offiziellen Namen "Babyn Yar Holocaust Memorial Center" trug, konnte zahlreiche weltweit bekannte Persönlichkeiten im Aufsichtsrat versammeln (aktuell: unter anderem den ehemaligen ukrainischen Präsidenten Krawtschuk, den ehemaligen polnischen Präsidenten Aleksander Kwaśniewski oder Joschka Fischer). Dazu waren fünf Milliardäre an Bord.
Das Budget allein für den Museumskomplex beläuft sich auf nicht weniger als 100 Millionen US-Dollar, was aufgrund der eingeschränkten Finanzmöglichkeiten des Staates die Beteiligung privater Förderer nötig macht. Das Babyn Yar Holocaust Memorial Center soll die größte Holocaust-Gedenkstätte der Welt werden. "Auf dem Niveau von Yad Vashem in Jerusalem und dem Holocaustmemorial in Washington", wie Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko betont.
Insbesondere die jüdische Gemeinde der Ukraine und der "Ukrainian Center for Holocaust Studies" sparten nicht mit massiver Kritik. Die Vorwürfe bestanden insbesondere aus zwei Punkten: Zum einen die Sorge, dass das Museum hauptsächlich mit Geldern aus Russland finanziert wurde, da drei Milliardäre ihr Vermögen in Russland erschaffen hatten und so der Verdacht bestand, zu enge Beziehungen zum Kreml zu unterhalten und dass das BYHMC dadurch "ein trojanisches Pferd des Putins" sein würde und eine antiukrainische Fassung der Geschichte etabliere. Sehr scharf wurde diese Position in einem offenen Brief formuliert, den 335 ukrainische Jüdinnen und Juden unterzeichneten.
Das BYHMC, so meinen sie, werde "zu einer mächtigen Waffe der russischen Propaganda", die versuche, "die Ukrainer als radikale Nationatisten und Antisemiten darzustellen." Der zweite Hauptvorwurf bestand in dem vorgesehenen Ort des Museums: Der Bau auf einem ehemaligen jüdischen Friedhof in Babyn Jar widerspräche jüdischer Tradition.
Das Babyn Yar Holocaust Memorial Center versuchte, den inhaltlichen Kritipunkten durch die Arbeit von weltweit angesehenen Historikern unter dem Vorsitz von Karel Berkhoff zu begegnen. Im Hinblick auf das russische Geld wurde betont, dass die Milliardäre in der Ukraine geboren, jüdische Wurzeln hätten und zahlreiche ihrer Verwandten in Babyn Jar ermordet worden seien.
Die Frage nach dem Baugrund wurde gelöst, indem der konkrete Bau des Museums für eine Stelle bestimmt wurde, die mit dem Rabbi von Jerusalem abgesprochen wurde.
Ein konkurrierendes Gedenkstätten-Projekt, die Stiftung Holocaust-Gedenkzentrum Babyn Jar, bildet eine Initiative, deren Konzept von mehrheitlich ukrainischen Wissenschaftlern, unter der Führung des Instituts für Geschichte der Ukraine der Nationalen Akademie der Wissenschaften ausgearbeitet wurde.
Besonders die jüdische Gemeinde der Ukraine und der "Ukrainian Center for Holocaust Studies" unterstützen dieses Projekt und wünschen sich, dass die Art und Weise des Gedenkens und Erinnerns an Babyn Jar in den Händen der ukrainischen Regierung bleiben solle und nicht mit privaten Fördermitteln finanziert werden solle, die hauptsächlich aus Russland kämen.
Im Gebäude des ehemaligen Büros des Jüdischen Friedhofs von Lukjaniwka auf der Melnykow-Straße 44 soll dieses Museum seinen Sitz finden. Allerdings fehlen bisher die finanziellen Mittel zur konkreten Umsetzung.
Im Herbst 2019 ging dann der Streit rund um das Babyn Yar Holocaust Memorial Center in eine neue Runde, als Ilja Chrschanowski, ein skandalumwitterter russischer Regisseur, zum künstlerischen Leiter ernannt wurde. Eine Reihe von Mitarbeitern kündigte und Karel Berkhoff legte den Vorsitz der Historiker nieder. Alsbald wurde dem neuen Leiter vorgeworfen, das Museum in ein Disneyland verwandeln zu wollen.
Im letzten Jahr sprach Präsident Wolodomyr Selenski offiziell dem Babyn Yar Holocaust Memorandum Center seine Unterstützung aus und wurden die ersten Installationen eröffnet. Zudem wurde eine umstrittene Genehmigung zum Bau einer Synagoge auf dem Grund von Babyn Jar, dem ehemaligen christlich-orthodoxen Friedhof, begonnen. Die jüdische Gemeinde der Ukraine hat einen offenen Protest verfasst.
Gedenken an ein Massaker in konfliktreichen Zeiten
Nachdem jahrzehntelang zum Massaker von Babyn Jar Schweigen verordnet worden war, gibt es nun endlich die Möglichkeit, an das Grauen und die Komplexität der Geschichte zu erinnern. Angesichts des Konflikts mit Russland ist es leicht nachvollziehbar, wie sensibel und kompliziert es ist, einen Weg der Erinnerung und des Gedenkens zu finden.
Geradezu sinnbildlich stehen hierfür nun die beiden miteinander in Konflikt liegende Gedenk- und Erinnerungsprojekte zu Babyn Jar, die beide auf dessen Terrain ihr Museum einrichten wollen. "Die Selbstverortung der Ukraine zwischen West- und Osteuropa vollzieht sich auch erinnerungspolitisch. Babyn Jar steht im Zentrum heftiger Auseinandersetzungen", kommentiert der Historiker Vladyslav Hrynevyc. Man kann nur hoffen, dass der Ukraine ein gemeinsamer Weg zu Erinnerung und Gedenken gelingen möge.