Betreutes Denken rettet die Demokratie – nicht

Seite 3: Massenpsychologie und Propaganda-Theater

Solche Vorstellungen finden sich speziell – aber nicht nur – im Umfeld der fabianischen Sozialisten, die das maximale Gemeinwohl durch eine "wissenschaftliche" Umgestaltung des Kapitalismus zu erreichen vorgaben.

Auf H.G. Wells’ Vertrauen in Propaganda, um innerhalb eines "Kulturkampfs" gegen den Konservativismus die "Bildungsmaschinerie" umzugestalten, hat Telepolis bereits hingewiesen.

Nach welchem Muster eine "wissenschaftliche" Gesellschaft dabei verfahren könnte, hat Philosoph Bertrand Russell in "The Impact of Science on Society" (1952) beschrieben – allerdings nicht, ohne auch vor dem Missbrauch durch "totalitäre" Zeitgenossen zu warnen.

Ich denke, das Thema, das politisch von größter Bedeutung sein wird, ist die Massenpsychologie. Ihre Bedeutung hat durch die Entwicklung der modernen Methoden der Propaganda enorm zugenommen. Die einflussreichste dieser Methoden ist die so genannte "Erziehung". (…)

Die Sozialpsychologen der Zukunft werden eine Reihe von Schulklassen haben, an denen sie verschiedene Methoden ausprobieren werden, um eine unerschütterliche Überzeugung zu erzeugen, dass Schnee schwarz ist. Man wird bald zu verschiedenen Ergebnissen kommen.

Erstens, dass der Einfluss des Elternhauses hinderlich ist. Zweitens, dass nicht viel getan werden kann, wenn die Indoktrination nicht vor dem zehnten Lebensjahr beginnt. Drittens, dass vertonte und wiederholt vorgetragene Verse sehr wirksam sind. Viertens, dass die Meinung, Schnee sei weiß, ein Zeichen für einen krankhaften Hang zur Exzentrik ist. Aber ich greife vor.

Es ist Sache künftiger Wissenschaftler, diese Maximen zu präzisieren und herauszufinden, wie viel es pro Kopf kostet, Kinder glauben zu lassen, Schnee sei schwarz, und wie viel weniger es kosten würde, sie glauben zu lassen, er sei dunkelgrau.

Bertrand Russell: The Impact of Science on Society, 1952

Telepolis hat im Zusammenhang mit jener "wissenschaftlichen" Überformung der Wirklichkeit ebenso bereits auf Walter Lippmann, Propaganda-Veteran und Schüler des Fabianers Graham Wallas, sowie dessen Konzept der "Pseudo-Umwelt" ("pseudo-environment") hingewiesen, das er in "Public Opinion" (1922) folgendermaßen beschreibt:

(D)ie reale Umwelt ist insgesamt zu groß, zu komplex und zu flüchtig, um sie direkt erleben zu können. Wir sind nicht in der Lage, mit so viel Subtilität, so viel Vielfalt, so vielen Permutationen und Kombinationen umzugehen. Und obwohl wir in dieser Umgebung agieren müssen, müssen wir sie nach einem einfacheren Modell rekonstruieren, bevor wir mit ihr umgehen können. (…)

Ohne irgendeine Form der Zensur ist Propaganda im eigentlichen Sinne des Wortes nicht möglich. Um Propaganda betreiben zu können, muss es eine Barriere zwischen der Öffentlichkeit und dem Ereignis geben. Der Zugang zur realen Umwelt muss eingeschränkt werden, bevor jemand eine Pseudo-Umwelt schaffen kann, die er für klug oder wünschenswert hält.

Walter Lippmann: Public Opinion

Lippmann fährt fort, das ideale Vorgehen bei der öffentlichen Meinungsformung genauer zu umreißen. Dafür nutzt er das Gleichnis eines – Theaterstücks:

Der Analyst der öffentlichen Meinung muss also damit beginnen, die Dreiecksbeziehung zwischen dem Schauplatz der Handlung, dem menschlichen Bild von diesem Schauplatz und der menschlichen Reaktion auf dieses Bild, das sich auf dem Schauplatz der Handlung abspielt, zu erkennen.

Es ist wie ein Theaterstück, das den Schauspielern durch ihre eigenen Erfahrungen nahegelegt wird, wobei sich die Handlung im wirklichen Leben der Schauspieler und nicht nur in ihren Bühnenrollen abspielt. Das bewegte Bild unterstreicht oft mit großem Geschick dieses doppelte Drama von innerem Motiv und äußerem Verhalten.

Walter Lippmann: Public Opinion

Mündigkeit ist Widerstand

Damit kehren wir zur Ausgangsfrage zurück und bemühen einen letzten Philosophen, der sich mit dem Phänomen des "betreuten Denkens", oder vielmehr: der "Erziehung zur Mündigkeit" (1963) auseinandergesetzt, darauf allerdings konträre Antworten gefunden hat: Theodor Adorno.

Seinen eigenen individuellen Grad der Mündigkeit bemesse er demnach daran,

(d)aß ich es also nach wie vor riskiere, ungedeckte Gedanken zu denken, die sonst von diesem übermächtigen Kontrollmechanismus, der da Universität heißt, den meisten Menschen schon sehr früh, vor allem in der Zeit, in der sie – wie man das so nennt – Assistenten sind, abgewöhnt werden.

Es zeigt sich nun dabei, daß die Wissenschaft selber durch diese Kontrollmechanismen in den verschiedensten Bereichen so kastriert und so steril wird, daß sie dann gleichsam dessen bedarf, was sie selber verpönt, um überhaupt sich halten zu können.

Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit – Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969

Erziehung, so folgert Adorno daraus, müsse immer "Erziehung zum Widerstand" bedeuten. Widerstand gegen eine Welt letztlich, die sich im Modus der Täuschung und Entmündigung eingerichtet hat.

Der Mechanismus der Unmündigkeit heute ist das zum Planetarischen erhobene mundus vult decipi, daß(!) die Welt betrogen sein will. Daß(!) diese Zusammenhänge allen bewußt(!) werden, könnte man vielleicht doch im Sinn einer immanenten Kritik erreichen, weil es wohl keine normale Demokratie sich leisten kann, explizit gegen eine derartige Aufklärung zu sein.

Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit – Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969

Und zwar auch dann, möchte man hinzufügen, wenn sie sich gegen antidemokratische Kräfte verteidigen muss.