Brasilien unter Lula: Länder des Südens nicht mehr bereit, Westen zu folgen

Seite 3: Brasilien wahrt Neutralität

In den Gesprächen zwischen Bundeskanzler Scholz und Brasiliens Präsident Lula ging es auch um die Lieferung von Panzermunition. Die Bemühungen der Bundesrepublik, von Brasilien Munition für den Gepard zu erhalten, gab es schon 2022 zur Zeit Bolsonaros. Nach Wochen des Drucks der USA auf Deutschland unternahm Scholz den Versuch, Munition (300.000 Schuss) für den Leopard 2, von dem Brasilien 2019 261 Einheiten gekauft hatte, für fünf Millionen US-Dollar zu erhalten.

Die Entscheidung Brasiliens gegen den Verkauf fiel am 20. Januar in einer gemeinsamen Beratung Lulas mit hohen Militärs. "Brasilien ist ein Land des Friedens. Deswegen will Brasilien keinerlei Beteiligung an diesem Krieg – auch nicht indirekt", so Lula. Schon im Mai 2022 hatte Lula in der Times erklärt, dass "Selenskyj genauso schuld ist wie Putin."

Lula fügte nun aber hinzu, dass "Putin einen Fehler gemacht hat." Brasilien verbleibt, nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, bei seiner Position der Neutralität. Lula schlug zudem vor, einen Club von Ländern (dazu zählte er China, Indien, Indonesien u.a.) zu bilden, der eine Vermittlerrolle spielen könne.

Brasilien ist nicht das einzige Land, das keine Lieferungen tätigen wird. Neben Chile und Argentinien war es auch der kolumbianische Präsident Petro, der den USA die Lieferung von Hubschraubern vom Typ Mi-8 und Mi-17 und Antiluftraketen des Systems Hawk zur Weitergabe an die Ukraine verweigerte.

In der gemeinsamen Erklärung Brasilien-Bundesrepublik Deutschland wurde vereinbart, die Zusammenarbeit bei der Lösung globaler Herausforderungen zu stärken. Gefördert werden sollen erneuerbare Energien und beide Staaten werden sich bei der Transformation der Wirtschaft auf Basis der Agenda 2020, ausgerichtet auf eine nachhaltige Entwicklung, unterstützen.

In der Erklärung wird als Grundlage der Politik ihrer Staaten die UN-Charta bezeichnet. Die Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine und die Annexion von Teilen ukrainischen Territoriums durch Russland werden verurteilt. Während die gemeinsame Erklärung die übereinstimmenden Grundlagen der Beziehungen beider Staaten wiedergibt, wird kein Bezug auf den Vorschlag des brasilianischen Präsidenten genommen, einen "Friedensklub" zu bilden.

Kanzler Scholz bekam zudem eine deutliche Abfuhr bezüglich Munitionslieferungen. Augenscheinlich hatte die deutsche Seite Erklärungen brasilianischer Politiker und Lulas missinterpretiert oder nicht verstanden. Denn der offensichtliche Dissens resultiert aus der unterschiedlichen Beurteilung der gegenwärtigen internationalen Lage, in der die Länder des Südens, einschließlich Brasiliens und andere lateinamerikanische Staaten, nicht bereit sind, dem Kurs der westlichen Länder zu folgen.

Brasilien sieht sich als Partner auf Augenhöhe und ist kein Bittsteller. Wie sagte Lula in Anspielung auf die Fußballniederlage Brasiliens im WM-Halbfinale 2014: "Nie wieder ein Eins zu Sieben, sondern immer ein Null zu null."

Weitere Reaktionen seitens der deutschen Regierung in Bezug auf Lulas Vorschlag wurden bisher nicht bekannt. Mit dem Besuch von Kanzler Scholz in Südamerika stellt sich auch der Abschluss eines Handelsvertrages zwischen dem Mercosur und der EU neu. Es liegt im Interesse beider Seiten, dass nach mehr als 20 Jahren Verhandlungen ein Abschluss zustande kommt. Allerdings sind einige wichtige Veränderungen im Vertragsentwurf erforderlich.

Denn Brasilien will seine Interessen hinsichtlich seiner Industrie und der erforderlichen Technologien gewahrt sehen. Momentan ist der Entwurf sehr zugunsten der Europäer ausgelegt.

Vor der Lula-Regierung steht die Aufgabe der Re-Industrialisierung, der technologischen Innovation und die Lösung ökologischer Fragen. Lange Zeit wurde der Vertrag EU-Mercosur als bilateraler Freihandelsvertrag behandelt, ohne dabei an eine institutionelle Verstärkung des Mercosur zu denken. In der vorliegenden Form mit seinen Asymmetrien gleicht er einem Vertrag neoliberalen Charakters.

Präsident Lula setzte seine außenpolitische Tätigkeit mit einem Besuch in den USA und mit Gesprächen mit US-Präsident Biden fort. Lula hob im Gespräch mit Biden hervor, dass es in der Zusammenarbeit beider Staaten nicht um Geld, sondern um die Sicherung der Demokratie gehe. Denn die Auseinandersetzungen mit rechten Kräften in den USA (Trump) und in Brasilien (Bolsonaro) sind nicht beendet.

Lula lehnte Bidens Ansinnen, die Weltgemeinschaft gegen Russland zusammenzuschließen, ab. Brasilien werde keine Munition liefern, weil es sich nicht am Krieg beteiligen, sondern den Krieg beenden wolle. Die nächste Station Lulas wird voraussichtlich China sein.

Bundeskanzler Scholz erklärte auf der Münchner Sicherheitskonferenz:

Um als Europäer in Indonesien, Indien, Südafrika oder Brasilien glaubwürdig zu sein und etwas zu erreichen, ist ein ehrlicher Interessenausgleich notwendig, der die Grundlage für gemeinsames Handeln schafft. Es sind gemeinsame Lösungen zu erarbeiten, um in diesen Regionen wachsende Armut und Hunger infolge Russlands Kriegs, des Klimawandels und der Corona-Pandemie zu erarbeiten. Dafür braucht es solche neuen Formen internationaler Solidarität und Mitsprache wie beim G20-Gipfel, an dem auch Vertreter Asiens, Afrikas und Lateinamerikas mit am Verhandlungstisch saßen.

Das sind neue Töne: Es geht um einen "ehrlichen Interessenausgleich" mit Ländern des Südens. Es bleibt abzuwarten, wie Brasilien und andere Länder auf diese Worte reagieren. Das Werben um Brasilien und andere hat begonnen.

Prof. Dr. Raina Zimmering ist Professorin an der Universidad Nacional de Colombia en Bogotá und an der Johannes Kepler Universität Linz in Österreich, seit 2017 Senior Research Fellow am Institut für Internationale Politik in Potsdam

Achim Wahl ist Politikwissenschaftler / Lateinamerikanist, langjährige Aufenthalte in Südamerika, Senior Research Fellow der WeltTrends-Instituts für Internationale Politik