Mit Nato und EU gegen Desinformation – und gegen die Bürger?

Kanzler Scholz beim Nato-Treffen, 29. Juni 2022. Im Vordergrund: Nato-Generalsekretär Stoltenberg. Bild: Weißes Haus

Was die Nationale Sicherheitsstrategie bedeutet und was eine hybride Toolbox ist. Und warum aus dem Papier H.G. Wells’ New World Order widerhallt. Ein Debattenbeitrag zur neuen Angst vor dem Souverän.

Politische Beobachter und Verantwortungsträger wundern sich: Warum feiert die rechtspopulistische AfD Erfolg um Erfolg? Zumal unter Leuten, die von einer neoliberalen oder gar rechtsextremen Agenda kein Stück weit profitieren würden? Man kann darauf eine sehr einfache Antwort geben.

In Zeiten, in denen "besorgter Bürger" polemisch als Schmähwort verwendet wird, will die AfD den Eindruck erwecken, als sei sie die einzige Partei, die den Wählern politisches Obdach gewährt, die ihren Status als souveräner Staatsbürger bedroht sehen. Und das sind bedauerlicherweise nicht wenige.

Dabei geht es sich nicht nur um identitäre oder irrationale Ängste, wie der politische Mainstream glauben (machen) möchte, sondern auch um das ureigene bürgerliche Recht, oder besser: die Pflicht, den Staatsvertretern auf Zeit als demokratisches Kollektiv und Korrektiv gegenüberzutreten. Aber wehe dem, der seine Pflicht wahrnehmen will?

Denn es sind auch Zeiten, in denen Politiker nicht interessiert, "was ihre Wähler denken". Zeiten, in denen Freiheit "Floskel" oder gar "Perversion" ist. Zeiten, in denen sich "der Staat", mit dem die Regierenden sich allzu gerne fälschlicherweise identifizieren, scheinbar gegen seine Bürger schützen muss, statt die Bürger gegen Übergriffe des Staats. Die Zeiten des "domestischen Terrorismus" und der "Delegitimierung".

Wie sich Zeiten doch ändern können.

Demokratie als Sicherheitsrisiko

Vor einem guten Jahrzehnt predigte Hillary Clinton, Spitzenpolitikerin der Demokraten, noch die frohe Botschaft von "Internet freedom" und dem "free flow of information". Mit Twitter und Facebook war damals noch die Hoffnung verbunden, dass sie "autoritäre Regime" in Teheran, Tunesien und anderswo stürzen können. Freiheit war da keine Floskel. Oder doch? Aber das ist ja auch schon so lange her.

Die Proteste in Weißrussland begannen 2020. Im strategisch umbenannten "Belarus" wurde der russische Chat-Dienst Telegram als Revolutionsmittel der Wahl gepriesen. Komisch, dass derselbe Messenger in Deutschland später mit der – Floskel? – "Gefahr für die Demokratie" diskreditiert wurde. Aber gut, der hier gerade verlinkte Autor ist ja dann auch konsequenterweise in den Staatsdienst gewechselt.

Die Arbeit an der Zensur subversiver, oder auch: lästiger, Inhalte ist auch in der westlichen Hemisphäre längst in Gang. Der Digital- und Wirtschaftskommissar der EU, Thierry Breton, hat die internationale Gemeinschaft kürzlich mit der Drohung konfrontiert, einzelne Soziale Medien zu sperren, sollten deren Betreiber bei sozialen Unruhen nicht gegen rechtswidrige Inhalte vorgehen.

In den USA haben die Desinformation-Wächter einen herben Rückschlag erlitten, als ein Richter im Bundesstaat Missouri die Einmischung von Behörden und Geheimdiensten in den öffentlichen Diskurs (nach dem Vorbild etwa der Twitter-Files) für verfassungswidrig erklärte.

Hillary Clinton hat jene Ambivalenz zwischen Sicherheitsrisiko und demokratischer Ermächtigung schon 2010 treffend in Worte gekleidet:

Dieselben Netzwerke, die helfen, Freiheitsbewegungen zu organisieren, ermöglichen es auch al-Qaida, Hass zu verbreiten und zu Gewalt gegen Unschuldige aufzurufen.

Und Technologien, die das Potenzial haben, den Zugang zur Regierung zu öffnen und die Transparenz zu fördern, können auch von Regierungen missbraucht werden, um abweichende Meinungen zu unterdrücken und Menschenrechte zu verweigern.

Hillary Clinton, Bemerkungen zur Internet-Freiheit

Und mit dieser Chimäre von der Demokratie als Sicherheitsrisiko sind wir beim Thema: die neue Sicherheitsstrategie der Bundesregierung, Erstveröffentlichung am 14. Juni 2023.

Enge Abstimmung von Nato und EU

In besagter Strategie heißt es:

Im Sinne einer Integrierten Sicherheit müssen wir (...) Angriffen auf die Integrität demokratischer Willensbildungsprozesse und einer systematischen Unterwanderung unserer offenen Gesellschaften und liberalen Demokratien entgegenwirken.

Nationale Sicherheitsstrategie

Dass die Sicherheitsstrategie vor transatlantischen Bekenntnissen und der Unterordnung unter die geopolitischen Ziele der Vereinigten Staaten trieft, dürfte niemandem verborgen geblieben sein. Und so wundert es vielleicht auch nicht, wenn im Kampf gegen jene Angriffe einer engen Waffenbruderschaft mit der Nato das Wort geredet wird:

Die Bundesregierung wird die bestehenden Mechanismen und Strukturen zur Abwehr hybrider Bedrohungen in EU und NATO, in G7 und OSZE gezielt nutzen und fortentwickeln; dazu zählen die weitere Ausgestaltung der im Strategischen Kompass der EU vereinbarten Hybrid Toolbox und der Ausbau der NATO-EU-Zusammenarbeit in diesem Bereich.

Nationale Sicherheitsstrategie (Hervorhebung d. Verf.)

Begriffsbestimmung: Was heißt hier "hybrid"?

Über hybride Kriegsführung im Ukraine-Konflikt – allerdings in dem Falle auf Nato-Seite – hat Telepolis bereits berichtet. Trotzdem wollen wir der vorliegenden Analyse noch eine Definition "hybrider Bedrohungen" voranstellen, die das eigens darauf abgestellte European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats (Hybrid CoE) aus Helsinki liefert:

Der Begriff "hybride Bedrohung" bezieht sich auf eine von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren durchgeführte Aktion, deren Absicht es ist, ein Ziel zu untergraben oder zu schädigen, indem die Entscheidungsfindung auf lokaler, regionaler, staatlicher oder institutioneller Ebene beeinflusst wird. […]

Die Aktivitäten können z.B. im politischen, wirtschaftlichen, militärischen, zivilen oder Informationsbereich stattfinden. Sie werden mit einer breiten Palette von Mitteln durchgeführt und sind so konzipiert, dass sie nicht entdeckt und zugeordnet werden können.

European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats, Hybride Bedrohungen als Konzept (Hervorhebung d. Verf.)

Auch dem "Strategischen Kompass" der EU wurde auf Telepolis bereits einige Aufmerksamkeit zuteil. Der darin enthaltene Abschnitt zum hybriden Werkzeugkasten – eine Metapher (oder: Floskel?), die bereits in der Corona-Krise weidlich genutzt wurde – liest sich folgendermaßen:

Dieser Werkzeugkasten sollte einen Rahmen für eine koordinierte Reaktion auf hybride Kampagnen bilden, von denen die EU und ihre Mitgliedstaaten betroffen sind, und sollte beispielsweise Präventiv-, Kooperations-, Stabilisierungs-, Restriktions- und Wiederherstellungsmaßnahmen umfassen. (...)

Unsere Reaktion erfordert gegebenenfalls die vollständige Mobilisierung aller einschlägigen zivilen und militärischen Instrumente, die sich aus externen und internen Politikbereichen ergeben. (...) Wir werden für Synergien sorgen und weitere Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit der Nato bei der Bekämpfung hybrider Bedrohungen prüfen.

Europäischer Rat: Ein Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidigung

Strategische Kommunikation

Wer Konkreteres zum Werkzeugkasten vermisst, wird beim niederländischen Thinktank Clingendael fündig. Nach eigener Beschreibung:

eine unabhängige Denkfabrik und Akademie für internationale Angelegenheiten, die zu einer sicheren, nachhaltigen und gerechten Welt beitragen will.

Website von Clingendael

Fremden Beschreibungen zufolge: Eine Gruppe mit engen Verbindungen zu Militär- und Geheimdienstkreisen, die mit dem dubiosen Institute for Statecraft aus dem UK zusammenarbeitet und sich deshalb 2018 im Zuge eines Leaks auf der Liste der NGOs fand, die an der nicht minder dubiosen Integrity Initiative teilgenommen hatten.

Diese Initiative diente – nach Angaben des kontroversen schottischen Menschenrechtsaktivisten Craig Murray – dazu, "Desinformation gegen Russland und die Friedensbewegung" unter die europäische Bevölkerung zu bringen. Auf der Liste fand sich auch das transatlantische Zentrum Liberale Moderne der Grünen Ralf Fücks und Marieluise Beck.

Zu den Zielen der Nato bekennt sich Clingendael zwar öffentlich, bei den zahlreichen Diskussionen über den Umgang der EU mit Desinformation beruft man sich allerdings auch gerne einmal auf die berüchtigte Chatham House Rule.

Das verbindende Interesse zwischen EU und Nato erkennt das Institut im Kampf gegen "die Bedrohung durch gesellschaftliche Probleme, die mit der Verbreitung von falschen Informationen zusammenhängen".

Das ist ein Teil, aber nicht alles von dem, was sich unter dem Begriff der "strategischen Kommunikation" fassen lässt – einer Disziplin, in der etwa auch der vorgebliche Nordstream-Experte Oliver Alexander geschult ist.