Brasilien unter Lula: Länder des Südens nicht mehr bereit, Westen zu folgen
Seite 2: Strategische Allianz Brasilien-Argentinien
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Das Treffen Lulas mit dem argentinischen Präsidenten Alberto Fernández nach der gewonnenen Wahl hat für beide Länder besondere Bedeutung. Die Herausforderungen sind für beide hinsichtlich der Gefahren, die sich ergeben, identisch. Beide Gesellschaften sind hochgradig polarisiert, denn es stehen sich zwei antagonistische Projekte gegenüber: neoliberale Politik und Privatisierung oder unabhängige nationale Entwicklung und soziale Umverteilung.
Präsident Fernández erklärte nach seinem Treffen mit Lula, dass Argentinien gemeinsam mit Brasilien Kurs auf die Belebung der Tätigkeit der BRICS nehmen werde. Angesichts der historischen Erfahrungen beider Länder gewinnt dieses Treffen besondere Bedeutung, weil beschlossen wurde, den Herausforderungen der Zukunft in einer strategischen Allianz zu begegnen.
Diese soll auf der Vertiefung der wirtschaftlichen Beziehungen und der Bildung eines einheitlichen Blocks basieren. Das bedeutet eine strategische Allianz in einem internationalen System, das von "großen Mächten" dominiert wird, stark hierarchisiert ist und in dem diese ihre wirtschaftliche, finanzielle und militärische Macht gegen den Rest der Welt, besonders den Globalen Süden, ausspielen.
Die führenden Mächte nutzen zudem ihre Monopolstellung gegen aufkommende Mächte durch die sogenannten "Gesetze des Marktes", deren Einfallstor oftmals Umweltfragen, erneuerbare Energien und Migrationsfragen sind, da diese Themen allgemeine Akzeptanz genießen. In Wirklichkeit laufen sie aber auf eine Dominanz westlicher Investitionen und die Verdrängung des chinesischen Einflusses in den Ländern des Globalen Südens hinaus.
Dieses System durchlebt momentan eine Krise und einen Transformationsprozess, der längere Zeit in Anspruch nehmen wird. Damit eröffnen sich Chancen für den Aufstieg anderer Länder innerhalb der sich neu formierenden Ordnung. Es ergeben sich Möglichkeiten, diese Mächte herauszufordern, eigene Positionen auszubauen und den untergeordneten und abhängigen Status abzuschütteln.
Neue Klimapolitik
Von besonderer Bedeutung für Brasilien war die Teilnahme Lulas an der COP27 in Ägypten. Nach seinem Wahlsieg erklärte Lula, dass seine Regierung die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes auf "Null" zurückführen wolle. Klimapolitik soll ein bestimmender Faktor der neuen Außenpolitik sein.
Schon während der COP26 in Glasgow unterzeichneten Brasilien, die Demokratische Republik Kongo und Indonesien eine gemeinsame Erklärung, in der sie sich verpflichteten, bis 2030 die Abholzung ihrer Regenwälder zu stoppen. Gemeinsam verfügen sie über 52 Prozent der tropischen Regenwälder weltweit. Sie wollen in einem Länderverbund als "Vereinigung der Regenwälder" den Finanzmärkten Vorschläge unterbreiten, wie die Industrieländer Projekte zur Erhaltung der Regenwälder finanzieren können.
Für Brasilien heißt das: Umorientierung auf Investitionen, die das internationale Finanzkapital mit seiner Fixierung auf Klimaprojekte vornimmt. Ergebnis des Treffens in Ägypten war auch eine Vereinbarung Lulas mit den Anrainern des Amazonasbeckens (Kolumbien, Peru, Venezuela, Brasilien u.a.), in Kürze eine Konferenz einzuberufen, die die Realisierung gemeinsamer Projekte im Amazonasbecken vorsieht. Lula bot an, die COP30 in Brasilien durchzuführen.
Bei der Durchsetzung einer umweltverträglichen Klimapolitik wird mit einem erheblichen Widerstand durch das Agrobusiness, die Soja-Bauern, die Erzbergbauunternehmen und die Holzindustrie gerechnet.
Für Brasilien stellte die Periode der Lula-Regierungen zwischen 2003 und 2015 eine Möglichkeit dar, sich im internationalen System neu zu platzieren. Die Lula-Regierung 3.0 muss Entscheidungen treffen, die dem internationalen Status Brasiliens entsprechen und anstreben, sich auf eigene Füße zu stellen. Das müssen Entscheidungen sein, die es ermöglichen, ein neues Gesellschaftsmodell und die Sicherung der nationalen Souveränität zu realisieren, was sowohl äußere als auch interne Kräfte zu verhindern versuchen dürften.
Das Werben um Brasilien ist eröffnet
Südamerika rückt mit den politischen und wirtschaftlichen Zuspitzungen wieder mehr in den Blickpunkt Europas. Differenzen zwischen der EU und dem Mercosur bei den Verhandlungen zu einem Freihandelsabkommen, die seit zwanzig Jahren laufen und 2019 ins Stocken geraten sind, sind bisher nicht ausgeräumt. Während der Pandemie zeigte sich, dass Westeuropa im Umgang mit Vakzinen die eigene Versorgung sicherte und andere Länder nur sparsam bedachte.
Hilfe wurde den Ländern Lateinamerikas von China zuteil. Für die Bundesrepublik und die EU geht es nun um einen "Neuanfang". Bundeskanzler Olaf Scholz realisierte als erster europäischer Regierungschef vom 29. bis 31. Januar nach Regierungsübernahme Luiz Inácio Lula da Silvas einen Besuch in Chile, Argentinien und Brasilien. Im Gepäck hatte er die Empfehlung der Stiftung Wissenschaft und Politik, dass er nicht auf "alte Rezepte" setzen dürfe, sondern neuartige Angebote machen müsse.
Die Lage in Lateinamerika habe sich verändert, neben den USA und Europa sei ein "neuer Player" hinzugetreten: China. Bedauert wird, dass Lateinamerika etwas aus dem Fokus gerückt sei, da sich die deutsche Wirtschaft zu sehr nach Asien, insbesondere China, orientiert habe (SWP, 28. Januar 2023).
Bundeskanzler Scholz setzte tatsächlich auf neue Aspekte, indem diesen Ländern "Wertschöpfung" im eigenen Land zugesichert wurde, d.h. Rohstoffe vor Ort weiterverarbeitet werden. Ein Verfahren, das längst schon in einigen Ländern Lateinamerikas praktiziert wird, v.a. in der Vorverarbeitung des begehrten Rohstoffes Lithium.
Gegen den Rückgang der Intensität der Beziehungen wird nun die "Rohstoffkooperation" beschworen. In Chile ging es um die Weiterführung des Projektes "Wasserstoff", das 2021 vereinbart wurde. Mit dessen Verwirklichung könnte die Bundesrepublik bis zu Zweidrittel ihres Bedarfes an grünem Wasserstoff befriedigen.
Gleichzeitig wurden Abkommen zur Produktion von Kupfer-Fertig- und Halbfertigprodukten vorbereitet. Auch mit Argentinien, das wie auch Chile reich an Lithiumvorkommen ist, wurden Verträge zur Lieferung von grünem Wasserstoff und Flüssiggas abgeschlossen. BMW nutzt bereits seit zwei Jahren einen Salzsee für die Lithium-Produktion.
Durch das Agieren Bolsonaros hatten auch die Beziehungen zu Brasilien an Bedeutung verloren. Deshalb begrüßte Bundeskanzler Scholz die Rückkehr Brasiliens auf die "Weltbühne".
Scholz wurde von der Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Svenja Schulze, begleitet, die auch in Fortsetzung des Besuchs von Bundespräsident Steinmeier zur Amtseinführung Lulas am 1. Januar das Amazonasgebiet besuchte und die Wiederaufnahme des Amazonas-Fonds, durch Bolsonaro ausgesetzt, verkündete. Für die ersten 100 Tage der Tätigkeit der Lula-Regierung werden Brasilien 200 Millionen Euro (1,1 Milliarden Real bzw. Reais) zur Verfügung gestellt.