Brasilien unter Lula: Länder des Südens nicht mehr bereit, Westen zu folgen

Bild: Palácio do Planalto from Brasilia / CC BY 2.0

Mit der Wahl Lulas hat sich die Lage in Lateinamerika wesentlich verändert. Der Globale Süden kooperiert stärker untereinander und sieht sich nicht mehr als Bittsteller. Was die neutrale Haltung Brasiliens gegenüber dem Ukraine-Krieg zeigt.

Mit der Wahl Luiz Inácio Lula da Silvas zum Präsidenten des größten lateinamerikanischen Landes Brasilien am 30. Oktober 2022 steht neben den zu erwartenden politischen und sozialen Veränderungen die Rückkehr des Landes als ernst zu nehmender internationaler Partner auf der Tagesordnung. Außenpolitisch ist das Erbe der Politik Jair Bolsonaros für Brasilien eine schwere Hypothek.

Seine Außenpolitik isolierte das Land sowohl in Lateinamerika als auch in der Welt. Blockiert wurden die von den vorhergehenden Regierungen Lula und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff initiierten Schritte zur Vertiefung der lateinamerikanischen Integration: Bolsonaro beendete etwa die Mitgliedschaft Brasiliens im Unasur (Union Südamerikanischer Staaten) und der Celac (Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten).

Seine Politik schränkte die Ernährungssicherheit Brasiliens ein und vertiefte die Verschuldung. Eine besonders tragische Hinterlassenschaft Bolsonaros ist es, dass seine Corona-Ignoranz über 160.000 Brasilianern das Leben gekostet hat. Eine weitere weitreichende Hypothek ist die ungebremste Zerstörung des Amazonas-Urwaldes, indem die Schutzagenturen zurückgefahren und den illegalen Goldschürfern, Vieh- und Getreideproduzenten und Holzhändlern freie Hand gelassen wurde.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Monatszeitschrift Welttrends.

Die internationale Kritik ignorierte Bolsonaro. Druck seitens des Agrobusiness, der Industrie und des Erzbergbaus verhinderte aber eine Verschlechterung der Beziehungen zu China. Die chinesische Seite nahm trotz antichinesischer Propaganda ihrerseits eine pragmatische Haltung ein.

Neue innere und äußere Bedingungen Präsident Luiz Inácio Lula da Silva tritt seine dritte Amtszeit unter schwierigen inneren und äußeren Bedingungen an. Im Kontext des Ukraine-Krieges wird deutlich, welche Brüche im internationalen System aufgetreten sind und dass sich die Rivalitäten zwischen den Weltzentren verschärft haben.

Der Krieg als Mittel der internationalen Politik wurde nach 1991 verstärkt und ausgeweitet. Wesentliche Entwicklungen der letzten Jahre stellen die Hegemonie der USA im internationalen System infrage. Länder des Globalen Südens vertreten ihre nationalen und kollektiven Interessen im internationalen Rahmen immer nachhaltiger und sind nicht mehr bereit, der Unipolarität der US-amerikanischen Vorherrschaft zu folgen.

In dieser neuen Situation wird Brasilien seine Position und seine nationalen Interessen inmitten dieser wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Auseinandersetzungen im Weltsystem neu bestimmen. Präsident Lula hatte sich in seinen vorherigen Wahlperioden als Vertreter des Globalen Südens positioniert. Mit seinen außenpolitischen Schritten (u.a. Anerkennung Palästinas als Staat in den Grenzen von 1967) setzte er neue Akzente.

Auch mit seiner Haltung zu den Brics forderte er die US-Administration heraus. Brasilien war wichtig für die Entwicklung der Süd-Süd-Beziehungen, forcierte die Zusammenarbeit mit afrikanischen Staaten und es wurden wesentliche Grundlagen für die Beziehungen mit der VR China gelegt.

Nunmehr muss sich Präsident Lula in seiner dritten Wahlperiode den wesentlichsten Herausforderungen der Gegenwart stellen: der Klimakatastrophe, der Rettung des Amazonas-Urwaldes, der Bekämpfung der Folgen der Covid-19-Pandemie und der Zuspitzung der Konkurrenz zwischen den Machtzentren in der Welt.

War die brasilianische Diplomatie schon immer darauf ausgerichtet, praktische, friedliche und ausgleichende Lösungen zu finden, so ist sie nach dem Desaster der Außenpolitik Bolsonaros aufgerufen, die während der Lula-Jahre praktizierte Politik zu erneuern, besonders in einer Zeit des Überganges von einer von Unilateralismus und Dominanz der USA geprägten Welt in eine multipolare Welt.

Während eines Besuchs Bolsonaros in den USA im März 2019, der enge Kontakte zum damaligen US-Präsidenten Trump pflegte, verlieh Trump Brasilien derweil den Status eines "wichtigen Verbündeten der Nato" (oder extra Nato – major non-Nato ally). Diese Bezeichnung vergibt die US-Regierung an Staaten, die nicht Mitglied der Nato sind, aber eng mit den bewaffneten Kräften der USA zusammenarbeiten.

Damit erhielt Brasilien eine Reihe Vorteile militärischer und finanzieller Art, u.a. gemeinsame Forschungsprojekte, Finanzierung von militärischer Ausrüstung, gemeinsame Manöver etc.

Neue Partnerschaften

Für Brasilien wird es von besonderer Bedeutung sein, die Entwicklung von Partnerschaften im Rahmen der BRICS in verschiedenen Formaten zu vertiefen, insbesondere auch im Hinblick auf ihre Rückwirkung auf die geopolitische Ordnung, die immer noch geprägt ist von archaischen Institutionen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden.

Brasilien wird sich auf die Entwicklung bilateraler Beziehungen zu China, auf den Mercosur, auf Lateinamerika und Afrika konzentrieren und die Beziehungen zu den asiatischen Staaten sowie den Ländern des Mittleren Ostens ausbauen. Unter der Regierung Lula werden bereits existierende Ansätze für neue Allianzen wie die Unasur und Celac der lateinamerikanischen Integration neu aufgegriffen.

Im Rahmen der BRICS stehen die Neue Entwicklungsbank (2014) der BRICS und die Reservebank wie auch die Weiterführung der 2004 geschaffenen "Hohen Chinesisch-Brasilianischen Kommission der Abstimmung und Kooperation" im Mittelpunkt. Während der Präsidentschaft Dilma Rousseffs wurden 2014 56 Verträge zur Vertiefung der Kooperation, für Investitionen und gemeinsame Aktionspläne abgeschlossen. Seit 2009 ist China Brasiliens größter Handelspartner. Von 2002 mit 68 Milliarden US-Dollar wuchs der Handelsumsatz auf 135 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021.

Der Handelsüberschuss zugunsten Brasiliens erhöhte sich in den letzten Jahren auf 150 Milliarden US-Dollar. Brasilien ist jedoch zu 85 Prozent von der Lieferung russischer Düngemittel abhängig. 80 Prozent aller brasilianischen Exporte sind Rohstoffe (Soja, Erdöl, Erze). Für die Lula-Regierung ergibt sich deshalb die Forderung nach der Diversifizierung des rohstoffbasierten Handelsaustausches.

Als Teil des nationalen Entwicklungsprojektes muss die Zusammenarbeit auf die Industriepolitik, den ausbalancierten Handel, die Energie- und Düngemittelproduktion und die Entwicklung der technologischen Zusammenarbeit zugeschnitten werden.

Eine Zusammenarbeit dieses Typs schafft Voraussetzungen für eine strukturelle Transformation. Beispiele sind Projekte Chinas in Peru, Bolivien, Argentinien, Chile und anderen Ländern im Verkehrssektor, im Luft- und Schifffahrtswesen und im Gesundheitssektor. Argentinien hat seine Bereitschaft bekundet, sich am maritimen Seidenstraßenprojekt Chinas zu beteiligen.

Mehr als 20 Außenminister und Delegationen nahmen etwa im Januar 2018 am 2. Forum Celac-China in Santiago de Chile teil. Inzwischen haben sich weitere Länder des Kontinents der Seidenstraßeninitiative Chinas angeschlossen (Panama, Uruguay, Ecuador, Costa Rica, Venezuela, Kuba, Peru, Chile, Bolivien, Argentinien). Für ein "Programm der Beschleunigung des Wachstums" würde die Beteiligung Brasiliens am Programm der Seidenstraße bedeutende Vorteile bringen.