Mit Nato und EU gegen Desinformation – und gegen die Bürger?

Seite 3: Wahrheit, zentral verwaltet?

In einem aktuell rege zitierten UN-Dokument, "Our Common Agenda", auf das sich bekanntlich auch China und Russland berufen, argumentieren die UN mit der Fiktion eines wissenschaftlichen Konsenses, der aus gutem Grund bereits von verschiedener Seite als zutiefst wissenschaftsfeindlich kritisiert wurde:

Die Fähigkeit, Desinformationen im großen Stil zu verbreiten und wissenschaftlich gesicherte Fakten zu untergraben, ist eine existenzielle Gefahr für die Menschheit. Während wir das Recht auf freie Meinungsäußerung überall energisch verteidigen, müssen wir die Gesellschaften auch dazu ermutigen, einen gemeinsamen, empirisch gestützten Konsens über das öffentliche Gut von Fakten, Wissenschaft und Wissen zu entwickeln.

Vereinte Nationen, Our Common Agenda (Hervorhebung d. Verf.)

Wer aber, fragt man sich, etabliert diesen Konsens?

Die Antwort hat UN-Pressesprecherin Melissa Fleming 2022 auf dem Sustainable Development Impact Meeting des Weltwirtschaftsforums – strategischer Partner der UN – bereits gegeben: Die UN selbst.

Wir werden viel proaktiver. Wissen Sie, wir sind im Besitz der Wissenschaft, und wir denken, dass die Welt sie kennen sollte. Und die Plattformen genauso, aber es ist eine riesige Herausforderung, bei der sich meiner Meinung nach alle Sektoren der Gesellschaft engagieren sollten.

Melissa Fleming (Hervorhebung d. Verf.)

Im Besitz der letztgültigen Wahrheit, die sich so oft in der Geschichte als Trugschluss entpuppt hat, lässt sich gut strategisch kommunizieren. Die Frage ist: Warum muss man sich der Mittel der Propaganda bedienen, wenn es sich nur um eine Einsicht in die Notwendigkeit handelt?

Ist das Konzept des "mündigen Bürgers" vielleicht nur eine überkommene und fortschrittsfeindliche Ideologie, die eine bessere Welt an ihrem Entstehen hindert? Sind Technokratie und Totalitarismus nur Begriffe, mit denen der Rückständige um sich wirft, weil er seinen Blick nicht in die Zukunft richten will?

UN-Vordenker H.G. Wells forderte "aufgeklärte Nazis"

Einer, der diese Fragen mutmaßlich bejaht hätte, ist H.G. Wells. Der intellektuelle Patron der Vereinten Nationen hat in seinem Buch The Open Conspiracy (1928) eine pseudosozialistische Zukunft entworfen, in der eine Weltregierung ("world commonwealth") anstelle privater Eigentümer über die meisten Güter verfügt und in der sowohl die soziale als auch die biologische Umwelt nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten geordnet wird.

Ein Ansatz, den Wells in seinem späteren Werk New World Order (1940) weiter denkt und der Aldous Huxley – neben seinem Eugenik-faszinierten Bruder Julian – zur Schönen Neuen Welt (1932) inspiriert hat.

Zur Durchsetzung dieser schönen neuen Weltregierung, schrieb Wells damals, bedürfe es eines "Krieges mit der Tradition" und einer gehörigen Dosis "Propaganda":

Ihre erste Aufgabe muss die Ausarbeitung, Darstellung und Propaganda dieser gemeinsamen Idee sein, eine ständige Kampagne, um die Bildung zu revolutionieren und eine moderne Ideologie in den Köpfen der Menschen zu etablieren, und, daraus hervorgehend, die unvergleichlich größere Aufgabe der Realisierung ihrer Ideen. (…)

Aber was als Propaganda für Erwachsene beginnt, muss in einen Kulturkampf übergehen, um unsere Bildungsmaschinerie von der Reaktion und der Konservierung überholter Ideen und Haltungen für die Sache des Weltaufbaus zu gewinnen.

H.G. Wells: The Open Conspiracy

Wells machte sich keine Illusionen, was den voraussichtlich zu erwartenden Widerstand gegen jenen Kulturkampf anging. Die Einstellung, mit dem er diesem begegnete, ist mindestens radikal zu nennen:

"Ich fordere einen liberalen Faschismus", sagte er 1932 vor der Oxford Union, "für aufgeklärte Nazis [sic!]. Die Welt ist der parlamentarischen Demokratie überdrüssig. Die faschistische Partei ist Italien. Die kommunistische ist Russland. Die Faschisten des Liberalismus [!] müssen ein paralleles Ziel von weitaus größerem Ausmaß verfolgen".

Guardian, A right hook to the left

Vielleicht lohnt es sich, über einer simplen Frage zu brüten, die sich bereits bei der "strategischen Kommunikation" und den vielen Werkzeugkästen stellt, die es angeblich braucht, um eine Gesellschaft gegen ihre vermeintlichen Feinde zu schützen: Heiligt der Zweck die Mittel?