Bürgerbeteiligung per Zufallsentscheid in Hessen?

Der Zufallsentscheid ist eine radikale Abkehr vom Dialog, vom klassischen Argument und von der Meinungs- sowie Entscheidungsbildung durch Überzeugungskraft

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Bürgerbeteiligung ist in aller Munde: Politiker agieren scheinbar bürgernah, Unternehmen setzen auf Akzeptanzbildung durch Bürgerbeteiligung. Bürgerinnen und Bürger fordern Beteiligung. Und auch die Forschung ist fächerübergreifend interessiert an der Behandlung von Meinungsbildung, Konsens und Dissens. Das Hessische Ministerium des Inneren und für Sport sieht in einem Entwurf für eine geplante Novelle der Hessischen Gemeindeordnung vor, dass zukünftig der Zufall bei der Bürgerbeteiligung ein Wörtchen mitzureden hat. Aber was hat das für Konsequenzen und wie steht es hier um die Bildung von Leitlinien der Bürgerbeteiligung?

Drei Vorschläge zur Erneuerung der hessischen kommunalen Bürgerbeteiligung

Das Hessische Ministerium des Inneren und für Sport hat aktuell einen Link auf ./44968_1.pdf vorgelegt. In diesem Entwurf finden sich auch drei Änderungen zur Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene. Die ersten beiden Vorschläge sind erwartungsgemäß auf dem Tisch gelandet und bringen wenig Neues mit sich:

  1. Die Quoren für Bürgerentscheide sollen (erwartungsgemäß) herabgesetzt und nach Stadtgröße geordnet werden.
  2. Auch in Hessen sollen Ratsbegehren eingeführt werden - gewissermaßen Bürgerbeteiligung "von oben", wobei Gemeindevertreter unter gewissen Bedingungen die Bürgerinnen und Bürger entscheiden lassen dürfen.

Der dritte Vorschlag bringt aber - eigentlich - Zündstoff mit sich: Wenn zwei Bürgerentscheide am gleichen Tage zum gleichen Inhalt mit gleicher Stimmenzahl und mit einander widersprechenden Ergebnissen (Ja vs. Nein) durchgeführt werden, dann soll das Los (der Zufall) entscheiden, welcher Entscheid maßgebend ist.

Erstaunlicherweise findet gerade dieser Vorschlag keinerlei negative Resonanz in den bisher abgegebenen Stellungnahmen z.B. des Deutschen Städtetages und einiger führender Fraktionspolitiker auf kommunaler Ebene. Die bisherige Resonanz bezieht sich vor allem auf die geäußerte Befürchtung, durch die neuen Quorenregelungen lediglich Partikularinteressen zu bedienen und die gewählten Vertreter zu entmachten.

Der dritte Vorschlag - die Kollisionsregel - ist aber der eigentlich interessante und radikale Vorschlag. Sicherlich mag es zunächst artifiziell erscheinen, sich überhaupt so eine Situation auszumalen. Aber es wäre nicht die erste Stichwahl und nicht das erste Unentschieden nach Ablauf der Spielzeit.

Es mag verschiedene positive Gründe für den Zufallsentscheid geben:

  1. Kostenreduzierung für Politik, Verwaltung und Bürgerschaft durch die Vermeidung endloser Dialoge und Argumentationsverfahren
  2. Vermeidung von Nachteilen für diejenigen Bürgerinnen und Bürger ohne entsprechende Ressourcenausstattung zur langen und dauerhaften Führung vieler Bürgerentscheide
  3. Anerkennung des Forschungsstandes zur Behandlung von Dissens: Die Soziale Epistemologie als Forschungsgebiet kennt kein allseits anerkanntes Verfahren, um einen Dissens zwischen zwei Bürgerentscheiden rational, gerecht, anschauungsneutral, gemeinwohlorientiert und zugleich partikularistisch und demokratisch aufzulösen. Bestenfalls könnte man in einem zweistufigen Verfahren allen Beteiligten einen Bürgerentscheid über eine Position anbieten, die allen geäußerten Positionen inhaltlich am nächsten liegen würde.

Zufallsentscheide können zudem innovativ und pragmatisch sein. Der Zufallsentscheid sorgt für ein gewisses Risiko, mit dem man leben muss - und das kann Innovationen hervorbringen. Zudem beendet der Zufallsentscheid womöglich endlose Dialogverfahren, die unter dem Grundsatz der allgemein anerkannten Handlungslogik unseres demokratischen Systems nicht konstruktiv auflösbar wären. Das ist insbesondere bei derart verhärteten Fronten der Fall, die sich auf einfache Ja-Nein-Positionen reduzieren lassen.

Dennoch muss dieser Vorschlag brisant für diejenigen sein, die dialogisch und argumentativ einen Bürgerentscheid herbeigeführt haben. Der Zufallsentscheid ist eine radikale Abkehr vom Dialog, vom klassischen Argument und von der Meinungs- sowie Entscheidungsbildung durch Überzeugungskraft. Demokratietheoretisch scheint hier die Politik ein Versagen zu konstatieren: Es ist ihr mit den ihr bekannten Mitteln nicht innersystemisch möglich, einen solchen Dissens zwischen zwei Bürgerentscheiden aufzulösen. Aber ist das tatsächlich so?

Expertendissens und Bürgerdissens

Die Schwierigkeit mit Formen so eines Dissenses ist bereits in verschärfter Form bekannt: Wenn zwei Experten die gleichen Fakten (oder gar Schlussfolgerungsweisen) unterschreiben und trotzdem zu zwei verschiedenen Schlussfolgerungen kommen, dann hat man ein Problem. Solche Situationen lassen sich schnell in der Ethik oder in der Klimawandeldebatte rekonstruieren.

Der Dissens unter den Bürgern ist sicherlich nicht ganz so idealisiert: Ob alle Bürgerinnen und Bürger die gleichen Fakten unterschreiben, sei dahingestellt. Ganz sicher unterliegen nicht alle irgendeiner ausgewählten Menge idealer Rationalitätsvoraussetzungen.

Augenscheinlich gibt es noch einen wichtigen Unterschied: In den bisher bekannten Situationen führen die Experten oder Bürger jeweils nur einen einzigen Diskurs, in welchem ihre Meinungen kollidieren. Hier geht es jedoch um eine Kollision zweier Diskurse. Im Lichte der Kollisionsregel zählen jedoch nur der Entscheidungsinhalt sowie das Entscheidungsergebnis - nicht welche Personen mit welchen Argumenten diskutierten. Daher können für die Kollisionsregel beide Diskurse zu einem Diskurs zusammengefasst werden, der gewissermaßen 50:50 geendet hat.

Konsequenzen und Akzeptanz eines zufallsentschiedenen Bürgerentscheids

Nehmen wir für einen Moment an, dass dem so wäre und dass es auch praktikabel möglich sei, festzustellen, dass zwei Bürgerentscheide inhaltlich deckungsgleich seien (z.B. durch Wortlaut und Intention). Nehmen wir auch an, dass es keine Probleme mit einem "Zufallsentscheid", also einem Entscheid ohne "gute Gründe", geben würde.

Es könnte bspw. darum gehen, ob Windkrafträder auf einem Bergkamm gebaut werden. Zwei Bürgerentscheide hierzu ergeben widersprüchliche Ergebnisse. Dann wenden wir die Kollisionsregel an. Wie es der Zufall so will, wird der positive Bescheid gezogen: "Ja, die Windkrafträder sollen gebaut werden." Das hat Konsequenzen für die betroffenen Grundstückseigentümer, für die dort wohnenden Nachbarn, für die dort lebende Flora und Fauna.

Werden diese Konsequenzen durch den Zufallsentscheid legitimiert? Falls nicht - wie könnte man gegen einen Zufallsentscheid eigentlich vorgehen? Verfahrensfehler? Fehler bei Ermessen und Spielraum? Sachliche Argumente? Überzeugungswandel? Wieso sollte ich so einen Bürgerentscheid akzeptieren?

Leitlinien der Bürgerbeteiligung und der Zufallsentscheid

Besprechen wir schließlich noch kurz die Auswirkungen von Zufallsentscheiden für Leitlinien der Bürgerbeteiligung. Könnte der Zufallsentscheid auch ein Vorbild für alle (auch informelle) Bürgerbeteiligungsprozesse sein? Wie würde man so eine Zufallsregel in Leitlinien der Bürgerbeteiligung auf den Ebenen der Kommune oder der Landkreise aufnehmen?

Zunächst einmal würde die Zufallsregel wohl den meisten formulierten Ansprüchen an die Bürgerbeteiligungsleitlinien widersprechen. So ist bspw. nicht nachvollziehbar, wie meine Meinung in einen Zufallsentscheid miteinfließt. Das gesamte Verfahren würde nicht verlässlich sein - niemand kann vorhersagen, wie ein ordnungsgemäß durchgeführter Zufallsentscheid ausgeht. Und ob so ein Zufallsentscheid eine verpflichtende und akzeptierte Wirkung auf die Bürgerinnen und Bürger hat, ist wenigstens fragwürdig.

Fazit

Abschließend muss die finale Fassung abgewartet werden. Es wäre kurioserweise nicht das erste Gesetz, das den Zufall einsetzt, um inhaltliche (nicht: personelle) Fragen zu entscheiden. Die vorgelegte Novelle findet sich u.a. auch schon in historischen Vorläufern im hessischen Landesgesetz.

Dass das nicht so sein muss, zeigen andere Gemeindeordnungen bzw. Kommunalverfassungen. So schreibt die Brandenburgische Kommunalverfassung in §15 (5) vor, dass ein Bürgerentscheidet bei jeweils gleich vielen Ja- bzw. Nein-Stimmen mit "Nein" ausgezählt wird. Die Bayerische Verfassung, Gemeindeordnung sowie Landkreisordnung regeln, dass in solchen Fällen eine neue Stichfrage zu formulieren ist, über die dann erneut zu entscheiden ist.

Die Konsequenzen und Vorbildwirkung so eines Gesetzes mit Zufallsentscheid in inhaltlichen Fragen für die angestrebte kommunale Demokratie sind jedoch kaum abzusehen. Es ist auch letztlich kaum verständlich, wieso gerade in Hessen der Zufall entscheiden soll, in Bayern oder Brandenburg hingegen nicht.

Darüber möchte aber anscheinend niemand diskutieren - weder das Netzwerk Bürgerbeteiligung, noch der Verein Mehr Demokratie, noch der Wiesbadener Kurier hat auf Anfragen und Diskussionsangebote zum Thema geantwortet.