Bis zum letzten Tag: Nach fast zwei Jahren liegt das schriftliche Urteil im NSU-Prozess vor

Warum der Staatsschutzsenat des OLG München seine Frist komplett ausgeschöpft hat, ist vielen Beobachtern schleierhaft - Zschäpe bleibt in Haft und Wohlleben bleibt frei

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Praktisch bis zum letzten Tag hat der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts (OLG) München die Frist ausgeschöpft, um seine schriftliche Begründung der Urteile aus dem NSU-Prozess abzugeben. Am 11. Juli 2018 war mit der mündlichen Verkündung der Urteile die fünf Jahre dauernde Hauptverhandlung zu Ende gegangen (NSU: Nach dem Urteil ist vor der Aufklärung).

Spätestens am 22. April 2020, exakt 93 Wochen danach, musste nach der Strafprozessordnung die schriftliche Fassung vorliegen. Das geschah einen Tag früher, am 21. April. Das Dokument umfasst laut Pressemitteilung des Gerichtes 3.025 Seiten. Hinzu kommen über 40 Ordner mit den Rahmenprotokollen der Hauptverhandlung und einer fünfstelligen Zahl von Anträgen.

Warum das Gericht unter Vorsitz von Manfred Götzl so lange gebraucht hat, können sich selbst viele Juristen nicht erklären. Am Umfang der Schrift allein kann es nicht liegen. Auch dieser Vorgang passt in gewisser Weise zu dem so monströsen wie widersprüchlichen Verfahren.

Zur Erinnerung: In dem Prozess um zehn Morde an neun Migranten und einer Polizeibeamtin wurde die Hauptangeklagte Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft und der besonderen Schwere der Schuld verurteilt. Sie sitzt mittlerweile in einem Gefängnis in Chemnitz (Im Namen des Staatsschutzes: Die Urteile im NSU-Prozess).

Ralf Wohlleben erhielt zehn Jahre Haft und bekam eine Woche nach der Verkündung im Juli 2018 Haftverschonung, weil er zwei Drittel der Strafe in Untersuchungshaft abgesessen hat. Die Bundesanwaltschaft hatte zwölf Jahre Haft für ihn beantragt.

Wohlleben ist zurzeit auf freiem Fuß. Genauso wie André Eminger, der zu zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden ist. Die Ankläger hatten für ihn ebenfalls zwölf Jahre beantragt. Holger Gerlach und Carsten Schultze wurden zu je drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Für Gerlach hatte die Anklage fünf Jahre gefordert.

Revision eingelegt

Alle Verurteilten legten Revision ein. Die Bundesanwaltschaft machte ihrerseits Revision gegen das Urteil für Eminger geltend. Das für Wohlleben hat sie genauso akzeptiert wie das für Gerlach. Die Behörde befürwortete sogar die Aufhebung des Haftbefehls für Wohlleben.

Schultze, der einzig wirklich Geständige, zog die Revision später zurück und trat 2019 seine Haftstrafe an. Ob er noch einsitzt oder inzwischen entlassen wurde, war nicht zu erfahren. Weil Schultze nach Jugendstrafrecht verurteilt wurde, kann er nach der Hälfte der Haftzeit freikommen.

Mit der Vorlage der schriftlichen Begründung ist nichts mehr als eine weitere Etappe im schier unendlichen Strafjustizprozedere erreicht. Die Urteile haben noch lange keine Rechtskraft. Die Verurteilten gelten solange weiterhin nur als "Angeklagte".

Nach der Zustellung des schriftlichen Urteils haben die Betroffenen einen Monat Zeit, um ihre Revisionsanträge zu begründen. Revision bedeutet, die Überprüfung der Hauptverhandlung durch den Bundesgerichtshof (BGH) auf mögliche Rechts- und Verfahrensfehler.

Die Revisionsbegründungen gehen danach an die jeweilige Gegenstelle: Die der Angeklagten an die Bundesanwaltschaft und die der Bundesanwaltschaft an den Angeklagten Eminger. Die Gegenstellen können sogenannte Gegenerklärungen abgeben, für die normalerweise zwei bis vier Wochen veranschlagt werden.

Kenner des NSU-Verfahrens schätzen, dass in diesem Fall von einer Dauer von vielleicht vier Monaten ausgegangen werden müsse. Danach würden die Revisionen an den BGH weitergeleitet. Im Prozessfahrplan wären wir damit bereits im Herbst 2020 angekommen.

Die Revisionsprüfung durch das Obergericht in Karlsruhe dauere in einem normalen Verfahren etwa sechs Monate, erklären kundige Juristen. Hier, im NSU-Komplex, seien eher zwei Jahre zu erwarten, sprich: Die nächste Etappe wäre Ende 2022 erreicht. Die drei freien Angeklagten würden mindestens so lange frei bleiben.

Erst wenn der BGH die Revisionen verwirft, sind die Urteile rechtskräftig. Dass der Gerichtshof einer Revision stattgibt und einen fünf Jahre dauernden Prozess erneut aufrollen lässt, erwartet niemand ernstlich.

Begründungsfrist voll ausgereizt

Warum der Staatsschutzsenat unter Leitung von Richter Götzl die Begründungsfrist für seine Urteilsprüche vom 11. Juli 2018 voll ausgereizt hat, erschließt sich vielen Juristen nicht. Auch Anwälte der Nebenklage können sich keinen rechten Reim darauf machen. Dass es ein paar Monate dauern könnte, damit sei zu rechnen gewesen, aber nicht mit fast zwei Jahren.

Es bleiben nur Spekulationen, ob das Gericht besonders gründlich arbeitete, um eine Revision zu vermeiden. Oder ob es vielleicht hoffte, dass sich die Öffentlichkeit nach so langer Zeit nicht mehr für den Fall interessiert. Manche Opferanwälte erinnern dabei an die zweifelhafte Urteilsverkündung im Juli 2018.

Für eine Anwältin war sie eine "Katastrophe", für einen ihrer Kollegen "ein peinliches Nachverlesen der Anklageschrift". In der Zschäpe-Verteidigung äußerte man sich kurz vor Ablauf der Frist auf die Frage, wie sie sich die lange Dauer erklären, mit einem Anflug von Sarkasmus per Email so: "Da das Urteil gemäß § 275 Abs. 1 StPO [Strafprozessordnung] unverzüglich zu den Akten zu bringen ist, ist davon auszugehen, dass es noch nicht fertiggestellt ist."

Der unaufgeklärte NSU-Komplex

Zu den Rätseln des Prozesses gehört das Verhalten der Hauptangeklagten selbst. Nach zweieinhalb Jahren Schweigen hatte sich Beate Zschäpe doch zu den Vorwürfen geäußert. Allerdings belastete sie sich dadurch eher und wirkte wie die Zeugin der eigenen Anklage. Seither fragt man sich, ob hier nur eine schlechte Verteidigungsstrategie vorlag oder ob man andere Hintergründe vermuten müsse.

Dubios bleibt die Rolle von Ralf Wohlleben. Im ersten Bundestagsuntersuchungsausschuss zum NSU-Skandal hatte ein Zeuge ausgesagt, er habe als Angestellter im Bundesinnenministerium auf einer Liste des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) über V-Leute in Vorständen der NPD den Klarnamen "Wohlleben" gesehen. Wohlleben bekleidete einmal einen NPD-Vorstandsposten. Die Frage ist ungeklärt.

Bei André Eminger fielen kurz vor Schluss der Hauptverhandlung gemeinsame Versuche von Verteidigung und Bundesanwaltschaft auf, sein Verfahren abzutrennen, was ihm zugutegekommen wäre. Das Gericht gab dem zwar nicht nach, fällte im Falle Eminger dann aber ein Urteil, das zu Beifall unter Sympathisanten der Angeklagten auf der Zuschauertribüne im Gerichtssaal führte.

Nach dem Prozess wurde bekannt, dass es in Emingers Neonazigruppierung "Weiße Bruderschaft Erzgebirge" mindestens einen V-Mann des Verfassungsschutzes gab. Dessen Identität ist ungeklärt.

Zu den Aha-Erlebnissen des Prozesses zählte die Nähe von Anklagebehörde Bundesanwaltschaft und Verteidigung, die immer wieder sichtbar wurde. Eine Opferanwältin sprach in ihrem Plädoyer von "teilweiser Verbrüderung" der beiden - eigentlich antagonistischen - Prozessparteien.

Nach unbestätigten Informationen sollen sich beide Seiten nach der Urteilsverkündung sogar getroffen haben. Der Hauptkonflikt spielte sich im Gerichtssaal erstaunlicherweise zwischen Anklage und Nebenklage ab.

Der NSU-Komplex, unaufgeklärt genug, ist mit dem Prozess allein sowieso nicht zu verstehen. In Bund und Ländern tagten insgesamt 13 parlamentarische Untersuchungsausschüsse (PUA). Der letzte läuft zurzeit im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern.

In diesen Kommissionen gab es zahlreiche Hinweise auf eine Verstrickung der Sicherheitsorgane, vor allem des Verfassungsschutzes, aber auch der Polizei in den Skandal. Ihre konsequente Durchleuchtung scheiterte bisher an den Regierungen und maßgeblichen politischen Parteien, in Brandenburg beispielsweise an Rot-Rot, in Thüringen an Rot-Rot-Grün (NSU-Ausschuss: "...unser nicht erfüllbarer Untersuchungsauftrag"). Das gehört mit zur Wahrheit und zeigt vor allem deren politische Dimension.

Wie wenig die NSU-Geschichte aufgeklärt ist, zeigt ein zweites bevorstehendes Justizdatum. Noch im Laufe dieser Woche will der Generalbundesanwalt Anklage im Mordfall Lübcke erheben. Der Kasseler Regierungspräsident und CDU-Politiker Walter Lübcke war am 2. Juni 2019 vor seinem Haus erschossen worden. Der Prozess wird vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/M. stattfinden.

In dem Fall gibt es Verbindungen zum NSU-Komplex. Der mutmaßliche Mörder Stefan E. taucht in Verfassungsschutzakten zum NSU auf. Und der ehemalige Verfassungsschutzbeamte Andreas Temme, der am Tatort war, einem Internetcafé, als in Kassel Halit Yozgat erschossen wurde, war wiederum mit Stefan E. befasst gewesen.

Im Landtag von Hessen ist ein weiterer Untersuchungsausschuss in Vorbereitung, der sowohl dem Mordfall Lübcke als auch den ungeklärten Fragen zum NSU-Skandal nachgehen soll. Seine Einsetzung ist für Mai geplant, wenn der wegen Corona ausgesetzte Parlamentsbetrieb wieder aufgenommen werden soll.

Weiterhin offen sind bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe ein allgemeines Sammelverfahren "NSU/unbekannt" sowie neun konkrete Ermittlungsverfahren gegen neun Personen, die der Unterstützung des NSU-Kerntrios beschuldigt werden.

Darunter die Frau des Angeklagten Eminger, der ehemalige Blood-and-Honour-Kader Jan W., der Hauptmieter der Zwickauer Wohnung des Trios Matthias D., der Jenaer Neonazikopf André K. und mit Thomas St. (heute Thomas M.), der dem Trio Sprengstoff lieferte und ihm nach der Flucht in Chemnitz den ersten Unterschlupf gab, ein ehemaliger V-Mann des Landeskriminalamtes Berlin.