Betreutes Denken rettet die Demokratie – nicht
Correctiv-Bericht zur "Remigration" belebt die demokratische Kultur. Allerdings um den Preis der Mündigkeit, die ihre Voraussetzung ist? Was heißt Aufklärung? Ein Kommentar.
Die "Gefahr für die Demokratie" ist wieder in aller Munde. Die Reportage des Faktencheck- und Medienportals Correctiv über die "Remigrations"-Konferenz in Potsdam hat es geschafft, Tausende, insbesondere junger Menschen, zu (re-)politisieren und gegen neurechte Bestrebungen auf die Straße zu bringen.
In diesem sozial-medialen Phänomen scheint auch eine neue Qualität der Nähe zwischen Information und Inszenierung auf. Und das betrifft nicht die Aufführung im Berliner Ensemble (Telepolis berichtete).
Szenen der "wehrhaften" Demokratie
Es geht hier nicht um die Frage, inwieweit die in der Correctiv-Reportage enthaltene Schlussfolgerung zutrifft, dass Teile von AfD und CDU rassenideologische Pläne zur Ausweisung deutscher Staatsbürger verfolgen. Auch nicht um die unstrittig vorhandene rechtsextreme Gesinnung von Teilen der AfD und ihrer Wähler.
Vielmehr geht es um die Entscheidung, die Enthüllung nicht als nüchternen Tatsachenbericht zu veröffentlichen – sondern in einem inszenatorischen Stil, der nahtlos an die darauffolgenden Theaterszenen anknüpfen kann.
Eine bloße Stilfrage ist es freilich nicht. Sondern eine danach, wie es um die demokratische Öffentlichkeit in Deutschland 2024 bestellt ist.
Denn ausformuliert lautet die Frage etwa folgendermaßen: Warum braucht es in der demokratischen Öffentlichkeit theatralische Instrumente, eine sozusagen autoritäre Autorenschaft (vgl. den Wortstamm von auctor und auctoritas), um "wehrhaft" zu sein?
Müssen wir eine Prise Autoritäres einstreuen, um die demokratische Gemeinschaft zu retten – oder zugespitzt: Retten wir die Mündigkeit mit "betreutem Denken"?
Eine solche Ansicht kursiert, wie nicht zu übersehen ist, und ihre Vertreter sind zahlreich. Nicht nur im aktuellen politischen Diskurs, sondern auch im historischen.
Das Ideal der Aufklärung und die neue Politisierung
Dem Ideal der Aufklärung zufolge ist das eigentliche "Korrektiv" ja der Bürger selbst. Den Ausgang aus seiner "selbstverschuldeten Unmündigkeit" bringt er nach Immanuel Kant bekanntlich zuwege, indem er den Mut aufbringt, sich seines Verstandes zu bedienen. Ohne Leitung eines anderen.
Wenn sich ein Enthüllungsbericht aber wie ein Drehbuch liest, mit szenischen Elementen gespickt ist, vielfach Beurteilungen vorwegnimmt und gleichsam in einen impliziten politischen Appell mündet – dem Verbot der AfD –, so drängt sich der Eindruck auf, die Inszenierung sei selbst ein Teil der Information und liefere die Anleitung zu ihrer Verarbeitung gleich mit.
"Das Medium ist die Botschaft", könnte man mit Marshall McLuhan auch sagen.
Emotionale Signale
Die anschließende Politisierung geschieht also nicht mehr im eigentlich aufklärerischen Sinne alleine über das individuelle kritische Räsonieren, sondern über sinnliche, emotionale Signale.
Im Jahr 2024 ist das aber im Unterschied zum Zeitalter der Aufklärung offenbar kein Problem mehr, sondern erklärtes Ziel mancher Akteure – ganz sicher das der Rechten und Rechtsextremen, aber auch das der selbsterklärten Demokraten.
Grüne: "Träger der wissenschaftlichen Erkenntnis"
Das machte die Ko-Vorsitzende der Grünen, Ricarda Lang, zuletzt in der ZDF-Sendung Markus Lanz vom 16. Januar deutlich:
Was wir als Demokratie, finde ich, ernsthaft verpasst haben, ist dem (Narrativ der Rechten) ein eigenes emotionales Angebot entgegenzusetzen: Du bist gut, weil du gebraucht wirst, du bist gut, weil du was bewegen kannst. (…) dabei geht es für mich darum, (…) an der Lebensrealität der Menschen (anzuknüpfen), und die ist auch eine emotionale. Die ist nicht immer nur rational, die ist nicht immer durch Zahlen getrieben (…)
Denn am Ende, glaube ich, müssen schon wir Grüne klarmachen: Wir machen Politik halt nicht, weil wir Dinge gut wissen und auch nicht, weil wir sie besser wissen.
Ricarda Lang, Sendung Markus Lanz vom 16. Januar 2024 (Zusammenschnitt YouTube ab 00:01:47 bzw. 00:31:10)
Wer letzteres nicht so recht glauben wollte, hatte vielleicht eine Woche zuvor den Auftritt des Parteigenossen Anton Hofreiter in der gleichen Sendung gesehen. Der ließ dort nämlich Folgendes verlauten:
Veränderung ist einfach immer was sehr, sehr Schwieriges (…) Aus einer wissenschaftlichen Erkenntnis entsteht halt auch nicht automatisch immer eine politische Handlung. Und wir Grünen sind halt diejenigen, die die wissenschaftliche Erkenntnis (…) versuch(en), in politische Veränderungen umzusetzen.
Und das verursacht natürlich massive Widerstände. (…) Und wir leben einfach in Zeiten, wo es brutalen Veränderungsdruck gibt auf ganz viele Bereiche, bedingt durch die Klimakrise, (…) das Artensterben, (…) den Aufstieg autoritärer Regime, (…) durch die Sozialen Netzwerke, die unsere Demokratie massiv unter Druck setzen und die wir noch lange nicht im Griff haben. (…)
Wenn die Grünen nicht beteiligt sind, gibt es keinen Träger der Erkenntnis im politischen Raum.
Anton Hofreiter, Sendung Markus Lanz vom 9. Januar 2024 (ab 01:08:16)
Und so wird dann ein Schuh daraus: Wer sich selbst im Besitz der "wissenschaftlichen Erkenntnis" – sprich: der indiskutablen Wahrheit – dünkt, kann vermeintlich reinen Gewissens auch solche emotionalisierenden und bevormundenden Kommunikationsstrategien wählen, die dem Ideal der Mündigkeit grundsätzlich abträglich sind.
Ob die "massiven Widerstände" einer Lebensrealität außerhalb des eigenen Blickwinkels entstammen, spielt dann eine untergeordnete Rolle.
Im politischen Wettstreit wird, besonders gerne im Vorfeld von Wahlen, eine solche "strategische Kommunikation" – sprich: Propaganda – gemeinhin akzeptiert.
Bedenklich wird es allerdings, wenn staatliche Gewalten und deren mediale Ergänzung gleiches für sich beanspruchen. Das tun sie allerdings immer häufiger. Und zwar über Ländergrenzen hinweg.
Digital Services Act: "Einpflanzung des betreuten Denkens"
So teilt Anton Hofreiter die Überzeugung, Verkünder der wissenschaftlichen Wahrheit auf Erden zu sein, mit der UN-Pressesprecherin Melissa Fleming, wie sie diese zuletzt 2022 auf dem Sustainable Development Impact Meeting des Weltwirtschaftsforums (WEF) geäußert hat.
Die Übereinstimmung mit den Vereinten Nationen und deren "Common Agenda" findet sich auch in dem Standpunkt, die Menschen "dazu ermutigen (zu müssen), einen gemeinsamen, empirisch gestützten Konsens über das öffentliche Gut von Fakten, Wissenschaft und Wissen zu entwickeln". (Telepolis berichtete jeweils.)
Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass nach dem "Great Narrative" nun "Desinformation" und die "Rückgewinnung des Vertrauens" in diesem Jahr die Schwerpunkte des WEF-Zauberbergs in Davos darstellen (Telepolis berichtete).
Schließlich beruft sich auch die EU bei ihrer Anti-Desinformations-Partnerschaft mit der Nato sowie bei der Durchsetzung des umstrittenen Digital Services Act (DSA) auf diesen Grundsatz (Telepolis berichtete auch hier ausführlich).
"Einpflanzung des betreuten Denkens"
Der ehemalige Richter und – ehemalige – Träger des Bundesverdienstkreuzes Manfred Kölsch sprach in diesem Zusammenhang am 18. Januar in der Berliner Zeitung von einer "Einpflanzung des betreuten Denkens":
Das Maß, an dem die Beurteilung als Desinformation ausgerichtet ist, wird von der Europäischen Kommission gesetzt – das aber heißt, dass politisch unliebsame Meinungen, ja wissenschaftlich argumentierte Positionen gelöscht werden können, und nicht nur das: Bei einer Einstufung als rechtswidrig drohen soziale Konsequenzen.
(Der Bürger) wird dazu gedrängt, seine Mitteilungen an die Plattformen an dem auszurichten, was in den aktuellen politischen Meinungskorridor passt. (…) Das Lebenselement freiheitlicher Grundordnung – die ständige geistige und demokratische Auseinandersetzung auch mit gegenteiligen Meinungen – wird deshalb verkümmern.
Betreutes Denken wird eingepflanzt. Mit den in dem DSA äußerst vage formulierten Generalklauseln wird auf diese Weise eine indirekte Zensur ausgeübt.
Manfred Kölsch: Richter warnt: Meinungsfreiheit in der EU in akuter Gefahr, Berliner Zeitung
Mit Blick auf die offensichtliche politische Mobilisierungskraft des viel diskutierten Correctiv-Artikels stellt sich vor allem die Frage, wie sich eine in dieser Weise kontrollierte öffentliche Sphäre auf die jüngere Generation auswirken wird – zumal jene, die als "digital natives" in eine "kuratierte" virtuelle Realität hineingeboren werden.
Vorstellungen darüber, wie eine weniger informierte als nach "wissenschaftliche Prinzipien" formierte Gesellschaft aussehen könnte, sind wesentlich älter als die aktuelle Debatte um AfD- und Agrardiesel-Verbot.
Massenpsychologie und Propaganda-Theater
Solche Vorstellungen finden sich speziell – aber nicht nur – im Umfeld der fabianischen Sozialisten, die das maximale Gemeinwohl durch eine "wissenschaftliche" Umgestaltung des Kapitalismus zu erreichen vorgaben.
Auf H.G. Wells’ Vertrauen in Propaganda, um innerhalb eines "Kulturkampfs" gegen den Konservativismus die "Bildungsmaschinerie" umzugestalten, hat Telepolis bereits hingewiesen.
Nach welchem Muster eine "wissenschaftliche" Gesellschaft dabei verfahren könnte, hat Philosoph Bertrand Russell in "The Impact of Science on Society" (1952) beschrieben – allerdings nicht, ohne auch vor dem Missbrauch durch "totalitäre" Zeitgenossen zu warnen.
Ich denke, das Thema, das politisch von größter Bedeutung sein wird, ist die Massenpsychologie. Ihre Bedeutung hat durch die Entwicklung der modernen Methoden der Propaganda enorm zugenommen. Die einflussreichste dieser Methoden ist die so genannte "Erziehung". (…)
Die Sozialpsychologen der Zukunft werden eine Reihe von Schulklassen haben, an denen sie verschiedene Methoden ausprobieren werden, um eine unerschütterliche Überzeugung zu erzeugen, dass Schnee schwarz ist. Man wird bald zu verschiedenen Ergebnissen kommen.
Erstens, dass der Einfluss des Elternhauses hinderlich ist. Zweitens, dass nicht viel getan werden kann, wenn die Indoktrination nicht vor dem zehnten Lebensjahr beginnt. Drittens, dass vertonte und wiederholt vorgetragene Verse sehr wirksam sind. Viertens, dass die Meinung, Schnee sei weiß, ein Zeichen für einen krankhaften Hang zur Exzentrik ist. Aber ich greife vor.
Es ist Sache künftiger Wissenschaftler, diese Maximen zu präzisieren und herauszufinden, wie viel es pro Kopf kostet, Kinder glauben zu lassen, Schnee sei schwarz, und wie viel weniger es kosten würde, sie glauben zu lassen, er sei dunkelgrau.
Bertrand Russell: The Impact of Science on Society, 1952
Telepolis hat im Zusammenhang mit jener "wissenschaftlichen" Überformung der Wirklichkeit ebenso bereits auf Walter Lippmann, Propaganda-Veteran und Schüler des Fabianers Graham Wallas, sowie dessen Konzept der "Pseudo-Umwelt" ("pseudo-environment") hingewiesen, das er in "Public Opinion" (1922) folgendermaßen beschreibt:
(D)ie reale Umwelt ist insgesamt zu groß, zu komplex und zu flüchtig, um sie direkt erleben zu können. Wir sind nicht in der Lage, mit so viel Subtilität, so viel Vielfalt, so vielen Permutationen und Kombinationen umzugehen. Und obwohl wir in dieser Umgebung agieren müssen, müssen wir sie nach einem einfacheren Modell rekonstruieren, bevor wir mit ihr umgehen können. (…)
Ohne irgendeine Form der Zensur ist Propaganda im eigentlichen Sinne des Wortes nicht möglich. Um Propaganda betreiben zu können, muss es eine Barriere zwischen der Öffentlichkeit und dem Ereignis geben. Der Zugang zur realen Umwelt muss eingeschränkt werden, bevor jemand eine Pseudo-Umwelt schaffen kann, die er für klug oder wünschenswert hält.
Walter Lippmann: Public Opinion
Lippmann fährt fort, das ideale Vorgehen bei der öffentlichen Meinungsformung genauer zu umreißen. Dafür nutzt er das Gleichnis eines – Theaterstücks:
Der Analyst der öffentlichen Meinung muss also damit beginnen, die Dreiecksbeziehung zwischen dem Schauplatz der Handlung, dem menschlichen Bild von diesem Schauplatz und der menschlichen Reaktion auf dieses Bild, das sich auf dem Schauplatz der Handlung abspielt, zu erkennen.
Es ist wie ein Theaterstück, das den Schauspielern durch ihre eigenen Erfahrungen nahegelegt wird, wobei sich die Handlung im wirklichen Leben der Schauspieler und nicht nur in ihren Bühnenrollen abspielt. Das bewegte Bild unterstreicht oft mit großem Geschick dieses doppelte Drama von innerem Motiv und äußerem Verhalten.
Walter Lippmann: Public Opinion
Mündigkeit ist Widerstand
Damit kehren wir zur Ausgangsfrage zurück und bemühen einen letzten Philosophen, der sich mit dem Phänomen des "betreuten Denkens", oder vielmehr: der "Erziehung zur Mündigkeit" (1963) auseinandergesetzt, darauf allerdings konträre Antworten gefunden hat: Theodor Adorno.
Seinen eigenen individuellen Grad der Mündigkeit bemesse er demnach daran,
(d)aß ich es also nach wie vor riskiere, ungedeckte Gedanken zu denken, die sonst von diesem übermächtigen Kontrollmechanismus, der da Universität heißt, den meisten Menschen schon sehr früh, vor allem in der Zeit, in der sie – wie man das so nennt – Assistenten sind, abgewöhnt werden.
Es zeigt sich nun dabei, daß die Wissenschaft selber durch diese Kontrollmechanismen in den verschiedensten Bereichen so kastriert und so steril wird, daß sie dann gleichsam dessen bedarf, was sie selber verpönt, um überhaupt sich halten zu können.
Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit – Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969
Erziehung, so folgert Adorno daraus, müsse immer "Erziehung zum Widerstand" bedeuten. Widerstand gegen eine Welt letztlich, die sich im Modus der Täuschung und Entmündigung eingerichtet hat.
Der Mechanismus der Unmündigkeit heute ist das zum Planetarischen erhobene mundus vult decipi, daß(!) die Welt betrogen sein will. Daß(!) diese Zusammenhänge allen bewußt(!) werden, könnte man vielleicht doch im Sinn einer immanenten Kritik erreichen, weil es wohl keine normale Demokratie sich leisten kann, explizit gegen eine derartige Aufklärung zu sein.
Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit – Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969
Und zwar auch dann, möchte man hinzufügen, wenn sie sich gegen antidemokratische Kräfte verteidigen muss.