Bis zum letzten Tag: Nach fast zwei Jahren liegt das schriftliche Urteil im NSU-Prozess vor

Seite 2: Der unaufgeklärte NSU-Komplex

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Zu den Rätseln des Prozesses gehört das Verhalten der Hauptangeklagten selbst. Nach zweieinhalb Jahren Schweigen hatte sich Beate Zschäpe doch zu den Vorwürfen geäußert. Allerdings belastete sie sich dadurch eher und wirkte wie die Zeugin der eigenen Anklage. Seither fragt man sich, ob hier nur eine schlechte Verteidigungsstrategie vorlag oder ob man andere Hintergründe vermuten müsse.

Dubios bleibt die Rolle von Ralf Wohlleben. Im ersten Bundestagsuntersuchungsausschuss zum NSU-Skandal hatte ein Zeuge ausgesagt, er habe als Angestellter im Bundesinnenministerium auf einer Liste des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) über V-Leute in Vorständen der NPD den Klarnamen "Wohlleben" gesehen. Wohlleben bekleidete einmal einen NPD-Vorstandsposten. Die Frage ist ungeklärt.

Bei André Eminger fielen kurz vor Schluss der Hauptverhandlung gemeinsame Versuche von Verteidigung und Bundesanwaltschaft auf, sein Verfahren abzutrennen, was ihm zugutegekommen wäre. Das Gericht gab dem zwar nicht nach, fällte im Falle Eminger dann aber ein Urteil, das zu Beifall unter Sympathisanten der Angeklagten auf der Zuschauertribüne im Gerichtssaal führte.

Nach dem Prozess wurde bekannt, dass es in Emingers Neonazigruppierung "Weiße Bruderschaft Erzgebirge" mindestens einen V-Mann des Verfassungsschutzes gab. Dessen Identität ist ungeklärt.

Zu den Aha-Erlebnissen des Prozesses zählte die Nähe von Anklagebehörde Bundesanwaltschaft und Verteidigung, die immer wieder sichtbar wurde. Eine Opferanwältin sprach in ihrem Plädoyer von "teilweiser Verbrüderung" der beiden - eigentlich antagonistischen - Prozessparteien.

Nach unbestätigten Informationen sollen sich beide Seiten nach der Urteilsverkündung sogar getroffen haben. Der Hauptkonflikt spielte sich im Gerichtssaal erstaunlicherweise zwischen Anklage und Nebenklage ab.

Der NSU-Komplex, unaufgeklärt genug, ist mit dem Prozess allein sowieso nicht zu verstehen. In Bund und Ländern tagten insgesamt 13 parlamentarische Untersuchungsausschüsse (PUA). Der letzte läuft zurzeit im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern.

In diesen Kommissionen gab es zahlreiche Hinweise auf eine Verstrickung der Sicherheitsorgane, vor allem des Verfassungsschutzes, aber auch der Polizei in den Skandal. Ihre konsequente Durchleuchtung scheiterte bisher an den Regierungen und maßgeblichen politischen Parteien, in Brandenburg beispielsweise an Rot-Rot, in Thüringen an Rot-Rot-Grün (NSU-Ausschuss: "...unser nicht erfüllbarer Untersuchungsauftrag"). Das gehört mit zur Wahrheit und zeigt vor allem deren politische Dimension.

Wie wenig die NSU-Geschichte aufgeklärt ist, zeigt ein zweites bevorstehendes Justizdatum. Noch im Laufe dieser Woche will der Generalbundesanwalt Anklage im Mordfall Lübcke erheben. Der Kasseler Regierungspräsident und CDU-Politiker Walter Lübcke war am 2. Juni 2019 vor seinem Haus erschossen worden. Der Prozess wird vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/M. stattfinden.

In dem Fall gibt es Verbindungen zum NSU-Komplex. Der mutmaßliche Mörder Stefan E. taucht in Verfassungsschutzakten zum NSU auf. Und der ehemalige Verfassungsschutzbeamte Andreas Temme, der am Tatort war, einem Internetcafé, als in Kassel Halit Yozgat erschossen wurde, war wiederum mit Stefan E. befasst gewesen.

Im Landtag von Hessen ist ein weiterer Untersuchungsausschuss in Vorbereitung, der sowohl dem Mordfall Lübcke als auch den ungeklärten Fragen zum NSU-Skandal nachgehen soll. Seine Einsetzung ist für Mai geplant, wenn der wegen Corona ausgesetzte Parlamentsbetrieb wieder aufgenommen werden soll.

Weiterhin offen sind bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe ein allgemeines Sammelverfahren "NSU/unbekannt" sowie neun konkrete Ermittlungsverfahren gegen neun Personen, die der Unterstützung des NSU-Kerntrios beschuldigt werden.

Darunter die Frau des Angeklagten Eminger, der ehemalige Blood-and-Honour-Kader Jan W., der Hauptmieter der Zwickauer Wohnung des Trios Matthias D., der Jenaer Neonazikopf André K. und mit Thomas St. (heute Thomas M.), der dem Trio Sprengstoff lieferte und ihm nach der Flucht in Chemnitz den ersten Unterschlupf gab, ein ehemaliger V-Mann des Landeskriminalamtes Berlin.