Bewegung und Parameter

Mädchen vor Fries Text: Nicht das Pergamon-Fries, sondern eine Bildstrecke an der Mauer mit zwei zufällig vorbeigehenden jungen Frauen. Alle Fotos Archiv Tom Appleton, 1985

Die Mauer nochmal, bunt - Teil 2

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Zu Teil 1: Die Mauer nochmal, bunt

Gigantische Katasrophen lassen sich schnell verwinden, wenn die Menschen in Bewegung bleiben, wenn sie in Kontakt miteinander kommen. Millionen Heimatvertriebene aus Schlesien und Ostpreußen siedelten sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den Dörfern und Städten Frankens an, von Kulmbach bis Würzburg, verheirateten sich mit den Einheimischen und waren schon wenige Jahre später kaum mehr davon zu unterscheiden.

Unbekannter Radfahrer an der Mauer, Bildergalerie mitten in der Westberliner Nachbarschaft. Alle Fotos Archiv Tom Appleton, 1985

Anders der Dreißigjährige Krieg, der in ganz Europa mindestens eine so große Katastrophe wie der Erste und Zweite Weltkrieg zusammen darstellte. Von 1914 bis 1945 waren es auch 31 Jahre, mal das bisschen "Frieden" dazwischen abgerechnet.

Als Goethe geboren wurde, 1749, waren die Folgen des großen Religionskrieges noch nicht verwunden. Auch für Schiller, geboren 1759, blieb der Dreißigjährige Krieg die große schriftstellerische Herausforderung, ihm galt seine Meisterleistung als Autor. Als Goethe seinen ersten Bestseller auf den Markt brachte, "Werther", 1774, spürte man die Folgen noch, erst bei seinem zweiten Bestseller, "Wahlverwandtschaften", 1809, lag dieser Krieg endlich überwunden in der Vergangenheit. Es brauchte also volle anderthalb Jahrhunderte, um die Katastrophe zu verwinden.

Der Zweite Weltkrieg, die ganze widerwärtige Naziperiode, die 1945 zu einem Stehenbleiben gebracht wurde, setzte sich natürlich (wenn auch schaumgebremst) in den Jahrzehnten danach weiter fort. Gerade in der real-sozialistischen DDR setzte man den Deckel auf den Topf und hielt die ganze Nazi-Geschichte weiterhin am Köcheln. So stehen heute wieder Jung- und Altnazibrigaden lebendig in der Landschaft herum, als wären sie wie die Skelette ihrer Vorfahren aus den Gräbern neu erstanden.

Werden Sie bis 2045 — also 100 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg — wie die bösen Geister, die sie sind, als lebendige Hitlergespenster in irgendeinem Faustischen Totentanz, in irgendeiner "Stalker"-schen "Zone" — untergegangen sein? Oder wird es noch bis zum Ende des Jahrhunderts weiterdauern?

Und doch, manchmal geht es schnell.

Ich war im Juni 1989 aus Wien kommend, in Berlin zu Besuch bei einem älteren jüdischen Freund aus Neuseeland. Er hatte Berlin 1938 verlassen, sehr spät, auf den letzten Drücker. Die alten Schulfreunde aus dem französischen Gymnasium, die in Berlin geblieben waren, hatten über die Jahrzehnte hinweg brieflich den Kontakt aufrecht gehalten. Sie hatten ihre alte Freundschaft nicht den Wahnvorstellungen der Nazis geopfert.

Ich fuhr mit diesen alten Freunden, alle Jahrgang 1912, durch Westberlin. "Was meint ihr," fragte ich die Berliner, "wie lange wird diese Mauer noch Bestand haben?" — "Mindestens 30 Jahre", sagten sie übereinstimmend. "Dass die einmal runterkommt, das erleben wir sicher nimmermehr."

Ein halbes Jahr später war der Spuk vorbei. Merke: Wenn die richtigen Parameter zusammen kommen, verläuft der Prozess nicht unbedingt weiter linear, sondern exponentiell.

Ich hatte es genossen, ihren alten Schulgeschichten zu lauschen. Ihr Schulkamerad Wernher von Braun wurde mit 18 von der Schule geworfen, weil er von seinen Mitschülern 500 Mark pro Person abzocken wollte, um einen raketengetriebenen Rennwagen zu bauen. Es waren Ideen wie aus "Donald Duck". Braun fand natürlich neue Freunde für seine Raketenpläne.

Mit Wernher von Brauns ehemaligem Mitschüler fuhr ich in der U-Bahn durch West-Berlin, umringt von Afro-Amerikanern der US-Army, verschleierten Frauen aus Anatolien und buntgemischten Menschen aus aller Welt. "Wie findest du das?", fragte ich meinen alten Freund. "Dich haben sie als Juden aus Deutschland rausgeschmissen, obwohl du genauso aussiehst, wie alle diese Deutschen hier. Und jetzt leben hier Menschen aus aller Welt, ganz ungehindert?"

Mein alter Freund zitierte, wie nicht anders zu erwarten, sehr zivilisiert, eine Stelle aus dem "Faust", indem er Hitler mit Mephisto verglich — als "jene Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft."

In der Realität spielte sich das Ganze natürlich weniger altersmild oder sanftmütig ab. Ich wollte 1985 in Ost-Berlin den Pergamon-Fries

betrachten, der in einem Roman-Essay von Peter Weiss beschrieben wurde. Ich hatte nur den ersten Teil des Buches gelesen, der 1975 erschienen war, und hatte keine genaue Vorstellung davon, was es mit diesem Bildwerk auf sich hatte, das im 19. Jahrhundert aus Griechenland nach Berlin verschleppt worden war.

Im Endeffekt saß ich in Ost-Berlin vor diesem Gigantoskop und hatte nicht einmal eine Fotokopie der Weiss'schen Seiten vor mir — das Buch über die Grenze in die DDR mitzubringen wäre (so glaubte ich) unmöglich gewesen. Natürlich gab es im Pergamonmuseum auch nicht etwa eine Kopie des Weiss-Textes zum Lesen vor Ort. (Auch im Buch selber gab es keine Bild-Seiten dazu.) Zuletzt blieb mir nichts anderes übrig, als einfach festzustellen, dass auch in Ost-Berlin die jungen Frauen einfach attraktiv waren. Die ganze Unterteilung der Welt, die hier stattfand, war fiktiv.

Bei der Rückkehr nach West-Berlin fragte mich ein junger Ost-Berlin Schnösel vor der Grenze, was denn das für Zigaretten wären, die ich da rauchte. "Beedies", sagte ich, "indische Zigaretten. Es ist nur ein Blatt mit etwas Tabak. Hier, ich schenke Dir die ganze Packung."

Ich erwähnte natürlich NICHT, dass die Beedies von den Stummelfingern leprakranker indischer Bettler gedreht werden. Das ist nur eine Geschichte, die verbreitet wird, um den Leuten das Beedie-Rauchen abzugewöhnen.

Als die Mauer fiel

Der Fall der Mauer war überfällig, es war ein revolutionäres Ereignis, es war der Schlussstrich unter das Experiment DDR.

Betrachtet man heute die politische Stasis der Bundesrepublik — des krankhaften geschwollenen Westdeutschlands, das sich Ost-Deutschland einverleibt hat, fühlt man sich an den Wolf im Märchen vom Rotkäppchen erinnert. Rotkäppchen und die Oma haben dem Wolf Steine in den Bauch getan und den Bauch zugenäht. Wenn der Wolf (nun von großem Durst geplagt) sich hinüber zum Brunnen schleppt, wird er von den schweren Steinen nach Vorne gezogen und muss jämmerlich im Brunnen ersaufen. Märchenhaft? Gewiss.

Aber auch die Geschichte von der Mauer war nur ein böses Märchen, erfunden von ein paar alten Arschlöchern. Denen keiner mehr hinterher jammert.

Heute in Korea ist man gerade im Begriff, eine weitere solche Mauer einzureißen. Und man versucht, den großen Störenfried Trump außen vor zu lassen. Ob das gelingen wird? Ob man aus der Geschichte der deutschen Mauer irgendetwas Nützliches lernen kann?

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