Beschleunigungsfalle: Wenn Städte dem Tempo nicht standhalten

Seite 3: Wie Stadtentwicklung neu begriffen werden muss

Was umgekehrt bedeutet, dass man Urbanismus – mehr als bisher – als vielschichtiges und wechselseitig verknüpftes Gebilde begreifen muss.

Bei einer sektoralen Optimierung geraten die oft durch komplexe Rückkopplungs- oder Kumulierungseffekte verstärkten Auswirkungen auf die Stadtentwicklung aus dem Blickfeld.

Allzu oft werden Wirkungsgrad und Nachhaltigkeit einzelner Maßnahmen durch die Nebenwirkungen anderer Politikbereiche wie z.B. der Steuerpolitik, der Wirtschaftsförderung, der Sozialpolitik oder diverser Umweltmaßnahmen beeinträchtigt: Gewissermaßen "Kollateralschäden" des Umstandes, dass viele Programme weithin "raumblind" sind, weil sie einen konkreten Gebietsbezug ausblenden, weil territoriale Kategorien für sie nicht aktiv existieren.

Das klassische Planungsverständnis muss auf den Prüfstand

Auch in zeitlicher Hinsicht wäre das klassische Planungsverständnis auf den Prüfstand zu stellen: Traditionell wird zunächst ein Ergebnis bzw. ein Produkt formuliert, um im zweiten Schritt zu überlegen, wie dieses erreicht werden kann.

Vielleicht wäre dieses Verhältnis heute umzudrehen: Als Frage, wie eine Entwicklungsdynamik entfaltet werden kann, ohne dass ein idealer Endzustand antizipiert und (vorschnell) fixiert wird.

Temporäre Nutzungen

Temporäre Nutzungen sind als Korrektiv und Komplementär eines (wie auch immer gearteten) verbindlichen Masterplans zu verstehen.

Sie gehen vom Kontext und vom aktuellen Zustand statt von einem fernen Ziel aus, sie versuchen Bestehendes zu verwenden, statt alles neu zu erfinden, sie kümmern sich um die kleinen Orte und kurzen Zeiträume sowie die Zustände zu verschiedenen Zeitpunkten.

Damit reagieren sie in gewisser Weise auf jenes Dilemma.

Der Kulturtheoretiker Lucius Burckhardt hat das Dilemma urbanistischer Interventionen als "ein Zuteilen von Bequemlichkeiten und von Leiden" beschrieben. "Alles was Stadtplanung plant, bringt irgendwelchen Leuten Vorteile und anderen Nachteile."

Er hält die damit einhergehenden Probleme für eigentlich nicht lösbar – und zwar deshalb, weil sie durchsetzt seien von Leidenszuteilungen. "Bei Problemen gibt es keine beste und endgültige Lösung. Es gibt nur Möglichkeiten, wie sich die Gesellschaft für eine Weile einigermaßen gut durchwursteln kann."5

Temporarität kann also auch heißen, die Richtigkeit sofortiger Intervention in Zweifel zu ziehen. Häufig braucht es Geduld, eine konsolidierte Abwartehaltung, den berühmten "langen Atem", wenn man mit bestimmten Problemsituationen in der Stadt umgehen will.

Selbst in der drängenden Ökonomie der Zeit schwingt – in einer Art gegenläufigen Pendelschwung – die Ahnung davon mit, dass die Beständigkeit der gewohnten Räume um die Menschen herum das Aushalten von sozialen und anderen Veränderung abfedert, wenn nicht gar ermöglicht.

Gleichwohl muss man anerkennen, dass eine Stadt nur dann lebendig ist, wenn man darauf hoffen darf, dass nicht alles nach Plan verläuft. Denn die tatsächlich urbane Stadt lebt wesentlich von der beständigen Erwartung, dass alles, was ist, auch anders sein könnte.