Bau und Gegenbau
Seite 5: Wer steht wofür?
Die "Vorrangstellung erbaulicher Rhetorik", welche Kevin Lynch dem Zuckerbäckerstil bescheinigte, galt nicht minder für die Politik. In aller Feindschaft waren sich die beiden Deutschlands verbunden - bis zur partiellen Übereinstimmung. Ihre asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte offenbart immer wieder Anziehungspunkte, welche auf die gemeinsame Vergangenheit zurückverweisen.
R. Paulicks 1951 für die Stalinallee entworfene Sporthalle, 1971 wegen Baufälligkeit abgerissen, trug unverkennbar ein nationalsozialistisches Gepränge zur Schau und war auch zur Inszenierung von Massen tauglich. Haben nicht auf der Weltausstellung 1937 in Paris die von Hitler inspirierte und die sowjetische Architektur in einem Wettstreit gelegen, in welchem sie sich durch Überbietung anverwandelten?
Paulick hatte keine Berührungsängste gegenüber dem bei den Nazis beliebten Heimatschutzstil, und von dort lässt sich der Bogen zurückschlagen. In den letzten Kriegsjahren ahnten die Planer Hitlers, dass aus der Monumentalität nichts wird und entwickelten aus den organischen Elementen jenes Stils einen Begriff von Landschaftlichkeit. Es war das Leitbild einer in Siedlungszellen gegliederten und durch Grünzüge aufgelockerten Stadtlandschaft. Scharoun tat sich nicht schwer mit der Übernahme dieses Leitbildes, zumal es auch bis zu sozialreformerischen Siedlungsbestrebungen der Zwanziger Jahre zurückverfolgt werden kann.
Die Verflechtungen und zum Ende der DDR offenkundigen Kongruenzen mit der BRD sind so zahlreich, dass nur ein paar Beispiele ergänzt seien:
- Die "Stadtkrone", auf die sich Henselmann noch mit seinen Tortürmen und dem Fernsehturm bezog, war auch Scharoun vertraut. Er war mit deren Verfechter, Bruno Taut, gut bekannt. Scharouns Meisterstück jedoch, die Berliner Philharmonie, wirkt wie ein Gegenentwurf zur Stadtkrone.
- Die Kontakte zwischen den Planern Ost und West rissen auch während des Kalten Krieges nicht ab, auch wenn offiziell unerwünscht. Ernst May, der Planer des "Neuen Frankfurt" der 20er Jahre, der nach dem Krieg in den Westen ging, gewann sogar 1957 einen für Ostberlin (Fennpfuhl) ausgeschriebenen Wettbewerb.1
- In West wie Ost war in den 60er Jahren historische Bausubstanz schlecht angeschrieben, um den Bau von Großwohnsiedlungen vorzubereiten. Diese konzentrierten sich im Osten jedoch zunächst auf städtisches Territorium, während im Westen Trabantenstädte in Verbindung mit Eigenheimbau zu einer suburbanen Zersiedelung führten.
- Das Viertel rund um die Nikolaikirche (13./15. Jh.) wurde 1987 aus der Retorte gezogen. Die DDR-Bauingenieure waren stolz, historische Giebel aus seriell gefertigten Platten leicht abstrahiert nachstellen zu können. Oder "echt alte" Häuser wurden in die neue Altstadt umgesetzt. Marketing-geile Stadtmanager westdeutscher Städte lecken sich heute noch die Finger nach so etwas.
- …und was die "Kritische Rekonstruktion" der kompakten Stadt angeht, kann der erste Bauabschnitt der Stalinallee als ein frühes Beispiel gelten.
Die geteilte Stadt war Plattform der Systemkonfrontation. Die zusammenwachsende Stadt bietet sich als Plattform einer Architekturdiskussion an. Der Streitwert der systemischen Konkurrenz von Moderne und Tradition ist das Grundkapital einer städtebaulichen Erneuerung. Es geht nicht um die Zerstörung oder den Rückbau des jeweils anderen. Vielmehr entwirft die Moderne sich neu, indem sie die Unterschiede anerkennt. Die Demonstration konträrer Architekturen ist im Rückblick als Kontrapunktik zu erkennen, aus der sich in Zukunft Mehrstimmigkeit entwickeln kann. Nicht länger mit der Nachkriegsmoderne zu hadern, heißt, die Brüche in der deutschen Geschichte anzuerkennen.2 Darauf lässt sich gut, kritisch und ohne Wiederholungszwang bauen. Der Welterbe-Antrag ist fundiert.