Bidens Realitätsverlust: 2024 sind die USA nicht mehr "unverzichtbar"

Seite 2: Gescheiterte "Befreiungen"

Das epische Scheitern des Afghanistankrieges in Verbindung mit den kostspieligen und verpfuschten Bemühungen zur "Befreiung" des Irak ließen Amerikas Ruf, in die Zukunft zu blicken, in Einzelteile zerfallen. Diverse andere Fehltritte machten die Behauptung zunichte, die Vereinigten Staaten besäßen eine besondere Gabe, das Kommende vorauszusehen.

Dann kam die Wahl von Donald Trump, die von den vermeintlich Eingeweihten nicht prognostiziert wurde.

Wenn man sich überhaupt an die Albright-Doktrin erinnerte, überlebte sie als eine Art Pointe – das Äquivalent zu "Mission Accomplished" oder "Wir haben ihn!"

Heute ist die Zukunft, auf die Albright 1998 zuversichtlich angespielt hatte, zu unserer eigenen unmittelbaren Vergangenheit geworden. Die Ereignisse seither haben uns dahin gebracht, wo wir heute stehen.

Globale Vorrangstellung

Sie bilden die Kulisse und den Bezugsrahmen für die Ausübung der amerikanischen Macht. Dass Biden den jetzigen Zeitpunkt gewählt hat, um die Albright-Doktrin wieder aufleben zu lassen, ist, gelinde gesagt, beunruhigend. Es lässt auf jemanden schließen, der den Bezug zur Realität verloren hat.

Albright hatte den Vereinigten Staaten die Fähigkeit zugeschrieben, zu "sehen" und damit den künftigen Verlauf der Weltgeschichte zu gestalten. Heute, wo die Fähigkeit der Nation, ihre eigene Demokratie über die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen hinaus aufrechtzuerhalten, zur Debatte steht, können wir die Fähigkeit der Biden-Regierung, über den nächsten Donnerstag hinauszusehen, infrage stellen.

Doch nehmen wir Biden beim Wort, der wirklich an die Unverzichtbarkeit Amerikas glaubt und von einer Reihe gleich gesinnter ziviler und militärischer Beamter beraten wird. Auch heute noch ist ihr kollektives Vertrauen in die globale Vorrangstellung der USA ungebrochen, so als ob die Ereignisse seit 1998 entweder nicht stattgefunden hätten oder nicht von Bedeutung wären.

Zahlreiche Herausforderungen

Heute gibt es zahlreiche Herausforderungen für die einstige Unverzichtbarkeit der Nation: der Aufstieg Chinas, der festgefahrene Konflikt in der Ukraine, die durchlässigen Grenzen, die dringende existenzielle Bedrohung durch den Klimawandel.

Doch keine stellt eine drängendere Prüfung dar als der anhaltende Krieg in Gaza. Mehr als irgendwo sonst fordern die Ereignisse hier die Vereinigten Staaten auf, ihren Anspruch auf Vorrangstellung zu bekräftigen. Und zwar jetzt und ohne Verzögerung.

Das würde bedeuten, dass die USA ihre Macht und ihren Einfluss geltend machen müssten, um diesen unseligen Krieg sofort zu beenden.

Albright peinlich berührt

Gemessen an den Taten und nicht an rhetorischen Gesten hat die Biden-Regierung jedoch genau das Gegenteil getan. Indem sie einer Seite immense Mengen an Munition zur Verfügung stellt, sorgt sie dafür, dass der Krieg fortgesetzt wird, und erleichtert das fortgesetzte Töten von Nichtkombattanten.

Mit ihrem Veto gegen die Bemühungen des UN-Sicherheitsrats, einen Waffenstillstand zu erzwingen, steht sie praktisch allein da und missachtet die Weltmeinung. US-Diplomaten reisen zwar hin und her, aber ihre Bemühungen können nur als unwirksam bezeichnet werden.

Auf einer kürzlichen Reise in den Nahen Osten bemerkte der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan: "Wir sind nicht hier, um jemandem zu sagen: 'Ihr müsst X tun, ihr müsst Y tun'". Wie das mit dem Anspruch von Unverzichtbarkeit zusammenpasst, ist unklar.

Ich vermute, dass Madeleine Albright peinlich berührt wäre. Joe Biden sollte es auch sein.

Das Interview erscheint in Kooperation mit dem US-Medium Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Andrew Bacevich ist Präsident des Quincy Institute for Responsible Statecraft und schreibt regelmäßig für TomDispatch. Sein neues Buch, das er gemeinsam mit Danny Sjursen herausgegeben hat, heißt "Paths of Dissent: Soldiers Speak Out Against America's Misguided Wars". Sein neues Buch heißt "On Shedding an Obsolete Past: Bidding Farewell to the American Century".