Baerbocks Hoffnung, Söders Spitzen und der profillose Favorit
Der Ausgang der Bundestagswahl am 26. September ist offen wie selten so kurz vor der Abstimmung
Für Menschen, die den Einfluss von Lobbyisten auf etablierte Parteien ausblenden und jeder von ihnen einen unverwechselbaren Politikstil zugestehen, wird diese Bundestagswahl richtig spannend. Nicht nur für die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, nach deren Nominierung im April ihre Partei kurzzeitig stärkste Kraft in den Umfragen war. Nachdem Baerbock wegen zu spät angegebener Nebeneinkünfte sowie Ungenauigkeiten in ihrem Lebenslauf und fehlender Quellenangaben in einem eilig zusammengeschusterten Buch Sympathien verloren hatte und zunächst die Unionsparteien davon profitierten, rückt diesen jetzt die SPD auf die Pelle und die Grünen belegen nur noch den dritten Platz.
Gäbe es in Deutschland eine Direktwahl des Bundeskanzlers, wäre laut einer aktuellen Umfrage SPD-Kandidat Olaf Scholz sogar der klare Sieger: Er könnte 29 Prozent der Stimmen für sich verbuchen, Baerbock 15 Prozent und Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet lediglich zwölf Prozent. Bei der Parteienpräferenz liegt die SPD mit 21 Prozent allerdings knapp hinter CDU und CSU mit 23 Prozent. Die Grünen kamen bei der "Sonntagsfrage" zuletzt auf 19 Prozent.
Interessant ist allerdings, dass 44 Prozent der Befragten bei einer Direktwahl weder Laschet, noch Baerbock, noch Scholz im Kanzleramt sehen wollten, während die anderen drei Bundestagsparteien Die Linke, FDP und AfD keine Kanzlerkandidaten aufgestellt haben.
Gleichwohl macht sich Baerbock Hoffnung: "In den letzten 16 Jahren war eigentlich immer relativ klar, wer am Ende in das Bundeskanzlerinnenamt einzieht. Aber dieses Mal ist es richtig, richtig eng. Damit ist alles offen", sagte die Kandidatin der Grünen am Samstag bei einem Wahlkampfcamp der Brandenburger Grünen in Potsdam. "Wir hatten eine Zeit lang gedacht, dass das ein Zweikampf wird, dann war es bei uns ziemlich holprig, da haben wir uns auch etwas geärgert, ich mich auch", sagte Baerbock. Jetzt sei es zwar ein Dreikampf, aber so dicht, wie jetzt "alle drei demokratischen Parteien" beieinander lägen, glaube sie nicht, dass jemand auf etwas wetten könne.
Der Ladenhüter
Armin Laschet ist nach Meinung vieler Anhänger von CDU und CSU eine Fehlbesetzung - und CSU-Chef Markus Söder, der sich ebenfalls um die Kandidatur beworben hatte, kostet dies wohl schon mit Blick auf die Bundestagswahl 2025 aus. "In Bayern hätten wir vielleicht ein besseres Ergebnis erzielen können - wäre ich Kanzlerkandidat geworden", sagte Söder dem Münchner Merkur. Dies sei nun aber "Schnee von gestern". Jetzt müssten die Unionsparteien "alles tun, um Armin Laschet zu unterstützen". Der CDU-Parteichef und NRW-Ministerpräsident trage eine große Verantwortung, "denn es kommt auf den Kanzlerkandidaten an - das war schon bei Adenauer, Kohl und Merkel so", sagte Söder. "Heute ist die Personalisierung in der modernen Demokratie sogar noch stärker."
Der Kandidat, den seine Partei nicht als Chef haben wollte
Hauptkonkurrenten sind nun wider Erwarten die SPD und ihr Kandidat, den die Mehrheit der Sozialdemokraten nicht als Parteichef haben wollte. Ende 2019 konnte sich Olaf Scholz nicht gegen das Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, von dem sich viele in der SPD Erneuerung versprachen, durchsetzen. Die Enttäuschung mancher Mitglieder an der Basis war groß, als der Parteivorstand dann doch auf einen erfahrenen, aber für Partei-Linke gewissermaßen "verbrannten" Kanzlerkandidaten setzte.
Getan hat Scholz als scheidender Finanzminister der "schwarz-roten" Koalition für seine überraschende Beliebtheit wenig bis gar nichts. Er scheint sich noch nicht mal für eine Zielgruppe entschieden zu haben, wirkt profillos und widerspricht sich in diesem Wahlkampf massiv. Kürzlich versprach er sowohl einen "sofortigen Neustart" beim Klimaschutz als auch wenige Tage später ein Festhalten am späten Kohleausstieg im Jahr 2038, weil aus seiner Sicht "klare Vereinbarungen" getroffen wurden, deren Gültigkeit für Unternehmen und Beschäftigte der Branche wichtig sei.
Dagegen wirkt Laschet, der gar nicht so tut, als wolle er das Klima schützen, zumindest konsequent. Der Kanzlerkandidat der Herzen ist er dennoch nicht, auch wenn die Unionsparteien momentan knapp vorne liegen. Laschets unbedachtes Lachen im Katastrophengebiet nach dem Rekordhochwasser mit mehr als 150 Toten und seine Aussage "Nur weil jetzt ein solcher Tag ist, ändert man nicht die Politik", wiegen schwer, allerdings war er schon vorher in Umfragen unbeliebter als Söder.
Die gescheiterte Selbstoptimiererin
Baerbock bot zwar weniger inhaltliche Angriffspunkte, hat es aber mit der Selbstoptimierung in Lebenslauf und Buch übertrieben und sich dabei erwischen lassen. Sie war also weder authentisch als viel beschäftigte Spitzenpolitikerin und Mutter, die dank Mehrfachbelastungen eben nicht perfekt sein kann, aber Sympathiepunkte sammeln könnte, wenn sie das gleich zugeben würde, noch konnte sie die Fassade der perfekten Karrierefrau mit Herz, die alles tipptopp unter einen Hut bringt, aufrechterhalten. Der missglückte Versuch kam weder bei traditionellen Grünen-Wählern noch beim bürgerlichen Teil der Zielgruppe gut an.
Scholz verdankt seine aktuelle Beliebtheit daher wohl am ehesten der Tatsache, dass die politische Konkurrenz bei der Auswahl ihrer Kandidaten keine Glücksgriffe getan hat.
Vieles könnte jetzt auch davon abhängen, inwieweit Flüchtende aus Afghanistan für den Wahlkampf instrumentalisiert werden. Im ungünstigsten Fall verlieren in der heißen Phase Themen wie Soziales, Gesundheit und Klimaschutz an Bedeutung, weil wieder "unkontrollierte Masseneinwanderung" als Schreckensszenario beschworen wird. Die Versuchung dürfte vor allem für die Unionsparteien groß sein.