Bild und Spiegel retten die Deutschen vor dem Verlust der Sprachfähigkeit

Zurück in die Vergangenheit: Die beiden Verlage wollen an der Spitze der Wiederherstellung der altvertrauten Rechtschreibung stehen und das die gute deutsche Seele peinigende Chaos eines nicht durchnormierten Schreibens beenden

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Endlich geht ein Ruck durch Deutschland. Es bewegt sich etwas. Alles kann nur noch aufwärts gehen. Mit der Reformmüdigkeit in deutschen Landen, die den wirtschaftlichen Aufschwung blockiert, ist es nun vorbei, wenn endlich die Reform der Rechtschreibreform gewinnt. Schon früh hatte sich die FAZ mitsamt einigen Literaten zur avantgardistischen Speerspitze der Rückkehr zum Hergebachten gemacht. Jetzt folgen Spiegel und Bild vereint - und in der FAZ spricht man, sich als "Vorreiter" in die Vergangenheit auf die Brust klopfend - von einer "großen Koalition für die Sprache", auch die Süddeutsche erwäge, den Weg der FAZ einzuschlagen. Fast hat man schon den Eindruck, als würde da unter der Führung der FAZ eine neue KOalition der Willigen gegen das Böse zu Felde ziehen.

Das Anliegen: "Wiederherstellung einer einheitlichen deutschen Rechtschreibung." Die große Sorge scheint zu sein, dass Wildwuchs und Anarchie einkehren, die Schreckgespenster der deutschen Ordnungswut. Man hätte natürlich auch für die zunehmende Verunsicherung die am Alten klebenden Schriftsteller, Verlage und Zeitungen wie die FAZ verantwortlich machen können, die nicht bereit sind, einmal einen Schritt in die Zukunft zu machen. Man hätte auch durchaus nach vorne hin verbessern können. Aber nein, die Bewegung selbst ist das Übel, die Wiederherstellung einer gerade einmal 100 Jahre alten Rechtschreibung, die offenbar als Nonplusultra gilt, scheint das Glück zu verheißen.

Sicher, "mangelnde Akzeptanz und zunehmende Verunsicherung" haben die Einführung der letzten Rechtschreibreform begleitet und zu Vermischungen von alter und neuer Rechtschreibung geführt. Nicht nur die Angst davor, dass die Sprache wieder in freier Evolution dem Regelwerk und damit der Autorität entfliehen könnte, steckt hinter der Retterpose, die angeblich die Kinder vor Schlimmen bewahren will: Skandal ist: "Wer vor der Reform sicher schreiben konnte, macht heute Fehler." Da müssen sich also altgediente Schreiber anpassen, unmöglich! Klassisch deutsche Angst vor dem Chaos wird im Spiegel beschworen und gleichzeitig deutlich gemacht, dass die Auflösung der starren Regelbeachtung und damit der Unterwerfung unter der Autorität ein Phänomen der Zeit ist, nicht allein der Rechtschreibreform:

Im gedruckten und geschriebenen Deutsch hat sich seitdem babylonische Wirrsal ausgebreitet. Wie schon in der Mode oder in der Popmusik lautet die Parole: Anything goes. Alt und Neu bestehen nebeneinander, viele Kann- und einige Mussbestimmungen weichen die Sprachwirklichkeit auf, unzählige Varianten kursieren - niemand weiß mehr, woran er ist.

Alles ist also ganz schlimm, kein Wunder, dass es so schlecht um Deutschland steht. Es fehlt die Ordnung. Dazu werden dann auch noch von Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer AG, und Stefan Aust, Chefredakteur des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL, Kulturuntergangsstimmungen geschürt, da irgendwie die Rechtschreibreform dafür verantwortlich gemacht wird, dass die "Schreib- und Lesefähigkeit und damit die Sprachfähigkeit in diesem Land abnehmen". Eine "staatlich verordnete Legasthenie" sei dies - und "die Rückkehr zur klassischen deutschen Rechtschreibung" soll denn, so das implizite Versprechen, wohl wieder sprunghaft zur verbesserten Sprachfähigkeit führen. Dass Deutsch innerhalb Europas ziemlich isoliert dasteht, da wir als einzige noch an der Großschreibung festhalten, wird von den wackeren Rettern der Zukunft lieber auch nicht erwähnt.

Zwar tut man so, als würde der Schritt zurück in die Zukunft nicht dem Reformunwillen verdanken, sondern lediglich der "Unausgegorenheit" der Reform. Dass dies nur Scheinargument ist, mag sich schon alleine daran zeigen, dass keine Vorschläge für Neuerungen gemacht werden, sondern nur der Gang zurück ins Sprachgehege erfolgen soll, das den Älteren noch so vertraut ist und sie sich sonst heimatlos fühlen.

Auch das Argument, dass viele Schriftsteller und Verlage noch nicht mitgezogen haben, müsste nicht unbedingt für diese sprechen. Zwar gibt es noch reichlich Bücher in der alten Rechtschreibung, aber wenn man dieses Argument konsequent umsetzen würde, müsste man entweder alle Bücher vor 1901 einstampfen oder eben auch noch den Schritt weiter zurück gehen: in ein anarchisches und ungeordnetes Schreibland, in dem sich die Menschen offenbar und auch die Autoren offenbar ausreichend gut verständigen konnten, selbst wenn unterschiedlich orthografisch geschrieben wurde. Auch wenn Grass und Enzensberger über Kulturverlust klagen, so haben immerhin Goethe, Herder, Kleist, Wieland, Schiller, Novalis und Hölderlin oder Kant, Hegel oder Marx noch ganz gut ohne einheitliche Rechtschreibung leben können.

Jahrhunderte lang haben trotz Druckpresse die Menschen - und sogar die Deutschen! - auf eine einheitliche Rechtschreibung verzichten können und dennoch Literatur oder philosophische oder wissenschaftliche Texte geschrieben. Und sie wurden nicht nur gelesen, sondern auch verstanden, selbst wenn ein Wort ein wenig anders geschrieben oder ein Komma anders gesetzt wurde. Noch zur Gründung des Deutschen Reichs wurde in jeder Schule anders geschrieben, die Kultur ist nicht zusammengebrochen.

Warum also nicht auch ein Lob der Vielfalt, die Freude an der Entdeckung größerer Freiheiten oder auch eine Überlegung, wie wichtig die Rechtschreibung überhaupt ist? Möglichweise liegt der Sinn einer einheitlichen Normierung nämlich gar nicht in der "Schreib- und Lesefähigkeit und damit die Sprachfähigkeit" der Menschen begründet, sondern höchstens in der Dummheit der Maschinen, die alles genau brauchen, um nicht abzustürzen. Allerdings besteht die Hoffnung, dass auch die Maschinen einmal intelligenter, als fehlertoleranter, werden könnten. Muss also deswegen der Sprachdrill den Menschen weiter im Stil von 1901 bzw. 1902 verordnen, als im Kaiserreich die "Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis" veröffentlicht wurden? Ach, Deutschland und deine Schriftsteller und Verleger ...