Bau und Gegenbau

Seite 2: Bauen in "Nationaler Tradition"

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Auf den Bauhausstil und Funktionalismus verstanden sich auch Hermann Henselmann und Richard Paulick, der vor dem Krieg die rechte Hand von Walter Gropius gewesen war. Als sie entsprechende Entwürfe dem ZK der SED vorlegten, wurde Paulick gefragt, wie er sich erdreiste, solche Eierkisten zu zeichnen. Er antwortete, nicht so schnell seine Eierschalen abwerfen zu können. Er legte jedoch innerhalb 24 Stunden einen neuen Entwurf vor, mit pantheonhaften Zügen. Das "neue" Zeitalter der Arbeiterwohnpaläste war angebrochen. "National in der Form und sozialistisch im Inhalt" musste es nun sein.

Beinahe Klassizismus. Bild: Bernhard Wiens

Im Unterschied zu Scharoun, der sich für den Westen entschied, wurden die beiden zu Protagonisten des Aufbaus der Stalinallee. Hermann Henselmann entwarf den Prototyp, das Hochhaus an der Weberwiese (1951/52). Schinkel nachempfundene Details, ein dorisches Säulenmotiv, weiße Meißner Keramik und schwarzer Marmor, der von Görings Landsitz "Carinhall" stammt, sind zurückhaltend eingesetzt. Die vertikal gegliederte Fassade verleiht dem Haus etwas Aufstrebendes "wie der Sozialismus". Aber es bleibt grazil.

Nati Tradi? Bild: Bernhard Wiens

Monumentaler wurde es in der auf 90m verbreiterten Stalinallee. Henselmann setzte die Eckpunkte der Achse, gegenüberliegende Tore am Strausberger Platz und am Frankfurter Tor mit den Wohntürmen, deren Aufsätze an Gontard gemahnen. Die Wohnblöcke schießen bis zu 13 Stockwerken auf mit Dachterrassen und Vorläufern von Penthouses. Ziergiebel, Risalite, Säulen nach griechischer Ordnung und folkloristische Elemente sorgten für "prachtvolle, populäre und unterhaltsme" Wohnkultur. Ulbricht zeichnete diesen Tempelstil persönlich vor. Für den ehemaligen Bauhaus-Chef Hannes Meyer war es eine "Bekleckerung mit klassiszistischen Details", was in der Diktion der kommunistischen Führung "Bauen in nationaler Tradition" hieß. Der Volksmund kürzte zu "Nati Tradi" ab.

Das Kino Kosmos (1960-62) hat sich aus dem zweiten Bauabschnitt in den ersten verirrt. Bild: Bernhard Wiens

Die Würdeformen der Baukunst - Prachtstraße, Palast, Säule, Ornament - wurden zur Kultur der Arbeiterklasse umgedeutet. Fällt dieser Klassizismus hinter Schinkel zurück in eine Refeudalisierung durch Dekor? Oder ist er "Ausdruck der unvollendet gebliebenen bürgerlichen Revolution", wie der Verantwortliche Kurt Liebknecht ihn deutete? Der reale Sozialismus bringe die Vollendung. Die Wohnungen sind - heute noch - komfortabel, die Miete lag - damals - bei 90 Pfg./m². Geschäfte und Gastronomie sind in die Häuser integriert. Eine Baumpromenade macht die großmaßstäblichen Dimensionen und die guten Proportionen des weiten Korridors erfahrbar. Es ist ein welt-läufiger europäischer Boulevard.

Frankfurter Tor. Bild: Gryffindor. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Die Anregung zu diesem sozialistischen Klassizismus holte sich eine DDR-Delegation 1950 in der Sowjetunion ab. Sie brachte "16 Grundsätze des Städtebaus" mit. Der DDR-Städtebau erteilte Gartenstädten, der Charta von Athen und der Moderne eine Absage und kehrte zur kompakten europäischen Stadt zurück. Fürs erste. Im Jahr des Mauerbaus fielen der Name der Allee und das Denkmal Stalins.