Bestimmung der Zeit aus dem Schattenwinkel auf einem Foto

Warum die Berechnung von Horst Käsmacher nicht stimmen kann

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Eines vorweg: Auch ich halte die hier entstandene Diskussion um die Uhrzeit eines Fotos nicht für zielführend. Es gibt im Moment gefühlt hundert wichtigere Themen, zum Beispiel das für den Samstag verhängte Demonstrationsverbot bei gleichzeitiger Zulassung der Gegendemonstrationen, was in dieser Konstellation voraussichtlich nicht zur Deeskalation der zu erwartenden Lage beitragen wird. Wenn allerdings anhand einer fehlerhaften Beweisführung Massenmedien der Lüge bezichtigt werden sollen, wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.

Horst Käsmacher: Berechnung des Schattenwinkels auf einem Foto
Horst Käsmacher: Berechnung des Schattenwinkels auf einem Foto (II). Antwort auf die Kritik an meinem Artikel

Die folgende Beweisführung stützt sich auf einfache Schattenstab-Mathematik. Wir benötigen dafür zwei Parameter, welche die Internetseite Sonnenverlauf.de ausgibt, wenn wir Ort und Zeit (UTC+2 = MESZ) festlegen. Für den Sonnenstand in Bezug auf die Ausrichtung der Straße muss deren Ausrichtung berücksichtigt werden. Die von Norden kommende Senkrechte auf die Straße zeigt nach Süden und ganz leicht nach Osten. Bei einem Sonnenstand von 174° fällt die Sonne genau senkrecht auf die Straße ein. Mittags (13:12:54, Sonnenstand 180°, Abbildung 1) kommt sie, von der Siegessäule in Richtung Brandenburger Tor gesehen, also schon leicht von hinten (6°). Deshalb muss man 180° - 6° = 174° vom Sonnenstand abziehen, um den Einstrahlwinkel zur Straße zu ermitteln.

Abbildung 1: Sonnenstand 180° um 13:13 Uhr, von der Siegessäule entlang der Straße des 17. Juni gesehen, scheint die Sonne fast von der Seite und 6° von hinten in die Szenerie.

Die Sonnenhöhe ist von der Blickrichtung unabhängig und bestimmt die momentane Schattenlänge, die auf der Sonnenverlauf.de-Seite ebenfalls angegeben wird. Wenn man die Objekthöhe bei 1.0 m belässt, erhält man mit der angegebenen Schattenlänge [m] direkt den Verlängerungsfaktor des Schattens in Bezug auf die Höhe des Schattenstabs.

Damit haben wir bereits alle relevanten Daten beisammen, die wir für die Bestimmung der Schattenwinkels unter senkrechtem Einblick (von oben auf den Schattenstab) benötigen. Die folgenden Formeln ergeben die Längs- und Querkomponente des Schattens bezüglich der Straße:

Lquer = Schattenlänge · cos(Sonnenrichtung - 174°)

Llängs = Schattenlänge · sin(Sonnenrichtung - 174°)

Für die Bestimmung der zu erwartenden Schattenlängen auf dem Foto muss nun noch die Perspektive berücksichtigt werden, unter welcher das Bild aufgenommen wurde. Dies ist notwendig, da man in dem für den ursprünglichen Beweis genutzten Pressefoto eben nicht senkrecht von oben auf die Szenerie schaut, sondern unter einem relativ flachen Winkel von hinten. Längskomponenten auf dem Boden werden wegen des flachen Einfallswinkels gestaucht erwartet. Querkomponenten werden dagegen nicht gestaucht, da in diesem Fall der Einblickwinkel senkrecht zur Koordinatenrichtung ist.

Veranschaulicht wird die Längsstauchung in Abbildung 2 durch eine Skizze, die von der Seite auf die Straße schaut. Der hellblaue Pfeil und die dunkelblaue Linie auf dem Boden erscheinen im Bild gleich ausgedehnt. In der Realität sind sie jedoch deutlich unterschiedlich lang. Die Längskomponente erscheint im Bild somit gestaucht.

Abbildung 2: Perspektivische Verkürzung: Der hellblaue Pfeil und die dunkelblaue Linie auf dem Boden erscheinen im Bild gleich ausgedehnt. In der Realität sind sie jedoch deutlich unterschiedlich lang. Die Skizze ist nicht maßstabsgetreu und dient der Veranschaulichung.

Der Stauchungsfaktor in Längsrichtung kann auf mehrere Arten errechnet werden. Eine Möglichkeit besteht darin, die Objekthöhe durch die Länge einer längsgerichteten Straßenstruktur zu teilen, die auf dem Bild gleich lang zu sein scheint. Wenn dagegen nur der Blickwinkel auf die Straße (gegen die Straßenoberfläche) bekannt ist, ermittelt man den Stauchungsfaktor über die Gleichung

Stauchungsfaktor = tan(Blickwinkel).

Wenn schließlich die Höhe des Aussichtspunkts und die Entfernung zum Bildausschnitt bekannt sind, lässt sich der Stauchungsfaktor mit Hilfe des Strahlensatzes ermitteln. Man schaue dafür wieder in Abbildung 2 nach: Das Verhältnis der Länge des Objektes zu einer gleichlang erscheinenden Längsstruktur auf der Straße ist gleich dem Verhältnis der Höhe des Aussichtspunktes zum Abstand des Bildausschnittes vom Aussichtspunkt.

Im Folgenden soll für die erste und die letzte Bestimmungsmöglichkeit jeweils ein Beispiel präsentiert werden.

Für den Vergleich der Objektlängen wurde in Abbildung 3 ein grünes Quadrat in einen (im ersten Käsmacher-Artikel verwendeten) Bildausschnitt gesetzt. Die Fahrbahnbreite beträgt an dieser Stelle 3,10 m, das Quadrat ist in der Querkomponente etwas kleiner als die Fahrbahnbreite eingezeichnet und deckt in dieser Richtung ca. 3 m ab. In der Längsrichtung dagegen werden drei Striche und zwei Lücken der Fahrbahnmarkierungen abgedeckt.

Jetzt muss man nur noch ermitteln, wie lang diese Strukturen sind. Hier findet man eine Google-Karte, die senkrecht von oben auf die Straße schaut. Mithilfe des Maßstabes ermittelt man, dass drei Striche und zwei Lücken zusammen ziemlich genau 15 Meter lang sind, ein Strich ist demnach 3 Meter lang. Das deckt sich mit Abschnitt 2, §5 der Bodenmarkierungsverordnung, die folgendes angibt: "In Ortsgebieten und vor Kreuzungen hat die Länge des Striches sowie der Unterbrechung einer Leitlinie je 3 m zu betragen." Die Längsrichtung der Straße erscheint damit im Verhältnis 3:15 bzw. auf ein Fünftel gestaucht.

Abbildung 3: Das grüne Quadrat deckt in der Querkomponente 3 Meter ab (Fahrbahnbreite 3,10 m). In der Längskomponente sind jedoch 3 Fahrbahnmarkierungen und zwei Lücken enthalten, es deckt ca. 15 Meter Fahrbahnlänge ab. Die Fahrbahn ist somit in Längsrichtung auf ein Fünftel perspektivisch gestaucht.

Die Bestimmung mithilfe des Strahlensatzes gelingt, wenn man die Höhe der Aussichtsplattform der Siegessäule (ca. 52m aus Brusthöhe) ins Verhältnis mit der horizontalen Entfernung zur Szenerie setzt. Dabei hilft dieser Kartenausschnitt. Die in Abbildung 3 vorhandene Unterbrechung der Baumschatten findet sich auf dieser Karte unter ähnlichen Beleuchtungsbedingungen im rechten Bildteil wieder, sogar die Schattenform lässt sich wiedererkennen. Die Entfernung dieser Stelle von der Siegessäule ist laut Maßstab ca. 250 Meter. Der daraus ermittelte Stauchungsfaktor ist 52:250 bzw. ebenfalls ca. 1:5. (Personen werden übrigens auch ein klein wenig gestaucht, der Effekt beträgt bei 11° Einfallswinkel jedoch nur ca. 2% und kann hier vernachlässigt werden.)

Da Schatten ebenfalls eine Bodenstruktur darstellen, muss die Längskomponente des Schattens ebenso gestaucht sein wie die Straßenmarkierungen. Die grüne Bodenlinie in Abbildung 2 skizziert die tatsächliche Schattenlänge in Längsrichtung um 15:39 Uhr. Sie betrug zu diesem Zeitpunkt das 0,86-fache der Länge des Objekts. Die rote Bodenlinie verdeutlicht die von Käsmacher im letzten Bild eingezeichnete, von ihm erwartete Schattenlänge. Die Längskomponente des Käsmacher-Schattens reichte der Person demnach bis zu den Schultern. Ein solches Schattenbild wäre von der Siegessäule aus erst dann zu erwarten, wenn der Schatten auf der Straße ca. viermal länger wäre als die Person, die den Schatten wirft.

Tabelle 1 zeigt die Sonnenstands- und Schattenparameter für verschiedene Uhrzeiten. Mit den Werten von 15:39 Uhr ergibt sich eine erwartete Längskomponente von 0,86 · 0,2 = 0,172 der Länge der Personen. Das ist deutlich unterhalb der Knie und genau das, was die Ausschnitte auch zeigen. In der Tabelle sieht man auch, was zur vermuteten Aufnahmezeit von 13:30 Uhr geführt haben könnte - der unverkürzte Längsschatten ist zu diesem Zeitpunkt genauso lang, wie man ihn im Bild ohne Berücksichtigung der Perspektive erwarten würde ...

Tabelle 1: Sonnenstands- und Schattenparameter für verschiedene Uhrzeiten

Eine weitere Überprüfungsmöglichkeit ist die Länge der Querkomponente, für die man die perspektivische Verkürzung gar nicht benötigt. Wäre das Bild um 13:30 Uhr aufgenommen worden, müsste der Querschatten (der Rechts-Links-Anteil der Schatten) das 0.68-fache der Körperlänge betragen. Das ist mit Sicherheit nicht der Fall. Im Forum wurden verschiedene Werte zwischen 0,4 und 0,53 ermittelt, in eigenen Messungen komme ich ebenfalls auf Werte, die um 0,5 zentriert sind. Dies würde ebenfalls zu einer Aufnahmezeit von 15:39 Uhr passen.

Die in den Foren gelegentlich genannte Verzeichnung beträgt selbst für Extremweitwinkel nur wenige Prozent über das gesamte Bildfeld, was man hier für eine Vielzahl von Objektiven nachvollziehen kann. Sie steht in keinem Verhältnis zur Unterschlagung eines Korrekturfaktors von 5 und ist für kleine Bildausschnitte komplett vernachlässigbar, zumal die eingesetzte Brennweite von 35 mm als weitwinkliges Normalobjektiv gilt, bei der die Verzeichnung üblicherweise sehr gut korrigiert ist.

Anregung zum Experimentieren

Man kann die Beweisführung auch experimentell nachvollziehen, indem man ein Rechteck mit 5,1 cm Breite und 8,6 cm Höhe auf ein Blatt Papier zeichnet. Für eine grobe Abschätzung kann man auch eine Visitenkarte nehmen. Man zeichne dick von links oben nach rechts unten die Diagonale ein. Diese entspricht dann dem Schattenbild eines aufrecht stehenden Objektes von 10 cm Länge um 15:39 Uhr.

Wenn man senkrecht von oben auf die Zeichnung schaut, erhält man die tatsächliche Schattenrichtung auf der Straße des 17. Juni, am 1. August um 15:39 MESZ - aber nur dann, wenn man auch auf der Straße von oben darauf schauen würde. Im Bild, das Herr Käsmacher für seinen Beweis verwendet, schauen wir jedoch flach auf die Szenerie, unter einem Einblickswinkel von nur 11°.

Man kann nun die perspektivische Verkürzung nachvollziehen, indem man ebenfalls nicht senkrecht auf das gezeichnete Rechteck schaut, sondern dieses in Längsrichtung neigt, bis der Blickwinkel ca. 11° beträgt. Während der Blickwinkel flacher wird, kann man beobachten, wie sich die scheinbare Längskomponente des Schattens verkürzt und der Schattenwinkel flacher wird.

Viel Spaß beim Experimentieren!

Der Autor ist Physiker, sein Name ist der Redaktion bekannt.