Boris Pistorius: "Gefahr eines Krieges in Europa"
Verteidigungsminister fordert Mentalitätswechsel nicht nur bei der Bundeswehr und in der Politik, sondern auch in der Gesellschaft. Die müsse kriegstüchtig und wehrhaft werden.
Nicht nur die Bundeswehr, auch die Politik und die Gesellschaft brauche einen Mentalitätswechsel, sagte der deutsche Verteidigungsminister im ZDF-Interview. Die Zeit der Friedensdividende sei vorbei.
Und das heißt: Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.
Boris Pistorius
"Friedensdividende" bedeutet im Kern: weniger Ausgaben für Militär, gekoppelt mit dem Versprechen auf mehr Geld für Soziales und den allgemeinen Wohlstand. Dieser Horizont ist, wie es sich schon länger abzeichnet, nur mehr für Nostalgiker aufgespannt. Damit ist jetzt Schluss.
Gegenwärtig steigen die Militärausgaben weltweit, keiner will in diesem Rennen ins Hintertreffen geraten; zwei Kriege in nächster Nähe zu Europa, in der Ukraine und im Gaza-Streifen, fesseln die Aufmerksamkeit der Kollektive vor den Bildschirmen. Die militärische Lösung erfährt in unzähligen Debatten eine Gleichsetzung mit Realpolitik. Auf sie ist das Etikett "alternativlos" übergegangen.
Der Überfall auf die Ukraine hat einer in Wohlstand sozialisierten Generation brutal in Erinnerung gerufen, dass der Krieg welthistorisch eben meist die Regel und der Frieden nur die Ausnahme war. Eine allzu idealistische Sicht auf die Natur internationaler Beziehungen macht wieder Platz für mehr Realismus.
NZZ, April 2022
Und nun auch noch der Krieg im Gaza-Streifen mit der Gefahr einer unabsehbaren Eskalation. Verteidigungsminister Pistorius reagiert auf den neuen Horizont mit der Warnung:
Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte.
Geht es um die letzten 30 Jahre ohne Blockkonfrontation in Europa, so springen dem Verteidigungsminister nun die Fehler des SPD-Friedensdividende-Ansatzes in die Augen.
Da sei viel "verbockt" worden, sagt er im Interview und lässt verstehen, dass dies damit zu tun habe, dass mit dem Wegfall des Warschauer Pakts eine Art trügerischer Komfortzone entstanden ist. Das ist passé.
Lesen Sie auch
Globale Konflikte 2024: Wenn die Welt in Flammen steht
Oliver Stone: "Die Welt steuert auf den Dritten Weltkrieg zu"
Dürren, Migration, Destabilisierung: Wie der Klimawandel Konflikte anheizt
Das Paradoxon der Geopolitik: Wenn das Streben nach Sicherheit zur Eskalation führt
Der Sympathie-Faktor: Wie die Nato die Köpfe und Herzen der Europäer gewinnt
Jetzt kommen die härteren Tage und da müssen nicht nur die Bundeswehrstiefel neu geschnürt werden. Die Bundeswehr ist laut Pistorius schon mit "hohem Tempo" dabei, sich auf die neue Situation einzustellen. Am Ende des Jahrzehnts werde sie anders dastehen. Schon jetzt gehöre sie zu den besten Armeen Europas.
Aber ein Mentalitätswechsel bei der Bundeswehr genügt nicht, so Pistorius:
Wir brauchen einen Mentalitätswechsel in der Truppe. Da ist er in vollem Gange (…) Wir brauchen ihn im Bundesministerium der Verteidigung. Da haben wir die Weichen gestellt.
Wir brauchen ihn aber auch in der gesamten Gesellschaft und wir brauchen ihn auch in der Politik. Die Bundesregierung hat sich klar bekannt zum Zwei-Prozent-Ziel, wird das 2027/28, wenn das Sondervermögen aufgebraucht sein wird, bewerkstelligen. Das ist nämlich zentral, damit wir dauerhaft in Beschaffung investieren können.
Aber, ganz wichtig ist auch der Mentalitätswechsel in der Gesellschaft. (…) Und das heißt: Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein.
Boris Pistorius
Ist das jetzt die wahre Zeitenwende, nach der Zäsur des Krieges in der Ukraine und des 7. Oktober 2023 in Israel? Wie wird das gesellschaftliche Sondervermögen "Kriegstüchtigkeit" und "Wehrhaftigkeit" ausgestaltet werden?
Die pessimistische Ahnung lässt annehmen, dass der Zug zur Militarisierung und Frontenbildung in den Debatten noch weiter an Schärfe, Wucht und Unbedingtheit zulegt. Mit Konsequenzen auf das gesellschaftliche Klima, auf die Wirtschaft und das Verhältnis zwischen Staat und Bürger.
Aber für sich genommen, ist mehr Wehrhaftigkeit doch kein dummer Ansatz? Vorausgesetzt, dass man ihn klug verfolgt.