Betreutes Denken rettet die Demokratie – nicht

Immanuel Kant. Bild: Wellcome Images / CC BY 4.0 Deed

Correctiv-Bericht zur "Remigration" belebt die demokratische Kultur. Allerdings um den Preis der Mündigkeit, die ihre Voraussetzung ist? Was heißt Aufklärung? Ein Kommentar.

Die "Gefahr für die Demokratie" ist wieder in aller Munde. Die Reportage des Faktencheck- und Medienportals Correctiv über die "Remigrations"-Konferenz in Potsdam hat es geschafft, Tausende, insbesondere junger Menschen, zu (re-)politisieren und gegen neurechte Bestrebungen auf die Straße zu bringen.

In diesem sozial-medialen Phänomen scheint auch eine neue Qualität der Nähe zwischen Information und Inszenierung auf. Und das betrifft nicht die Aufführung im Berliner Ensemble (Telepolis berichtete).

Szenen der "wehrhaften" Demokratie

Es geht hier nicht um die Frage, inwieweit die in der Correctiv-Reportage enthaltene Schlussfolgerung zutrifft, dass Teile von AfD und CDU rassenideologische Pläne zur Ausweisung deutscher Staatsbürger verfolgen. Auch nicht um die unstrittig vorhandene rechtsextreme Gesinnung von Teilen der AfD und ihrer Wähler.

Vielmehr geht es um die Entscheidung, die Enthüllung nicht als nüchternen Tatsachenbericht zu veröffentlichen – sondern in einem inszenatorischen Stil, der nahtlos an die darauffolgenden Theaterszenen anknüpfen kann.

Eine bloße Stilfrage ist es freilich nicht. Sondern eine danach, wie es um die demokratische Öffentlichkeit in Deutschland 2024 bestellt ist.

Denn ausformuliert lautet die Frage etwa folgendermaßen: Warum braucht es in der demokratischen Öffentlichkeit theatralische Instrumente, eine sozusagen autoritäre Autorenschaft (vgl. den Wortstamm von auctor und auctoritas), um "wehrhaft" zu sein?

Müssen wir eine Prise Autoritäres einstreuen, um die demokratische Gemeinschaft zu retten – oder zugespitzt: Retten wir die Mündigkeit mit "betreutem Denken"?

Eine solche Ansicht kursiert, wie nicht zu übersehen ist, und ihre Vertreter sind zahlreich. Nicht nur im aktuellen politischen Diskurs, sondern auch im historischen.

Das Ideal der Aufklärung und die neue Politisierung

Dem Ideal der Aufklärung zufolge ist das eigentliche "Korrektiv" ja der Bürger selbst. Den Ausgang aus seiner "selbstverschuldeten Unmündigkeit" bringt er nach Immanuel Kant bekanntlich zuwege, indem er den Mut aufbringt, sich seines Verstandes zu bedienen. Ohne Leitung eines anderen.

Wenn sich ein Enthüllungsbericht aber wie ein Drehbuch liest, mit szenischen Elementen gespickt ist, vielfach Beurteilungen vorwegnimmt und gleichsam in einen impliziten politischen Appell mündet – dem Verbot der AfD –, so drängt sich der Eindruck auf, die Inszenierung sei selbst ein Teil der Information und liefere die Anleitung zu ihrer Verarbeitung gleich mit.

"Das Medium ist die Botschaft", könnte man mit Marshall McLuhan auch sagen.

Emotionale Signale

Die anschließende Politisierung geschieht also nicht mehr im eigentlich aufklärerischen Sinne alleine über das individuelle kritische Räsonieren, sondern über sinnliche, emotionale Signale.

Im Jahr 2024 ist das aber im Unterschied zum Zeitalter der Aufklärung offenbar kein Problem mehr, sondern erklärtes Ziel mancher Akteure – ganz sicher das der Rechten und Rechtsextremen, aber auch das der selbsterklärten Demokraten.

Grüne: "Träger der wissenschaftlichen Erkenntnis"

Das machte die Ko-Vorsitzende der Grünen, Ricarda Lang, zuletzt in der ZDF-Sendung Markus Lanz vom 16. Januar deutlich:

Was wir als Demokratie, finde ich, ernsthaft verpasst haben, ist dem (Narrativ der Rechten) ein eigenes emotionales Angebot entgegenzusetzen: Du bist gut, weil du gebraucht wirst, du bist gut, weil du was bewegen kannst. (…) dabei geht es für mich darum, (…) an der Lebensrealität der Menschen (anzuknüpfen), und die ist auch eine emotionale. Die ist nicht immer nur rational, die ist nicht immer durch Zahlen getrieben (…)

Denn am Ende, glaube ich, müssen schon wir Grüne klarmachen: Wir machen Politik halt nicht, weil wir Dinge gut wissen und auch nicht, weil wir sie besser wissen.

Ricarda Lang, Sendung Markus Lanz vom 16. Januar 2024 (Zusammenschnitt YouTube ab 00:01:47 bzw. 00:31:10)

Wer letzteres nicht so recht glauben wollte, hatte vielleicht eine Woche zuvor den Auftritt des Parteigenossen Anton Hofreiter in der gleichen Sendung gesehen. Der ließ dort nämlich Folgendes verlauten:

Veränderung ist einfach immer was sehr, sehr Schwieriges (…) Aus einer wissenschaftlichen Erkenntnis entsteht halt auch nicht automatisch immer eine politische Handlung. Und wir Grünen sind halt diejenigen, die die wissenschaftliche Erkenntnis (…) versuch(en), in politische Veränderungen umzusetzen.

Und das verursacht natürlich massive Widerstände. (…) Und wir leben einfach in Zeiten, wo es brutalen Veränderungsdruck gibt auf ganz viele Bereiche, bedingt durch die Klimakrise, (…) das Artensterben, (…) den Aufstieg autoritärer Regime, (…) durch die Sozialen Netzwerke, die unsere Demokratie massiv unter Druck setzen und die wir noch lange nicht im Griff haben. (…)

Wenn die Grünen nicht beteiligt sind, gibt es keinen Träger der Erkenntnis im politischen Raum.

Anton Hofreiter, Sendung Markus Lanz vom 9. Januar 2024 (ab 01:08:16)

Und so wird dann ein Schuh daraus: Wer sich selbst im Besitz der "wissenschaftlichen Erkenntnis" – sprich: der indiskutablen Wahrheit – dünkt, kann vermeintlich reinen Gewissens auch solche emotionalisierenden und bevormundenden Kommunikationsstrategien wählen, die dem Ideal der Mündigkeit grundsätzlich abträglich sind.

Ob die "massiven Widerstände" einer Lebensrealität außerhalb des eigenen Blickwinkels entstammen, spielt dann eine untergeordnete Rolle.

Im politischen Wettstreit wird, besonders gerne im Vorfeld von Wahlen, eine solche "strategische Kommunikation" – sprich: Propaganda – gemeinhin akzeptiert.

Bedenklich wird es allerdings, wenn staatliche Gewalten und deren mediale Ergänzung gleiches für sich beanspruchen. Das tun sie allerdings immer häufiger. Und zwar über Ländergrenzen hinweg.