Bei den Affen

Mit Tarzan im Dschungel der Städte und der Bücher

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Ich habe Tarzan zweimal "live" erlebt. Beide Male in München. Aber "Begegnungen der dritten Art", mit Tarzan, mit den Affen, gab es auch anderswo. In Heidelberg. In Bonn. Und natürlich in den Büchern.

I. Ich kannte Lex Barker - lange, bevor er an der Seite von Pierre Brice in Deutschland zu einem Karl-May-Star wurde. Ich kannte ihn natürlich nicht persönlich. Aber er war der erste Film-Tarzan, den ich kennenlernte. Auf der Leinwand. Und jetzt, einige Jahre später, es ist 1970, 71, bin ich Student in München. Wohne in der Neureuther, in der Wilhelmstraße. Erlebe Schwabing. Kenne die Szene, kenne die Gesichter. Kenne, wenigstens von außen, die Kneipen, in denen die Komparsen von Film und Theater ihre Abende verbringen - die gleichen, die kurz darauf, in Blechverkleidung, in Werner Herzogs Film Aguirre mit Klaus Kinski durch den südamerikanischen Dschungel hecheln werden.

Und so stehe ich eines Abends auch in der Türkenstraße unvermutet vor Tarzan. Lex Barker, Amerikaner, ein ansehnlicher Silberrücken, sogar mit 50 - ein Star. Im realen Leben ein Stück größer als ich, also circa Einsneunzig, natürlich sehr viel älter als ich und, wie ich gleich sehen kann, sehr viel erfolgreicher bei den Frauen. Denn links und rechts eingehakt bei ihm kommen zwei hoch aufgeschossene Super-Weibchen daher, die ihn mit schönem deutschen Akzent auf Englisch duzen: "You know, Lex ..." Und vorbei.

Buchcover aus dem Jahr 1924

Eine mehr als flüchtige Begegnung. Eine Sekunde oder zwei, die man erst nachher auffüllen muss. Aber: Welche Fragen hätte ich ihm, so en passant, stellen können? Was hätte ich ihm sagen können? Hätte es ihn überhaupt interessiert, dass ich den perfekten Tarzan-Heuler imitieren konnte?

Dass ich mich durch unzählige "Wundertüten" gewurschtelt hatte, um die vergriffenen Tarzan-Comics von John Celardo aus dem Pabel-Verlag noch irgendwie und irgendwo zu ergattern? Dass ich in den schäbigsten Leihbibliotheken die abgegriffensten "Bomba der Dschungel-Boy"-Bände entliehen hatte, um meinen nie zu stillenden Lesehunger zu befriedigen? Nein. Wahrscheinlich wäre es ihm egal gewesen. Ich schätze mal, das Thema "Tarzan" war für ihn zu diesem Zeitpunkt längst abgehakt. Lex Barker war mittlerweile in Deutschland und ganz Europa zur Personifikation einer anderen Bühnengestalt geworden. Eine Berühmtheit namens "Old Shatterhand".

II. Ganz anders dagegen der andere Tarzan. Johnny Weissmüller. Er blieb zeitlebens immer in der gleichen Rolle. Auch im Anzug. Die Begegnung mit ihm begann (dem entsprechend) zunächst nur irgendwie kafkaesk, steigerte sich dann aber zu einer Szene wie bei den Keystone Kops, den stürmisch umherflitzenden Schupos der Kintopp-Ära.

Verlagslogo

Es ist 1971, ein Jahr vor der Olympiade in München, noch einige Zeit vor dem Terroristen-Debakel. Mein Freund O., der das vom Vater gewünschte Jura-Studium zugunsten einer Theaterkarriere aufgegeben hat, kommt am Abend nach Hause in unsere gemeinsame Studentenwohnung. Berichtet, er sei da unten, in der Nähe vom Gärtnerplatztheater, am Eingang zu einem Hotel vorbeigekommen. Ein Mann mit Marktschreierstimme habe lautstark die Leute zur Seite gescheucht. "Platz da! Macht Platz für Johnny! Johnny kommt!" habe er gerufen. "Welcher Johnny denn?" hätten die Leute gefragt. Dann sei Johnny Weissmüller mit seiner Frau daher gekommen, und ins Hotel gegangen. Tarzan als alter Mann. Alt, aber immer noch eindrucksvoll.

Wir rätselten, was ihn, Weissmüller, wohl gerade jetzt bewogen haben mochte, nach München zu kommen. Ich vermutete, dass es irgendwas mit der Olympiade zu tun haben musste. Denn bevor Weissmüller ein Film-Star wurde, war er ein Schwimm-Star gewesen. Er hatte bei den Olympischen Spielen der Jahre 1924 und 28 fünfmal Gold und einmal Bronze abgeräumt und zu seiner Zeit insgesamt 67 Weltrekorde aufgestellt.

Und tatsächlich. Einige Tage später trat Johnny im Fernsehen auf, in einer Sport-Sendung. Man hatte ihn und seine Frau in ein Studio eingeladen. Es ging um den Schwimmer Weissmüller, den einstigen Super-Sportler, den man hier über seine Ansichten zu Mark Spitz, den gegenwärtigen Medaillen-König unter den Schwimmern, befragen wollte. Aber außerdem, da Johnny Weissmüller schließlich der Tarzan-Darsteller schlechthin gewesen war, hatte man zusätzlich auch noch einen anderen Gast ins Studio gekarrt - einen echten Schimpansen aus dem Zoo, aus dem Tierpark Hellabrunn. Dies geschah wohl aus der irrigen Annahme heraus, dass "Tarzan" auch im realen Leben ein quasi natürliches Verhältnis zu den Affen haben müsse.

Der seltsame Trip, der sich nun vor meinen Augen abspielte, war nicht künstlich induziert. Was man ja leicht annehmen könnte. Denn damals, 1971, wurde allgemein viel "inhaliert". Aber nein. Er war real. Trotzdem findet sich dazu keinerlei Hinweis auf Wikipedia. Und ich habe mich seitdem manchmal gefragt, ob ich mir die Geschichte wohl nur eingebildet hätte? Im Traum vielleicht? Aber nein. Ich bin sicher, dass es einige Leser und Leserinnen gibt, die die Szene damals im TV mitverfolgt haben und ihre Wirklichkeit bestätigen können.

Ein kurzer "Schmunzel-Moment" aus der genannten Sendung fand sich doch, auf YouTube.

Jedenfalls: Der Affe. Aus dem Zoo. Nicht aus dem Zirkus. Nicht trainiert. Nicht gedopt. Nicht an Studios gewöhnt. Und was die Leute beim Fernsehen wohl auch übersehen hatten: Dass so ein Schimpanse zwar aussieht wie ein schmächtiges Kerlchen. Aber doch die fünffache Kraft eines Menschen in seinen Armen besitzt. Und so kam es, wie es kommen musste. Kaum ist man auf Sendung, eben hat man die erste Frage an Johnny gerichtet, als der Affe auch schon beginnt, auszurasten. Geblendet von den vielen Lichtern, verstört von den vielen Menschen in seinem neuen Käfig, springt er im Studio umher. Keiner kann ihn halten. In Sekundenschnelle herrscht das komplette Pandämonium, es geht wilder zu als je in der Schiffskabine der Gebrüder Marx. Johnny, ein großer Mann, immer noch stark, versucht, seiner Rolle gerecht zu werden. Tarzan will den Affen halten. Der aber weigert sich mitzuspielen. Stattdessen - nun selber zum Reality-TV-Star geworden, ein äffischer Medien Pionier, seiner Zeit weit voraus - beißt er dem Hollywood-Mythos bösartig in die Hand. Tarzan, waidwund, gibt sich geschlagen. Der Affe springt weiter, reißt der Gattin des Stars die Perücke vom Haupt. Schließlich gelingt es, das verschreckte Tier aus dem Studio zu bringen, die Sendung wird unterbrochen.

III. Nicht ganz so chaotisch, aber auch bewegt, war meine eigene Schulzeit gewesen, die mich nach Heidelberg, Bonn, Bad Godesberg und andere Orte führte. In Heidelberg saß ich im Theater, es war 1964 oder 65. Ich sah dem Schauspieler Klaus Kammer zu, der - im Affenkostüm - einen Text von Franz Kafka vortrug, "Bericht für eine Akademie." Äffisch-unverständlich begann er mit einem kaum definierbaren Laut. Erst allmählich verstand man, dass er uns, das Publikum, als "Hohe Herren von der Akademie!" ansprechen wollte. Ich nehme an, dass ich damals wohl der einzige Tarzan-Leser im Publikum war, und mir erschien es ganz selbstverständlich, dass der Tarzan-Roman von Edgar Rice Burroughs die Inspiration zu Kafkas Geschichte geliefert hatte. Bei Kafka ist es ja gerade so: Ein von der Firma Hagenbeck eingefangener Schimpanse schafft es zum halbgebildeten Mitteleuropäer. Wie er uns erzählt:

... Durch eine Anstrengung, die sich bisher auf der Erde nicht wiederholt hat, habe ich die Durchschnittsbildung eines Europäers erreicht. Das wäre an sich vielleicht gar nichts, ist aber insofern doch etwas, als es mir aus dem Käfig half und mir diesen besonderen Ausweg, diesen Menschenausweg verschaffte.

Bei Burroughs gibt es dazu die entsprechende Stelle. "Tarzan of the Apes" - das bezeichnet genau genommen eigentlich einen Mann mit Adelstitel. "König der Affen" oder wahlweise etwa "von und zu Affenhausen". In der deutschen Übersetzung heißt Tarzan aber nur schlicht und einfach "Affen-Tarzan". Erstaunlicherweise des Schreibens kundig, hat soeben seiner Angebeteten, der weißen Amerikanerin Jane Porter, im Urwald einen Brief zukommen lassen. Sie wundert sich nun, von wem der wohl stammen könnte, und sucht Rat bei einem ihrer Expeditionsmitglieder:

... was heißt Affen-Tarzan? fragte das junge Mädchen. Ich weiß es nicht, Miß Porter, antwortete der junge Mann. Vielleicht haben wir einen flüchtigen Affen aus dem Londoner zoologischen Garten entdeckt, der eine europäische Erziehung in dieses Dschungelheim mitgebracht hat.

IV. Mit dem literarischen Tarzan traf ich zuerst - in Bonn zusammen. Ein amerikanischer Literaturagent hatte seiner deutschen Freundin durch die ganzen Zwanzigerjahre und bis weit in die Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts hinein offenbar jedes Jahr ein neues Exemplar der Tarzan-Serie zugeschickt. Im Hardcover. Jeweils mit einer persönlichen Widmung. "To my dear Gertie ..." oder so ähnlich. Die Herzensdame hatte die Bücher ihres US-Verehrers allesamt brav aufs Regal gestellt, aber nie mehr angerührt. Sie blieben jungfräulich, was ich leicht daran ausmachen konnte, dass die Seiten noch unbeschnitten waren. Das heißt, wie bei amerikanischen Büchern damals üblich, war jeder Bogen von 16 Seiten zwar gefaltet, aber man musste die Seiten des Buches jeweils erst mit einem Brieföffner auftrennen. Ein ungelesenes Buch war also leicht als solches erkennbar. Wie auch immer, Anfang der Sechzigerjahre war die wenig lesefreudige Gertie (oder so ähnlich, vielleicht war es auch eine Gerda) verstorben. Ihre Bücher landeten auf dem Sperrmüll, und kurz darauf, nach einer nächtlichen Sammeltour, auf den Regalen meines Freundes O.

V. Dass die Tarzan-Geschichten für eine Frau uninteressant wären, erschien mir damals keiner weiteren Nachforschung bedürftig. Ich stellte mir Tarzan als eine rein männliche Selbsterfüllungsphantasie vor. Erst unlängst erfuhr ich aus einem autobiographischen Text von Jane Goodall, dass die Dinge vielleicht doch etwas anders standen. Die weltberühmte Schimpansenforscherin gestand darin, dass sie damals aus ihrer Begeisterung für Tarzan heraus die Sehnsucht entwickelt hätte, im Urwald mit den Schimpansen zusammenzutreffen. Ihr Vorname, Jane, erinnert natürlich an Jane Porter, Tarzans Angehimmelte aus dem Roman - und ich gewann einen Moment lang den Eindruck, dass Goodall vielleicht eine nette, aber letztlich etwas unbedarfte Londoner Tierfreundin gewesen sei, die wohl gehofft haben mochte, bei den Schimpansen ihren eigenen Tarzan anzutreffen. Doch in dem Punkt mag sie sich kaum von anderen jungen Frauen ihrer Zeit unterschieden haben. Denn was ich nicht bedacht hatte: Für Frauen war die Tarzan-Gestalt mindestens so romantisch wie für mich als jungen Mann das Vogelmädchen Rima in W. H. Hudsons "Green Mansions" (Deutsch: "Rima. Die Geschichte einer Liebe aus dem Tropenwald.")

VI. Aber es soll mir nicht darum gehen, Jane Goodall hier etwas am Zeug zu flicken. Ich wollte eher meiner eigenen Faszination mit dem Tarzan-Stoff auf den Grund gehen. Außerdem wollte ich auch die These überprüfen, ob die deutsche Übersetzung dem Originaltext wirklich so haushoch überlegen war, wie ich meinte. Ich glaubte mich nämlich zu erinnern, dass dieser erste Tarzan-Band auf Deutsch ein fast klassisches Profil bewiesen hätte - das Buch war mir als eine Art Gegenstück zu Kafkas "Der Verschollene" erschienen.

Nun, um diesen Punkt gleich abzuhaken: Zu der Zeit, als Burroughs seinen "Tarzan" verfasste, vor nunmehr rund 100 Jahren, war beispielsweise ein Henry James noch am Leben. James galt in Amerika als die literarische Größe seiner Zeit. Ein Theodor Fontane oder mehr noch Thomas Mann Amerikas. Er war indessen ein Verfasser von Texten, die heutigen Amerikanern nicht mehr verständlich sind. Im Vergleich zu James schrieb Burroughs einen fast schon geradlinigen, zielgerichteten Stil. Das ändert wenig an der Tatsache, dass er stilistische und inhaltliche Anleihen bei der Bibel, bei Kipling ("Das Dschungelbuch"), bei Jules Verne, bei H. G. Wells, und bei unzähligen anderen Autoren machte. Seine Werke besitzen dennoch einen eigenen, markanten Duktus, in gewisser Weise nicht unähnlich dem des "Herr der Ringe"-Autors, J. R. R. Tolkien. Heutige Leser werden jedenfalls ein Buch von Burroughs (nach kurzer Eingewöhnung) sehr viel leichter verstehen als eins von Henry James. Und auf dem Buchmarkt hat der Trivialautor Burroughs nach wie vor eine virulente Präsenz, wo James sich mit einem schwach phosphoreszierenden Glimmern in den Schlafhöhlen des Project Gutenberg bescheiden muss.

VII. Was nun die deutsche Fassung betrifft, so schrieb Tony Kellen, der Übersetzer, durchaus ein Deutsch, wie man es zu Anfang der Zwanzigerjahre bei Autoren der Neuen Sachlichkeit antrifft. Bei Kasimir Edschmid, beispielsweise. Es unterscheidet sich wohltuend von Burroughs’ klobigem Stil - etwa so, als hätte man Ernest Hemingway gebeten, das Manuskript ein wenig zu entschlacken. Andererseits bemüht sich Kellen immer wieder auch, relativ textgetreu Burroughs hinterherzudackeln, und so gibt es Stellen, die an die Märchen der Gebrüder Grimm erinnern, an das Alte Testament und dergleichen mehr. Ab und zu kippt der Übersetzer, in schläfrigen oder unaufmerksamen Momenten, auch einfach aus seinen hochdeutschen Latschen, beispielsweise so:

... während beide am Essen waren ...

... Eine ganze Stunde lang heftete Tarzan seine Augen auf Jane, während sie am Schreiben war ...

... Samuel T. Philander war am Sprechen ...

Also Kafka? - Nein. Dafür ist der Text vielleicht ein bisschen zu Kölsch geraten, zu Binnendeutsch. Und trotz der Stelle im Buch, bei der man meint, hier hätte Kafka sich die Inspiration zu seinem "Bericht für eine Akademie" geholt: "Tarzan bei den Affen" erschien deutsch 1924. Da war Kafka schon nicht mehr ganz unter den Lebenden.

VIII. Aber nun nochmal zu Tarzan selbst. Er ist, wie Mowgli im "Dschungelbuch", oder wie Romulus und Remus, die Gründer der Stadt Rom, ein so genanntes Wolfskind, ein von einer Tiermutter aufgezogenes Menschenkind - nur, dass es in seinem Fall nicht eine Wölfin, sondern eine Äffin war, die an ihm die Mutterstelle vertrat. Auf dem Cover des deutschen Tarzan-Bandes aus dem Jahr 1924 - es handelt sich hier um den 150. Nachdruck aus einem ungenannten späteren Jahr - sehen wir Tarzan, von einem Künstler namens W. Planck gezeichnet, aus der Rückansicht. Aus der Lektüre des Buches wissen wir, dass Tarzan "ein Riese" ist, allerdings reichen ihm dazu bereits sechs Fuß, also eine Länge von 1.80 Meter. Er wirkt auf dem Bild zwar muskulös, aber doch auch recht schmächtig, betrachtet man sich einmal die schlanken Fesseln. Die groben Pfoten hat er dagegen, wie ich vermute, von seinem literarischen Ziehvater geerbt, denn Burroughs soll mit Riesenfäusten auf seine Schreibmaschinen eingedroschen haben, so dass er nach jedem Buch, das er fertig getippt hatte, dem betreffenden Gerät Adé sagen konnte.

Ebenfalls korrekt widergegeben ist Tarzan auf dem Cover als Linkshänder. Der Hinterkopf erinnert vage an Tom Cruise, aber das auffallendste Detail ist natürlich Tarzans praktisch komplette Nacktheit. Das Schnürchen, das er sich in Nabelhöhe um den Bauch geschlungen hat, dient ihm einzig dazu, die Messerscheide am Rücken zu befestigen - in einem (für einen Linkshänder!) übrigens recht ungeschickten Winkel. Vorne scheint er nackt zu sein. Das geht zudem recht deutlich aus der Richtung des erschrockenen Blicks hervor, den der Phantasie-Affe mit den großen Ohren auf Tarzans Unterleib wirft. Aus heutiger Sicht erkennen wir, dass der Affe nicht allein über Tarzans Genital entsetzt ist, sondern auch, dass er selber keines mehr besitzt, dass er also möglicherweise bereits früher einmal bei einer Begegnung mit Tarzans Messer den Kürzeren gezogen hat. Wie ein Boxer hebt er nun die schweren Fäuste zum Schutz vor die Brust.

Das ist, indessen, die ironische, die eher frivole Interpretation des Bildes - mit dem Blick aus unserer Zeit. Damals, 1924, besaß der Affe hingegen noch sein Genital, aber der Künstler musste es unter viel dunkler Schraffur verstecken.

Am linken Bildrand sehen wir Jane, die dem Treiben der beiden Streithähne mit einem bereits weltentrückten Bette-Davis-Blick zuschaut, weiß sie doch, dass ihr, gleichgültig wie der Kampf ausgeht, nachher ein "Schicksal tausendmal schlimmer als der Tod" blüht. Dieses abgegriffene Klischee bemüht Burroughs an dieser Stelle tatsächlich. Es war damals und gilt bis heute als eine euphemistische Umschreibung für "Vergewaltigung". Der Illustrator hat damit die zentrale Szene des Romans herausgegriffen. Es geht dabei um Sex - und um die Frage, was wohl erregender sein könnte: Sex mit einem Affen, oder Sex mit einem Wilden.

IX. Das dies in der Tat der wichtigste Aspekt bei der Tarzan-Geschichte ist, erhellt sich auch aus dem Logo der Serie, in der der Roman verlegt wurde. Eine sehr junge Frau, allem Anschein nach nackt (wieso? wie kann man das an der vollschwarzen Silhouette erkennen? - weil es um 1924 noch keine derart eng anliegende Schwimmbekleidung gab!) sitzt an einem fernen Strand, während ein Klipper unter voller Takelage am Horizont aufkreuzt. In der Vergrößerung erkennt man, dass die Masten zwischen den Segeln wie die Augen von Voyeuren hervor lugen. Auch dieses Buch, der Band, den ich besitze, gehörte einst einer "Johanna" (deutsch für "Jane"), die ihren Namen mit kindlicher Schrift auf eine mit Bleistift vorgezogene Linie schrieb. War also "Tarzan" ein Jungmädchentraum?

Gewiss doch. Denn hier wird einmal, deutlicher als beispielsweise in "Lolita", Tacheles geredet über Sex und die sexuellen Wünsche - wenigstens der jungen Leserinnen. Für die Jungs gab es hier nichts zu holen. Denn Tarzan selber ist komplett asexuell.

X. Ich war es nicht. Ich konnte mich sexuell sogar für Gorilla-Weibchen begeistern. Als ich mit 19 Jahren George B. Schallers Buch über die Berg-Gorillas des Kongo gelesen hatte, das auch Dian Fossey so begeisterte, dass sie ihre Forschungstätigkeit im Dschungel aufnahm - und wer kennt nicht den Film, "Gorillas Im Nebel" mit Sigourney Weaver in der Hauptrolle? - erlebte ich eine wirkliche Begegnung der etwas andern Art. Ich ging mit meiner Freundin M. in einem naturhistorischen Museum spazieren. Ihr Vater war Genetiker, alle Brüder wurden Mediziner, sie selbst war Biologie-Studentin. Ich erwartete mir also ein gewisses Verständnis für mein Interesse an den Primaten. Wir hielten vor einem ausgestopften Gorilla-Weibchen in einem Glaskasten. "Findest du nicht", fragte ich meine Freundin, auf das nackte Gorilla-Fräulein deutend, "dass sie irgendwie sexy aussieht?"

"Offen gesagt", antwortete sie, "finde ich das absolut nicht." Das war zumindest der Kern ihrer Aussage, die insgesamt doch noch etwas wortreicher ausfiel.

Kurz vor der Jahreswende starb in einem Tierheim in Florida ein Schimpanse - angeblich der Original-Cheetah, der Anfang der 30er Jahre mit Johnny Weissmüller als Tarzan vor der Kamera gestanden hatte. Sein Alter wurde mit "ungefähr 80" Jahren angegeben. Zoologen hegen Zweifel an dieser Altersangabe, da Chimps in den Zoos selten einmal 50 werden.

Überraschend für mich war dabei, dass Cheetah männlich gewesen sein soll, da man seine Männlichkeit im Film nie zu sehen bekam. Ich ging davon aus, dass Cheetah weiblich sein müsse. Auch Ronald Koertge, der amerikanische Lyriker, hatte ein Gedicht über Tarzan veröffentlicht, wo Cheetah eine große Banane in ihrem Mund hatte, und Tarzan sie gleich mal sexuell vernaschte. Cheetah klingt wie "cheater", die Verführerin, eine Gegenspielerin zu Jane, Tarzans Dschungelfreundin. Maureen O’Sullivan, die Schauspielerin, die an der Seite von Weissmüller im Film die Jane gab, war übrigens die Mutter von Mia Farrow. "Meine Mutter nannte den Affen immer nur dieses Miststück" erinnerte sie sich. "Er hat sie nämlich bei jeder Gelegenheit immer nur gebissen." - Aha. So weit also alles klar.