Bundeswehr bildet im Irak ezidisches Peschmerga-Bataillon aus

Seite 3: Eziden: Vorbild Rojava und die Rolle der Frauen

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Die hatte nämlich am 14.1.2015 am Fuße des Shengal-Gebirges den Rat der Eziden von Shengal, "Meclîsa Êzidiyên Şengalê", nach dem Vorbild der 3 Kantone von Rojava gegründet. Die KDP Barzanis boykottierte diese Versammlung.

Dabei hatten die Kommandeure und Stammesführer im Shengal beschlossen, die HPŞ werde zusammen mit der YBŞ die zukünftige Miliz der Eziden in Shengal stellen. Der Beschluss sieht außerdem vor, dass die Eziden in Shengal sich keiner politischen Partei oder Armee unterwerfen werden. Hintergrund des Beschlusses war ein Streit zwischen der YPG, einzelnen verbliebenen Peschmergas und der HPŞ im Herbst 2014, welche Fahne in Sherfêdin nach der Befreiung gehisst werden dürfe. Angesichts der stetigen Kämpfe aller Einheiten, von YPG/YPJ und HPG bis YBŞ und HPŞ, gegen die IS-Angriffe konnte dieser Streit schnell beigelegt werden.

Der Kommandant der Volksverteidigungskräfte im Shengal, Egit Civyan, erklärte in einem Interview für das Nachrichtenportal ANF am 24.6.15, dass die erfolgreiche Entwicklung in Rojava bei den Eziden zu Enthusiasmus und neuer Hoffnung geführt habe. Er appellierte an die nordirakischen Parteien KDP (Barzani) und PUK (Talabani), eine nationale kurdische Einheit zu bilden gegen den IS:

Without a doubt, the most challenging resistance is made in Rojava, which inflicts heavy blows on ISIS gangs and liberates many settlements. This boosts the morale of the peoples in the region, including Kurds, Arabs, Turkmens, Assyrians, etc. This is why the victorious developments in Rojava create hope and enthusiasm among Ezidi people, who have been subjected to the brutal attacks and massacres of ISIS gangs since August 3, 2014. The Ezidi people are more hopeful with regards to returning to their own lands.

Er kritisiert die Haltung der KDP, den Einsatz der Guerillaeinheiten der HPG nicht zu akzeptieren und zu würdigen und tritt für eine gemeinsame Haltung aller Verteidigungseinheiten für die kurdische Frage ein. 3 Und er fordert Präsident Barzani auf, die Autonomiebestrebungen der Eziden ernst zu nehmen und nicht für eigene politische Interessen zu instrumentalisieren.4

Ähnlich argumentiert der Vorsitzende des ezidischen Zentralrats aus Shengal, Seid Hisen:

Mit der Bildung des Volksrats Shengal ist eine Grundlage geschaffen worden. Wir nehmen diplomatische Kontakte in Europa auf und sammeln verschiedene Sichtweisen. Wenn wir die nötige Unterstützung bekommen, dann werden wir das tun. Dies würde auch der irakischen Verfassung entsprechen und wir sind guter Dinge, dass wir die Selbstverwaltung bald ausrufen können. Wir wollen das gleiche Modell wie in Rojava aufbauen. In der Stadt Sinjar ist Krieg, daher konnten dort noch keine autonomen Strukturen aufgebaut werden, da dort niemand wohnt und nur Kämpfer von HPG und YPS sind, Peschmerga sind weit weg.

Mit dem Schlagwort "Rojava" ist das Modell der "Demokratischen Autonomie" gemeint, welches sich rätedemokratisch in Kantonen organisiert. Diese Kantone sind in sich selbstverwaltet und mit den anderen Regionen föderiert. Zentrum der Selbstverwaltung sind die Räte, wobei die Herausbildung neuer Nationalstaaten keine Rolle spielt und sowohl der irakische, der türkische oder der kurdische Quasi-Nationalstaat im Nordirak/Südkurdistan nicht angetastet werden.

Die im Volksrat von Shengal vertretene Bevölkerung definiert sich als ezidische Kurden, da der ezidische Glaube vor der islamischen Expansion eine der am meisten unter Kurden verbreiteten Religionen gewesen sei.

…eigentlich sind alle Kurden ursprünglich Eziden. Wer sagt, dass Eziden keine Kurden sind, liegt völlig falsch. Das hat etwas damit zu tun, dass wir viele Verfolgungen ausgesetzt waren durch den Islam, auch von islamischen Kurden, das ist eine Reaktion darauf, aber eigentlich ohne Zwangsislamisierung sind alle Kurden Eziden.

Dennoch geht so viel Autonomie den Verfechtern eines autoritären kurdischen National- und Zentralstaats in Hewler zu weit. Präsident Masoud Barzanî, der für eine immer weitergehende Autonomie gegenüber dem Irak bzgl. Südkurdistan einsteht, griff das Projekt eines Kantons Shengal am 17.01.2015 scharf an und rekurriert auf Argumentationsmuster, welche von den zentralistischen Regionalmächten sonst gegen die kurdische Bevölkerung bekannt sind:

Dies ist ein Angriff auf die die Vorherrschaft der Region Kurdistan. Dies ist ein Versuch sich durch Gewalt Akzeptanz zu verschaffen und eine Anstrengung, welche die Teilung des Landes herbeiführt. … Gegenüber dieser falschen und illegalen Politik werden wir nicht schweigen.

Die PDK versucht alles, um ihre Machtposition im Shengal-Gebiet zu festigen und hat diese Region gegen die Ausrufung eines Kantons Shengal nach Angaben des Volkssprechers unter ein Embargo gestellt. So kommen Lebensmittel, Medikamente etc. anscheinend fast ausschließlich über den Kanton Cizire in Rojava in die Shengal-Region, während die Peschmerga der PDK sogar Zelte humanitärer Organisationen beschlagnahmen.

Auf diese Weise wird weiterhin ein Klima der Unsicherheit im Shengal erzeugt, - einer der Gründe warum immer mehr Menschen das Gebiet verlassen. Während der Ezidische Volksrat erklärt, dass Shengal künftig eine Region werden soll, in der Eziden, Christen, schiitische und sunnitische Araber in Frieden zusammen leben können5 schafft die PDK anscheinend Fakten, indem nicht erwünschte Bevölkerungsgruppen vertrieben werden.

Peshmerga und die arabische Bevölkerung

Die Diskriminierung der arabischen Bevölkerung in Südkurdistan ist augenfällig, allerdings wurde anscheinend gerade in der Region um den Shengal ebenfalls auf gezielte Vertreibungen und Dorfzerstörungen gesetzt. So berichtet die Krisenbeauftragte von Amnesty International, Donatella Rovera von Aussagen von Peschmergas bzgl. des zerstörten arabischer Dorfs Barsanke:

Die Zerstörungen dort waren so gewaltig, dass mir klar war: Niemand kann einfach zurückkommen, weil es nichts gibt, wohin man zurückkommen kann. Buchstäblich jedes einzelne Haus war zerstört. Und zwar nicht aufgrund der Kämpfe, sondern die Peschmerga hatten das Dorf anschließend plattgemacht. Vorsätzlich und erst nachdem der IS sich längst zurückgezogen hatte. Die Peschmerga dort erzählten mir ganz offen: Sie hätten Haus für Haus eingerissen, um sicher zu sein, dass die arabischen Bewohner nicht mehr zurückkommen würden.

Weiter berichtete sie aus einer von Kurden und Araber bis 2014 gemeinsam besiedelten Ortschaft, dass Peschmerga sagten:

Wir werden alle arabischen Häuser in die Luft sprengen, damit die Araber nicht zurückkommen. Sie waren dabei, alle leer stehenden kurdischen Läden zu beschriften, damit niemand sie plünderte. Was mit den arabischen geschehen würde, ergab sich aus dem Umkehrschluss. Die Araber sind bisher zu keinem Dorf zurückgekehrt, das die Peschmerga wiedererobert haben. Grundsätzlich hat kein Araber im Augenblick die Möglichkeit, wieder in sein Heimatgebiet zurückzukehren.

Vor diesen Hintergründen ist es sehr problematisch, wenn die Bundesregierung weiterhin auf die Peschmergas setzt und YPG/YPJ, YBS und HPG durch Kriminalisierung und Embargo zu schwächen versucht. Schaut man sich das Ergebnis der von Barzani medienwirksam nach Kobanê/Rojava gesendeten 150 Peschmergas genauer an, so kämpften diese mit ihren besseren Waffen in der 2. Reihe. Im Shengal tauchten sie mit Forderungen auf die Kommandohoheit erst auf, als die größte Katastrophe vorüber war. Als der IS wenige Kilometer vor der kurdischen Hauptstadt Erbil stand, waren es PKK- Einheiten, die sie zurückgedrängt haben.

Frauen in der Truppe

Auch aus einem ganz anderen Blickwinkel wird die Ausbildung der ezidischen Peschmerga misstrauisch beäugt, nämlich aus Sicht der Frauen: Sie fürchten einen Rückschritt in dem erkämpften Emanzipationsprozess.

Ob es bei der Truppe ezidischer Peschmerga auch Frauen gibt, die von der Bundeswehr ausgebildet werden, ist nicht bekannt. Währenddessen kämpfen auf dem Shengal autonome Fraueneinheiten der YBȘ, wie auch der HPG und YPJ. Unter der Führung von HPG, YPG/YPJ lassen sich sie sich an der Waffe ausbilden, um gegen den IS zu kämpfen - aber auch, um eigene Strukturen aufzubauen und um sich als Frauen neu zu positionieren.

Wie soll das funktionieren, wenn Frauen im Kampf gegen den IS auf Augenhöhe mit ihren männlichen Kollegen kämpfen und in den Bergen ihr Leben unter schwierigsten Bedingungen gemeinsam organisieren, wenn sie sich danach wieder in die patriarchalischen Familienverbände integrieren sollen? Auch hier ist ein Effekt, ähnlich wie in Rojava zu spüren: Der Aufbau der Demokratischen Autonomie mit autonomen Frauenräten, kämpfenden Fraueneinheiten und der Frauenfreiheitsideologie der kurdischen Bewegung hat einen transformierenden Effekt auf patriarchal formierte Gesellschaften.

Dies zeigt sich auch in den neuesten Entwicklungen auf der religiösen und sozialen Ebene in der ezidischen Gesellschaft, wo sich deren religiösen Oberhäupter für eine Rehabilitation der entführten und misshandelten Frauen und Mädchen stark machen.

Die Rolle der Frau bei den Peschmerga

Vielleicht ist es im Westen eine marginale, aber im Nahen und Mittleren Osten ist es mittlerweile eine grundlegende Frage: die Rolle der Frau in den militärischen Einheiten und im Alltagsleben. Die Frauen in irakisch Kurdistan, wie auch die seit kurzem existierenden Fraueneinheiten bei den Peschmerga haben keinen expliziten emanzipatorischen Ansatz wie bei der YPJ und HPG(YJA-STAR). Sie führen ein traditionelles Leben in der Familie an Heim und Herd und leisten wie unsere Soldatinnen der Bundeswehr ihren Dienst in gemischten Einheiten.

Frauen bei den Peschmerga waren bislang nur für die Logistik und andere Aktivitäten hinter den Frontlinien zuständig. Seit November 2014 gibt es allerdings das 2. Frauenregiment, das, so Colonel Nahida Ahmed, auch bereit sei, in den Kampf gegen den IS zu ziehen, wenn Präsident Massoud Barzani dies anordne

Im irakischen Kurdistan sind - wie auch bei uns - Frauen in Führungspositionen die Ausnahme und werden als exotisch wahrgenommen. Bei den Fraueneinheiten der YPJ und HPG sieht das ganz anders aus: In regelmäßigen Schulungen werden diese Frauen nicht nur an Waffen, sondern auch in politisch emanzipatorischen Themen ausgebildet. Sie sind auf Augenhöhe mit den männlichen Einheiten der YPG und HPG.

Männer müssen dort genauso kochen, waschen und Verletzte versorgen wie die Frauen. In den politischen Institutionen gibt es in Rojava, aber auch mittlerweile in den kurdischen Gebieten der Türkei eine Doppelspitze bei allen wichtigen Ämtern wie z.B. bei den Bürgermeistern (Kurden erklären Gleichberechtigung der Frauen).

Die Ausbildung durch die Bundeswehr wird sicherlich auch keinen emanzipatorischen Ansatz einbringen, denn dieser fehlt ja auch hierzulande. Deswegen überrascht es auch nicht, wenn auch das "Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr" nach wie vor altbekannte Probleme im Zusammenleben der Geschlechter innerhalb der Bundeswehr beschreibt von sexuellen Übergriffen bis dahin, dass den Frauen nicht zugetraut wird, Führungspositionen einzunehmen und die Frauen dort eher männliche Attribute übernehmen um sich zu behaupten.

Misshandelte Mädchen und Frauen werden in die religiöse Gemeinschaft wieder aufgenommen

Was geschieht mit den vielen misshandelten und vergewaltigten Frauen und Mädchen, die von ihren Peinigern fliehen konnten? Diese Frage stellte sich mir schon im August letzten Jahres, (Rojava macht Schule), denn nach ezidischem Glauben darf eine ezidische Frau keinen Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe haben und schon gar nicht mit Männern einer anderen Glaubensrichtung.

Dies, und die Konvertierung zu einem anderen Glauben, auch unter Zwang, galt lange als unverzeihliche Sünde und führte unwiderruflich zum Ausschluss aus der Glaubensgemeinschaft und zum Verstoß aus der Familie. Die Ächtung der betroffenen Frauen durch die Familie führte auch bei den Eziden zu Blutrache und Frauenmorden.

Massenentführungen, Zwangskonvertierungen und Vergewaltigungen ezidischer Frauen und Mädchen durch den IS zwangen auch die soziale und religiöse Führung der Eziden seit August 2014 zu neuen Konzepten für ihr soziales und religiöses Leben. Besonders dringend war die Beantwortung der Frage, wie man die traumatisierten Frauen und Mädchen wieder in die Gemeinschaft aufnehmen könnte. Dies ist die Vorbedingung, damit die Großfamilien ihre Angehörigen ebenfalls wieder aufnehmen können.

Hunderte von Frauen und Mädchen konnten mittlerweile von ihren Peinigern fliehen, wurden aus der Gefangenschaft entlassen oder wurden freigekauft. Sie landeten in Flüchtlingslagern und fühlten sich unrein und stigmatisiert. Khider Domle, ein langjähriger Ezidi-Aktivist und Mediendirektor an der Universität von Dohuk/Nordirak setzte sich beim spirituellen Oberhaupt der Eziden, Khurto Hajji Ismail, bekannt als Baba Sheik, für eine Änderung der Doktrin ein.

Das Ausmaß der Krise und des Leides der misshandelten Frauen und Mädchen führte bei Baba Sheik zur Einsicht, dass Handlungsbedarf bestehe, diese Frauen wieder in die Glaubensgemeinschaft aufzunehmen.

Am 7. September 2014 legte Domle bei einem Treffen mit Baba Sheik einen Entwurf vor, der eine offizielle öffentliche Änderung der alten Doktrin vorsah. Baba Sheik und seine Berater ordneten darauf an, dass die Frauen und Mädchen in ihren Glauben zurück getauft werden können - ein Ritus, der vor ein paar Monaten undenkbar gewesen wäre.

Die leitende UNHCR Schutzbeauftragte Jacqueline Parlevliet in Erbil, die die Gemeinde- und Frauenzentren unterstützen, indem sie den Frauen Rechtsberatung und individuellen Schutz bieten, meinte dazu: "We’ve seen a strong call of support from Yazidi leadership…and this is very valuable."

Auch die leitende Beraterin für Krisenintervention von Amnesty International, Donatella Rovera bezeichnete die Entscheidung der ezidischen religiösen Autoritäten als beispiellos. Nur so könne vermieden werden, dass die Frauen und Mädchen als beschämender Einzelfall angesehen werden.

Das Aufbrechen traditioneller patriarchaler Strukturen und die Ausbildung demokratischer Strukturen im Nahen Osten müsste eigentlich von der Bundesregierung als unterstützenswert eingestuft werden, zumal hier Demokratie nicht von oben verordnet wird, sondern von der Bevölkerung entwickelt und gelebt wird.

Dass dies auch im militärischen Bereich erfolgreich geschieht, müsste Verteidigungsministerin van der Leyen nachdenklich stimmen. Nachdenklich, weil die Selbstverteidigungseinheiten die bundesdeutsche Armee in Sachen Emanzipation überholt haben, und nachdenklich, dass sie durch die Unterstützung der Peschmerga eine feudale, auf traditionellen Familienverhältnissen basierende Machtstruktur unterstützt.