Blinde "Unsichtbare Hand"
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Wer will schon klüger sein als der Markt? Katastrophenkapitalismus - Teil 2
Teil 1: Katastrophenkapitalismus
Es muss nicht immer die rechtliche Grauzone sein, in der die Fundamente für die Verstärkung künftiger Klimakatastrophen gelegt werden. Der Markt kennt kein anderes Gesetz als das des höchstmöglichen Profits - und im neoliberalen Zeitalter bemühte sich die Politik, im Rahmen der berüchtigten Deregulierung der segensspendenden "unsichtbaren Hand" möglichst großen Spielraum zu verschaffen.
Dies etwa auf dem polnischen Immobilienmarkt, wo im Verlauf der wilden, neoliberalen Systemtransformation auch die Bauvorschriften massiv dereguliert worden sind. Wer es sich leisten konnte, errichtete sein Häuschen gerne malerisch am Fluss oder in der Natur, die Vorschriften waren lax oder sie wurden ignoriert. Wer will schon klüger sein als der Markt?
Die Konsequenzen dieses Marktbooms spülten die katastrophalen Überflutungen ans Tageslicht, die im Frühjahr und Sommer 2010 weite Teile Südpolens heimsuchten. Laut damaligen Schätzungen beliefen sich die Schäden auf rund 14 Milliarden Zloty (ein Euro war damals etwa vier Zloty wert), was in etwa einem Prozent des damaligen polnischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) entsprach - dies war ein neuer Rekordwert.
Die hohen Schäden seien insbesondere auf die Bebauung von "natürlichen Überflutungsgebieten" zurückzuführen, was die Hochwasserlage immens zugespitzt habe, klagten damals Nichtregierungsorganisationen wie der WWF.
Laut WWF müssten diese Flächen künftig von weiterer Bebauung ausgenommen werden. So resultieren dann auch die extremen Sachschäden nicht unbedingt aus einem höheren Pegelstand, sondern aus dem kaum regulierten, blinden Marktgesetzen folgenden Bauboom der letzten Jahre. Nach jeder größeren Flut "werden die Deiche wieder aufgebaut und erhöht", monierte der WWF in einer Erklärung. Und gerade dies locke "neue Investitionen" in Immobilien auf den ehemaligen Überflutungsflächen an.
Eine ähnliche neoliberale Krisenverstärkung entfaltete sich im Spätsommer 2017 in einem ideologischen Heimatland des ungezügelten Kapitalismus, im US-Bundesstaat Texas, das damals vom Hurrikan "Harvey" heimgesucht wurde. Auch bei diesem extremen Wettereignis wurden Rekorde gebrochen.
Regenmaschine Harvey trifft auf Erscheinungen der neoliberalen Politik
Der Nationale Wetterdienst der USA war nicht mehr in der Lage, die Regenmassen, die der Hurrikan Harvey über Südosttexas niedergehen ließ, mit den üblichen Methoden adäquat darzustellen. Er musste das Farbspektrum der Wetterkarten erweitern, um die historisch beispiellosen Niederschlagsmengen sinnvoll zu visualisieren. In einigen Regionen des Ballungsraums Houston, in dem nahezu sieben Millionen Menschen leben, waren in den Tagen zuvor 1.250 Liter Regen je Quadratmeter niedergegangen. "Harvey" hat die bisherigen US-weiten Rekorde für extreme Regenereignisse gebrochen.
Die Genese dieser historisch einmaligen Flutkatastrophe konnte klar nachvollzogen werden: Der Hurrikan war nach seinem Auftreffen auf die Küste von Texas nicht wie üblich landeinwärts gezogen, sondern rotierte weiter, ohne sich nennenswert zu verlagern. Der Sturm konnte somit an seiner südlichen Flanke immer neue Wassermassen aus dem Golf von Mexiko aufnehmen, die dann über Texas niedergingen. Die Überflutungen waren so stark, dass das Areal selbst durch Verdunstung "Harvey" neue Feuchtigkeit zuführte - es war eine regelrechte "Regenmaschine", so das Wissenschaftsmagazin "Scientific American".
Dies extreme Wetterphänomen wies somit alle Züge des Klimawandels auf, wie sie für die Region prognostiziert wurden. Das Wasser im Golf von Mexiko hat sich, wie anhand von Klimamodellen erwartet, deutlich erwärmt, was die Verdunstungsmenge erhöht und Hurrikans mehr Feuchtigkeit zuführt. Generell gilt, dass in einem wärmeren Klima die Luft mehr Feuchtigkeit aufnehmen kann und Starkregenereignisse zunehmen - ihre Anzahl hat weltweit bereits zugenommen. Hurrikans müssen allerdings nicht unbedingt häufiger auftreten, aber sie treten mit höherer Intensität auf.
Das Ausmaß der Zerstörung in Texas war gigantisch. Auf rund 90 Milliarden US-Dollar sollten sich die wirtschaftlichen Folgen laut ersten Schätzungen allein im Großraum Houston summieren, wo 80 Prozent der Haushalte und Firmen keinerlei Flutversicherung hatten. Hinzu kam der Umstand, dass viele der zerstörten, hochwertigen Wohnimmobilien mit Hypotheken belastet waren, sodass der US-Finanzsektor eine abermalige, wenn auch nur regionale Flut an faulen Hypotheken zu verkraften hatte.
Gerade im Großraum Houston, einer Bastion der marktradikalen Republikaner, konnten aber auch die desaströsen Folgen jahrzehntelanger neoliberaler Wirtschaftspolitik studiert werden. Zum einen war es ebenfalls das Fehlen essenzieller Regeln wie Bauvorschriften, die mit zu den immensen Schäden in der Region beigetragen haben. Viele Häuser wurden in Überflutungsflächen errichtet, da es keinerlei gesetzliche Regelungen gab, die dem einen Riegel vorschieben würden. Houston gehört zu den wenigen Großstädten in den USA, die keine urbane Flächennutzung durchsetzen - der Markt soll es regeln.
Dies hat neben dem spekulationsbefeuerten Immobilienbau in idyllischen, aber überflutungsgefährdeten Gebieten auch andere, weitreichende Folgen: Die Versiegelung des Bodens durch die Bebauung wurde so stark betrieben, dass Flutwasser nur noch schlecht versickern kann. Zugleich sind das für Springfluten anfällige Straßennetz und der kaum vorhandene öffentliche Nahverkehr unzureichend, um eine geordnete Evakuierung der Bevölkerung durchführen zu können. Deswegen habe er diese nicht angeordnet, erklärte Houstons Polizeichef Art Acevedo gegenüber den Medien damals. Die eine Hälfte der Bevölkerung hätte sich geweigert, die andere wäre nur im Stau festgesessen, da die Straßen schnell überflutet wurden.
Die neoliberale Vorzeigemetropole Houston sei ohne Berücksichtigung der Transportkapazität seiner Straßen errichtet worden, hieß es zusammenfassend etwa bei Neewsweek, wie auch ohne Rücksichtnahme auf die Versiegelung des Bodens durch wild wuchernde, marktgesetzlich "regulierte" Bebauung. Deswegen ertrinke Houston nun in seiner "Freiheit von Regulierungen". Mit anderen Worten: Im Ernstfall sitzt die Bevölkerung Houstons fest, eine Evakuierung der marktradikal deformieren Stadt ist schlicht nicht mehr möglich.
Zudem offenbarte "Harvey" - ähnlich wie im August 2005 der Wirbelsturm "Katrina", der vor allem New Orleans hart traf - den maroden Zustand der US-Infrastruktur. Die Dämme, die eigentlich das Stadtzentrum von Houston vor Überflutungen schützen sollten und wegen drohender Brüche geöffnet werden mussten, stammen noch aus den 1930er Jahren - aus der Hochzeit des "New Deals" von Präsident Franklin D. Roosevelt.
Schon 2009 wurden sie bei einer Überprüfung als "extrem anfällig" qualifiziert, doch der öffentlichen Hand fehlte schlicht das Geld, um die Instandsetzung in Angriff zu nehmen.
Der Faktor "Kapital" bei Naturkatastrophen
Auch "Harvey" machte somit deutlich: Das Ausmaß der Zerstörung durch eine Naturkatastrophe wird nicht nur durch deren Intensität, sondern auch durch den Zustand der betroffenen Gesellschaft bestimmt. Das Kapital ist bei Klimakatastrophen inzwischen sowohl bei deren Ursache als auch deren Folgen ein Faktor.
Während der Neoliberalismus die Krisenanfälligkeit der spätkapitalistischen Gesellschaften erhöht, indem er die bloße Idee gesellschaftlicher Planung verteufelt, sabotiert der uferlose Wachstumszwang alle Bemühungen um eine substanzielle Reduzierung der Treibhausgasemissionen.
Einen weiteren Faktor der Instabilität im morschen Gebälk des Spätkapitalismus stellt das ins extrem getriebene, betriebswirtschaftliche Rentabilitätsdenken dar, das der gesamten Gesellschaft, wie der schon sprichwörtlichen "Deutschland AG", im Verlauf der neoliberalen Ära oktroyiert wurde. Diese Ideologie, die Gesellschaften als Unternehmen imaginiert, ist Ausfluss der krisenbedingten Unterfinanzierung der öffentlichen Infrastruktur.
Alles muss sich rechnen, überall schwärmten in den vergangenen Dekaden Heerscharen von Wirtschaftsberatern aus, die - abgerichtet bei McKinsey & Co. - die Effizienzschrauben anzogen, versteckte Kosten aufspürten, die optimierten, rationalisierten und kürzten. "Alle reden vom Wetter, wir nicht!"
Dieser Werbeslogan der Bahn aus den 1960er Jahren, den die sich damals formierende Studentenbewegung mit ihrem berühmten Marx-Engels-Lenin Plakat aufgriff, wirkt heute angesichts der ewigen witterungsbedingten Ausfälle der Bahn wie ein guter Witz, der die Folgen neoliberaler "Effizienzpolitik" treffend illustriert. Weite Teile der gesellschaftlichen Infrastruktur wie beispielsweise das Gesundheitswesen operieren ja bereits jetzt an ihrem Belastungslimit, was im Katastrophenfall rasch zu Zusammenbrüchen führen könnte.
Selbst in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems ist beispielsweise die Nahrungsversorgung sehr krisenanfällig, da Lagerhaltung nun mal einen Kostenfaktor darstellt, der von der Lebensmittelindustrie längst weitgehend beseitigt wurde: durch Just-in-Time-Lieferung und das Outsourcing der Lagerbestände auf die Straßen und Verkehrswege. Im Krisenfall, wenn die fragilen globalen Produktions- und Lieferketten gekappt würden, sind die Supermärkte schnell ausverkauft oder geplündert, ohne dass Nachschub gewährleistet werden könnte.
Es gibt aus prosaischen Kostengründen keine großen, dezentral organisierten Lagerbestände an Nahrungsmitteln, mit denen längere, ernsthafte Verwerfungen überwunden werden könnten. Für die Lebensmittelbranche stellt dies einfach nur Kostenfaktor dar - weshalb die Bundesregierung auch empfiehlt, selbst Notvorräte für mindestens zehn Tage anzulegen, was letztendlich einer konsequenten Privatisierung der Katastrophenvorsorge gleichkommt und die neoliberale Ideologie in dieser Hinsicht vollendet. Diese evidente neoliberale Destabilisierung führt ja auch zum Aufkommen entsprechender rechtsextremer Ideologien wie der sogenannten "Prepper".
In der Bundesrepublik mögen aufgrund der hohen Handelsüberschüsse und des damit einhergehenden Steueraufkommens noch Investitionen in die Infrastruktur möglich sein, um etliche dieser Fehlentwicklungen zumindest graduell zu korrigieren, doch in den meisten kapitalistischen Kernländern, die keine dermaßen erfolgreiche Beggar-thy-Neighbor-Politik betreiben, ist dies kaum noch möglich. Schon die südliche Peripherie der EU, die im Rahmen deutscher Exportoffensiven ausgeplündert und von Schäuble anschließend auf neoliberale Hungerdiät gesetzt wurde, ist dazu nicht in der Lage.
Angesichts der Krise wären somit eben die massiven Investitionen in eine globale Infrastruktur notwendig, die im Spätkapitalismus angesichts der krisenbedingten staatlichen Haushaltsprobleme nicht mehr "finanzierbar" sind und auch nicht im Rahmen von Marktprozessen geleistet werden können: dies vor allem im globalen Süden, in der Peripherie des Weltsystems, die besonders hart von der kommenden Klimakrise getroffen werden wird.
Dieser massive, globale Ausbau entsprechender gesellschaftlicher Infrastruktur, um sich auf die künftigen Klimaerschütterungen vorzubereiten, müsste somit die Überwindung des kapitalistischen Wachstumszwangs flankieren.