Bericht für eine (chinesische) Akademie

Bild: Kayla Kozlowski on Unsplash

Die Seuche - in memoriam Franz Kafka

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Hohe Damen und Herren von der Akademie!1

Erneut wird mir die Ehre einer Akademie in der Aufforderung zuteil, einen Bericht über mein Vorleben einzureichen. Doch diesmal ist es nicht mein äffisches, sondern mein menschliches Vorleben, lange Jahre eingeübt, über das ich Bericht erstatten soll.

Es fällt mir heute ebenso wenig leicht über mein menschliches Vorleben zu berichten, wie ehemals, vor einer Akademie in Deutschland, über mein äffisches. Zwar liegt die so benannte große Corona-Krise seit nunmehr fünf Jahren zurück. Doch diese Misere, durch Infektionen hervorgerufen, gleichzusetzen mit der Zeitenwende, die wir alle erlebt haben, wäre ein Fehler. Gleichwohl auch hier von der üblichen Ironie schicksalhafter Zeiten die Rede sein kann. Denn damals, in meinem ersten Bericht an eine Akademie, merkte ich an, dass es der Offenheit bezeugende Handschlag war, der, neben dem offenen Wort, meinen Abschied vom Affendasein anzeigte. In der Corona-Krise wurde anderes offensichtlich. Es war die Abkehr vom Handschlag, gar die Furcht vor diesem, die das Auftauchen des neuen Menschen, wie er heute oft genannt, bekundete. Es war damals vielleicht auch schon die Abkehr des neuen Menschen vom offenen Wort, ohnehin schwieriger werdend durch das verpflichtend werdende, uniformierende Tragen von Gesichtsmasken.

Doch es wäre, ich sagte dies schon, ein Irrtum, in der großen Corona-Krise dasjenige Ereignis zu sehen, das den neuen Menschen hervorbrachte. Der neue Mensch, lassen Sie mich das, werte Akademie, erläutern, kündigte sich schon an viele Jahre zuvor. Wenn Daten für diese Zeitenwende anzugeben sind, ich weiß es wohl, Menschen verlangt es danach, könnte das Jahr 2004 benannt werden, das Jahr, in dem sich Facebook als Applikation etablierte. Oder das Jahr 2007, jener Zeitpunkt des Aufkommens von Handtelefonen mit Bildschirmen, tauglich der Rückmeldung bei der Bedienung. Von Jesus’-Telefonen war damals gar die Rede. Nunmehr allerdings, in der Rückschau, könnte es nicht wenigen so scheinen, dass der Begriff der Teufels-Telefonie angebrachter gewesen wäre.

Sollten auch in diese Daten wichtige Meilensteine auf dem Weg zum neuen Menschen erkennbar sein, so ist es gleichwohl ein Weg. Es bedarf der Zeit um einen Weg zu beschreiten. Eine Zeit gleichsam der sukzessiven Einübung und Gewöhnung, kaum merklich die einzelnen Schritte auf diesem Pfad - und doch ist man ganz woanders, ist gar ein anderer, wird dieser Weg nur lang genug beschritten. Auch dies mag einer der Gründe sein, warum mir, nunmehr aus der Warte des neuen Menschen, schwer fällt, über mein menschliches Vorleben zu berichten. Es war ein anderes Leben, ein Leben mit anderen Sicherheiten, anderen Selbstverständlichkeiten, anderen Risiken und deshalb aus heutiger Sicht kaum nachzuvollziehen. Schwer erscheint eben deshalb ein greifbares Datum für die Geburt des neuen Menschen zu benennen. Den Werdegang allerdings nachzuzeichnen möchte ich dennoch versuchen.

Es war das Netz als Unterbau, es waren Anwendungen wie Facebook, wie Instagram oder Twitter, um nur wenige zu nennen, und Apparaturen, wie die im Jahr 2007 auftauchenden Handtelefone, die ermöglichten, was erst in der Krise dramatisch offensichtlich wurde und was solchermaßen, vermeintlich, als neues Phänomen erschien. Nämlich eine Distanzierung sowohl mit körperlichem, wie auch sozialem Bezug. Es war in dieser Zeit, kaum zwanzig Jahre ist es nun her, in der die Gesellschaft sich, rapide in erstaunlichem Masse, durchseuchte. Handtelefone wurden ständiger Begleiter fast aller Menschen. Der Kontakt zwischen Personen fand nun statt ausgehend von uniformierten Warten sich milliardenfach konstituierender Nutzerprofile. Es sind dies gleichsam Burghöflein, die gerade jene soziale und körperliche Distanz erlauben, die, erneut sage ich vermeintlich, erst seit der großen Corona-Krise den neuen Menschen auszeichnen sollen. Es sind milliardenfach replizierte Burghöflein, ja, so will ich sie nennen, die jedem ihre Nutzer Kontrolle über Verständigung und Zwiesprache erlauben, und so körperlichen und sozialen Abstand ermöglichen.

Jeder, der damals ein offenes Aug’, ein offenes Ohr hatte, konnte die Umwälzungen begreifen. Erscheint das uniformierte und uniformierende Tragen einer Gesichtsmaske heute als Emblem des neuen Menschen, gab es doch der Maskierung entsprechende Vorläufer. Etwa den uniformen, auf das Handtelefon gerichteten Blick, oder das Tragen von Kopfhörern oder Ohrsteckern, welche damals schon die uns bevorstehenden neuen Zeiten ankündigten. Es mag der Naivität meines in Teilen vielleicht noch äffischen Urteils zuzurechnen sein, dass ich mir oft selbst heute noch den offenen, freundlichen Blick einer mir entgegen kommenden Person selbst zurechne, mich auf ein freundliches Wort einstelle, doch im Vorbeigehen enttäuscht feststelle, dass der heiter-gefällige Blick dieser leise vor sich hin brabbelnden Person nicht mir galt, sondern jemandem in weiter Ferne. Die Möglichkeit, große Distanzen zu überwinden, ist notwendig verbunden, sich der Nähe zu verschließen.

Mit Distanz durchseucht wurde die Welt bis in die uns nahesten Sphären. Mit Sehnsucht erinnere ich die Zeit, damals bei meiner Menschwerdung, als ich mit meiner Äffin die Welt bereiste, die Menschenwelt erkundete, so vieles erschien mir, nun des Wortes mächtig, von großer Strahlkraft, war, ja, gleichsam der Rede wert. Fasziniert deutete ich auf diesen ungewöhnlich geformten Berg, jenes tiefe Tal und Flüsschen, und meine Äffin, obwohl selbst ganz ohne Wort, konnte meine Freunde, meinen Überschwang teilen, ließ sich anstecken von meiner Verzückung. Kurzum - es war, jenseits der Worte, eine Welt die wir teilten. Hingegen, bereise ich heute das Land, immer seltener werdend übrigens, mit einem meiner so geheißenen Tinder-Treffen, meine Äffin ist leider nun schon seit einiger Zeit verstorben, und teile mein Entzücken für eine Sehenswürdigkeit … - so ernte ich Schweigen. Es bedarf keines Seitenblicks, um diese Person vertieft in ihre eigene Welt zu wissen, einen Film wohl, ein wie immer witziges Bildchen vielleicht aus den Untiefen ihres kargen Facebook-Burghöfleins. So stehen wir denn einhellig getrennt beieinander und vermögen uns von Fall zu Fall melancholisch, resigniert aus den Fernen insularen Daseins zu grüßen.

Die Unterscheidung zwischen einer Realität und einer sozusagen virtuellen Realität, ein Begriff, damals aufkommend, um die als Digitalisierung beschriebenen Umbrüche zu benennen, erschien mir nie plausibel. Letztlich bricht sich immer die hauptsächliche Lebensform, diejenige Praxis Bahn, die uns tagtäglich ausfüllt und beschäftigt. Und ein Leben auf Distanz, eine insulare Existenz gleichsam üben wir ein von Kindesbeinen. Wobei - der Beine bedarf es gar nicht, sehe ich doch Kindlein sich stundenlang mit Filmchen und Spielen auf Bildschirmen beschäftigen, entfernt in Armeslänge von ihren Ihrerseits gebannt auf Teufels-Telefone starrenden Müttern und Vätern, und so dennoch gleichsam durch Welten getrennt. Ich sehe Jugendliche sich nächtelang einsam netzbasierter Zerstreuung ergebend, ihre Gesichter blass schimmernd im bläulich flimmernden Licht; ich sehe an schönen Orten der Welt Reisende, die nicht reisen, besorgt um Stoff für ihre dürftigen Burghöflein, besorgt, herzzerreißend klägliche Stöcklein für Selbstbildnisse in den Händen, um in Zustimmung und Anhängern sich zeigende Wertschätzung.

Im Nachhinein, aus der Distanz einer nunmehr fünfjährigen Frist, können wir sehen, dass unser jahrelang exerziertes, gleichsam soldatisch konformes, an der Uniformität von Nutzerprofilen orientiertes Leben, sich in der großen Corona-Pandemie Bahn brach. Nicht wenige Koryphäen wunderten sich damals über die Kontinente übergreifenden Konformität im Handeln der Menschen, wunderten sich über diese kaum je zu erwartende Rationalität. Doch war es eine Rationalität, wir wissen dies nun, die derjenigen glich, die dem abgestimmten Verhalten eines Fischschwarms beim Angriff eines Raubfisches gleichkam; es war die Rationalität eines Ährenfeldes, die Rationalität von einträchtig sich im Wind beugenden Ähren.

Damaligen Autoritäten, zu nahe wohl im Angesicht der Krise, musste der ursächliche Zusammenhang entgehen. Nicht ein Virus war es, das den neuen Menschen hervorbrachte. Es war der bereits existierende neue Mensch, der sich eines Virus bediente, um die ihm eigene Form des Lebens zur vollen Blüte zu bringen, ja, gleichsam Realität werden zu lassen. Der Monotonie der Nutzerprofile, dieser kargen Burghöflein der Menschen, entsprach nun die Uniformität einer Gesichtsmasken tragenden Bevölkerung. Zu sehen waren nun Menschen, die in exaltierter Gestaltung ihrer Masken kläglich versuchten, jene Gleichförmigkeit zu kaschieren. Die Förmlichkeit von Anfragen zur Freundschaft, von Vorschriften, wie erlaubten Zeichenmengen oder erlaubten Mitgliederzahlen in Whatsapp Gruppen, die Förmlichkeit der Vergabe von Zustimmung, oder der Entscheidung, ein Anhängsel von Burghöflein zu werden, fand nun ihre Entsprechung, wenn man so will, in der wirklichen Welt.

So wurde in der Krise die Anzahl von Kunden in Geschäften, die Anzahl von Personen in Versammlungen eingeschränkt; es wurden rigide Abstandsregeln eingeführt. Man sah sie nun tatsächlich, wie Perlenketten in Warteschlangen aufgereiht, wartende Burghöflein mit Mäuerchen, bestehend aus streng eingehaltenen, zählbaren Metern. Der Verkehr unter den Menschen wurde, kurzerhand, im gleichen Maße bürokratisiert, wie derjenige in der sogenannten virtuellen Welt. Und bei schönem Wetter, da erblickte man sie, die Menschen, auf Wiesen allein oder in kleinen Rudeln verteilt, gleich wahr gewordenen Whatsapp-Grüppchen. Und man könnte sie erneut hören, die Sachkundigen, in grober Verkennung von Ursache und Wirkung, vom großen Glück schwärmend, dass uns die Krise erst jetzt, zufällig vermeinten sie, ereilte, jetzt, in den Zeiten des weltweit etablierten Netzes und der sozialen Medien, die es gnädig erlaubten, der Katastrophe mit Heim-Büros und Heim-Lernen zu entgegnen.

Doch ich höre sie auch, die kritischen, ja, die empörten Stimmen: Es sei doch schlicht ein Wahrheit, dass damals in der großen Corona-Krise viele Menschen starben! Die überfüllten Krankenlager in China und Spanien, die Vielzahl der Särge in Italien,, die Massengräber in New York City waren doch Ursache unseres Handelns. Niemals, höre ich, kann unser Handeln damals nur Wirkung einer verschrobenen Wahrnehmung gewesen sein. Das Massensterben ist eine Tatsache gewesen! - Ja, entgegne ich, es ist eine Tatsache gewesen, und dennoch ist es ein wahrgenommener Fakt; ein Fakt sogar nur insofern, als er wahrgenommen wurde. Und die Notwendigkeit der Wahrnehmung von Wahrheit lässt genügend Spielraum für Art und Weise, wie mit ihr verfahren wird.

Die Himmelsbewegung des Gestirns ist eine Wahrheit, und dennoch ließ die Wahrnehmung mit Ptolemäus über Jahrhunderte zu, sie als Gang der Sterne selbst zu beobachten. Nicht Fakten waren es, die Kopernikus in seiner Beobachtung des Gestirns ändern konnte, nämlich nunmehr als Bewegung bedingt durch uns selbst, sondern ihre Wahrnehmung. Die Spanische Grippe 1918, weltweit mit mehr als fünfzig Millionen Opfern, die Asiatische Grippe 1957, mit ein bis zwei Millionen Toten, die Hongkong Grippe 1968, verbunden mit dem Tod einer Millionen Menschen, die russische Grippe 1977, siebenhunderttausend Opfer fordernd - all diese Pandemien sind unzweifelhaft Tatsachen, beweisen die Faktizität von weltweit in Massen gestorbenen Menschen. Doch waren es Wahrheiten, die vom alten Menschen, so erscheint es uns heute, wahrgenommen wurden. Ein massenhaftes Sterben, das die Gesellschaft, unverständlich erscheint uns dies heute, nahezu vergaß. Vergessen in der Wahrnehmung der Normalität eines Risikos, das untrennbar mit dem Leben verbunden. Oder vielmehr praktisch vergaß, im einstigen Fehlen jener heut’ üblichen gleichförmigen Wahrnehmung.

Die Wahrnehmung des neuen Menschen, normiert in dürftiger Varietät milliardenfach replizierter Burghöflein, vereinheitlicht durch Nutzerprofile, kennzeichnet sich aus durch ihre Monotonie. Sie ermöglicht Sturzfluten von gleichgerichteten Wahrnehmungen, ermöglicht virale, millionenfach geteilte Filmschnipsel von Kätzchen, ermöglicht, Daumen hoch, eine millionenfach geteilte formelle Zustimmung zu Subjekten und Sujets. Einzelne Burghöflein, mögen es die von Fußball- oder Popstars sein, können eine Beliebtheit gewinnen, die andere Burghöflein in hundert millionenfacher Anzahl, gleichsam die Bevölkerung von großen Staatswesen, zu Anhängseln werden lässt.

Aber die Gesellschaft des neuen Menschen, das war es, was wir damals in der großen Corona-Krise erkannten, trägt in sich, in ihrer gleichförmigen Selbstwahrnehmung, auch den Keim ihrer Selbstzerstörung. Sie ermöglicht den Totalitarismus einer eintönigen Wahrnehmung, die, als Sehweise von digitalen Mobs, jegliche alternative Wahrnehmung zu verschlingen vermag.

Ich wende mich deshalb nun ausdrücklich an Sie, werte Akademie, eine Institution des chinesischen Staatswesen. Damals, im Angesicht der großen Pandemie, wurde offensichtlich, dass die Gesellschaft der neuen Menschen einer äußeren Kraft, einer Macht bedarf, die vermag, die Sturzfluten einer selbstzerstörerischen einförmigen Wahrnehmung einzudämmen. So wie das Maisfeld den Landwirt, die Schweinezucht ihres Züchters bedarf, äußeren Kräften, die im Angesicht von zerstörerische Pflanzenkrankheiten, von Zucht bedrohenden Bakterien bändigend eingreifen können, mit Pestiziden und Antibiotika Seuchen verhindern, so bedarf auch die neue Gesellschaft einer Macht, die der reaktionären Triebkraft von digitalen Mobs, seien diese nun lammfromm oder brutal, zu entgegnen weiß.

Es war das chinesische Staatswesen, das erkannte, dass die Seuche der sich milliardenfach verbreitenden Handtelefone und Burghöflein, gleichwohl sie es war, die erst die zerstörerische Wahrnehmung von Massen Realität werden ließ, auch die Möglichkeit barg, die Wahrnehmung der Menschen zu kontrollieren und zu steuern. Die Teufels-Telefone konnten nun unter der Aufsicht eines gleichsam gütigen Landwirts, eines wohlwollenden Züchters, sich tatsächlich zu Telefonen Jesus’ entwickeln. Nämlich in der prüfenden Hand einer vernünftigen Macht, die es vermochte, die Wahrnehmung der Menschen trefflich, zunächst durch die damals aufkommenden Corona Applikationen, zu steuern. Die wohlwollende Macht Chinas war es, die vor fünf Jahren begann, Abstands- und Zugangsregeln zu administrieren, die, kurzum, den Verkehr zwischen den Menschen zu ihrem eigenen Besten zu regeln anfing. Auf das wir unserem Ziel, dem Aufbau einer harmonischen Gesellschaft der neuen Menschen näher kommen.

Vielleicht lässt sich schon jetzt, nach fünfjähriger Frist, feststellen, dass wir im Großen und Ganzen erreicht haben, was wir erreichen wollten. Bin ich schon geworden, der neue Mensch, so vermag ich nicht zu sagen wann genau dieses geschah. Es kommt noch vor, dass ich meine Affin, meine dressierte Schimpansin von einst vermisse, vermisse unsere gemeinsame Welt. Es ist üblich geworden, sich Menschen gleichsam wie Blumen zu pflücken und gleichermaßen gepflückt zu werden, und sich gegenseitig, mit hängenden Köpfen, zuzusehen, beim Verwelken, Vergehen … Zeit, ein frisches Gewächs sich zu pflücken. Ja, noch leiste ich sie mir, Tinder-Treffen, doch immer seltener mag ich sie ertragen, die Phalanx schön gefilterter Gesichter, die Parade monotoner Kussmünder und Augenaufschläge, vor immer gleichem, thailändischem Hintergrunde. So bin ich denn weder zufrieden, noch kann ich klagen. Im Übrigen will ich keines Menschen Urteil, ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Damen und Herren von der Akademie, habe ich nur berichtet.