Bitte ohne arabischen Einfluss!

Der Einfluss arabischer Denker auf die europäische Philosophie: Nichts zu danken!

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Der Mediävist Sylvain Gouguenheim hat mit seinem neuen Werk „Aristote au Mont-Saint-Michel: Les Racines grecques de l´Europe chrétienne“ (Aristoteles auf dem Berg St. Michel: Die griechischen Wurzeln des christlichen Europas) den Versuch unternommen zu zeigen, dass das europäische Denken auch ohne die Vermittlungsfunktion der arabischen Welt ausgekommen wäre.

Der Titel des Buches verweist auf die intensive Übersetzungstätigkeit im 12. Jahrhundert in der Abtei auf dem Mont St. Michel, die als direkte Verbindung zwischen der antiken Philosophie und dem Mittelalter fungieren soll, um den Einfluss der arabischen Philosophie als überflüssigen Umweg darzustellen.

Nun ist es nichts Neues, eine extreme Hypothese vorzulegen, die dem wissenschaftlichen Konsens widerspricht, um Aufmerksamkeit zu erhalten – dies ist dem Autor in jedem Fall gelungen. Es ist eine müßige Aufgabe, die These Gouguenheims, der Professor an der Ecole normale supérieure (ENS) in Lyon ist, zu widerlegen. In Frankreich hat es nach Erscheinen des Buches und einem deutlich lobenden Artikel von Roger-Pol Droit in „Le Monde“ Proteste gegeben, eine intensive Diskussion ist darüber entbrannt. In einer Petition der ENS wird darauf hingewiesen, dass der Autor zwar das Recht habe, seine Thesen zu vertreten, dass sein Werk aber „eine Anzahl von Werturteilen und ideologischen Stellungnahmen gegenüber dem Islam beinhalte“. Die ENS fürchtet nun um ihren Ruf und die Unterzeichner der Petition – Schüler, Dozenten, Forscher und Ehemalige der Institution nehmen Abstand von den fragwürdigen Inhalten des Buches.

Auch in Deutschland haben sich Wissenschaftler gegen Gougenheims Text ausgesprochen, unter ihnen auch Kurt Flasch, ein renommierter deutscher Philosophiehistoriker mit Schwerpunkt auf Spätantike und Mittelalter. Der emeritierte Mediävist wies schon in seinem Standardwerk „Das philosophische Mittelalter“ auf die Herausforderung hin, welche die arabische Philosophie für das westliche Denken darstellte:

Roger Bacon, einer der originellsten Denker des Westens im 13. Jahrhundert, sah in Avicenna den – nach Aristoteles – zweiten Neubegründer der Philosophie. Thomas von Aquino stützte sich auf ihn, wenn er seinen Gott das reine, subsidierende Sein nannte; er baute auf Avicennas Unterscheidung von möglichem und notwendigem Sein einen seiner Gottesbeweise.

Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter

Ibn Sina („Avicenna“, 980-1037) ist nicht nur als Philosoph, sondern unter anderem auch als Arzt, Physiker und Mathematiker hervorgetreten. Auch wenn sich Thomas von Aquin (~1225-1274) in einigen Punkten gegen ihn wendet, findet eine Auseinandersetzung statt, die ihn und seine Zeit prägte und ihren Einfluss bis in die Gegenwart geltend machen kann. Ebenso wenig kann der Einfluss von Ibn Rushd („Averroes“, 1128-1198) auf den lateinischen Westen herabgewürdigt werden:

Seine Theorien von der Ewigkeit der Welt, seine Verwerfung eines realen Unterschieds zwischen der Substanz und ihrem Dasein, seine Weigerung, den Akzidentien eine irgendwie geartete ontologische Selbständigkeit zuzubilligen, wurden Hauptthemen der westlichen Philosophie im 13. und 14. Jahrhundert.

Kurt Flasch

Averroes war in der mittelalterlichen Philosophie als „der Kommentator“ bekannt, da er zu etlichen Werken des Aristoteles Kommentierungen geschrieben hat. Neben Avicenna und Averroes sollen Al-Kindi (800-873), Al-Farabi (870-950) und Al-Ghazali (1058-1111) genannt werden. Sie und viele Andere nehmen in der fraglichen Zeit die Rolle als Vordenker der Auseinandersetzung der griechischen Philosophie mit einer monotheistischen Religion – die einige Wurzeln mit dem Christentum teilt – ein.

Wie stark dieser Einfluss auf den lateinischen Westen in dieser Zeit war, zeigt sich darin, dass Étienne Tempier Ende des 13. Jahrhunderts den radikalen Aristotelismus als „lateinischen Averroismus“ ablehnte:

Bekannt wurde T(empier) vor allem wegen seiner beiden, für die abendländische Geistesgeschichte folgenschweren Verurteilungen des radikalen Aristotelismus (des sogen. "lateinischen Averroismus"), die einen Höhepunkt in den Auseinandersetzungen um die Aneignung griechischer und arabischer Philosophie im lateinischen Westen markieren.

Dass der Aristotelismus mitsamt dem Averroismus – der über eine lange Zeit hinweg stark diskutiert wurde – abgelehnt wurde, zeigt, dass der Westen in dieser Zeit keinesfalls das griechische Denken wiederaufgenommen oder problemlos weitergeführt hatte. Dieses hatte sich unter anderem erst noch in der Konfrontation mit der Kirche durchzusetzen.

Selbst wenn die europäische Tradition der Übersetzung das griechische Denken da abgeholt hätte, wo es zuvor liegen geblieben ist, hatte die philosophische Diskussion in der arabischen Welt schon längst in die europäische Welt eingewirkt und war nicht mehr aus ihr wegzudenken. Ebenso wenig lässt sich der Einfluss in anderen wissenschaftlichen Bereichen leugnen, in denen die arabische Welt zu dieser Zeit weit voraus war.

Darüber hinaus war der Großteil von Gouguenheims Thesen der Wissenschaft längst bekannt, die Übersetzungstätigkeit von Jacques de Venise und der Mönche von Mont St. Michel sind keine neuen Erkenntnisse. Dem Autor wird auch vorgeworfen, sich für den Titel seines Buches eines Aufsatzes von Viola Coleman aus dem Jahr 1967 bedient zu haben. Zudem wird kein ernsthafter Wissenschaftler die von ihm angegriffene These vertreten, die europäische Philosophie hätte die griechische Philosophie nur von arabischen Wissenschaftlern übernommen. Genauso wenig ist anzunehmen, dass die Jahrhunderte lange Auseinandersetzung der arabischen Philosophen mit der griechischen Philosophien keine Spuren im europäischen Denken hinterlassen hätte.

Viel wichtiger als der wissenschaftliche Gehalt von Gouguenheims Buch scheint einigen Kritikern dessen ideologischer Einschlag zu sein. So lässt sich darin lesen:

Die Neugier gegenüber dem anderen ist eine typisch europäische Eigenschaft, die außerhalb Europas rar und im Islam außergewöhnlich ist.

Dass sich gerade der Islam in der Zeit seiner starken Ausbreitung mit besonderem Eifer die wissenschaftlichen Erkenntnisse der eroberten Gebiete angeeignet hat, sollte bekannt sein. Aber auch andere Passagen aus dem Werk lassen aufhorchen – wenn es dort z.B. heißt:

Man kann nicht zugleich Jesus und Mohammed folgen [...] Die Andersartigkeit von Christen und Moslems wirft das Problem der jeweiligen Identitäten der beiden Zivilisationen auf.

Kann man glauben, dass der Autor an dieser Stelle Zivilisation und Religion in eins wirft und übersehen will, dass es arabische Christen gab und gibt (und umgekehrt auch Moslems in der „westlichen Welt“)?

Dass fragwürdige Kommentare im Internet mit „Sylvain G.“ oder seinem vollen Namen unterzeichnet sind, muss nicht auf Gouguenheim zurückzuführen sein und als Bestätigung für die Tendenzen des Autors zu sehen sein, die Kritiker seinem Buch ablesen. Auch die Verantwortung dafür, dass Abschnitte aus seinem Buch schon vor der Veröffentlichung desselben auf islamfeindlichen und rechten Internetseiten erschienen sind, lehnt er ab:

Ich habe seit fünf Jahren [...] Auszüge meines Buches an unterschiedliche Personen gegeben. Ich weiß überhaupt nicht, was die einen oder anderen daraufhin damit getan haben.

Die Diskussion in den Foren (z.B. auf politically incorrect) hat sich – wie bei einem solchen Thema üblich – schon längst vom Stein des Anstoßes fortbewegt, was sich bis zu der Behauptung steigert, dass schon eine Fatwa gegen Gouguenheim vorliege.

Während sich die verantwortliche Herausgeberin bei Le Seuil, Laurence Devillairs, rechtfertigen muss, dass sie das Buch mit in die renommierte Reihe „L’univers Historique“ aufgenommen hat, verkauft sich dieses so gut, dass es bereits nachgedruckt werden muss.