Cannabis-Legalisierung: Über Ursachen und Risiken des Konsums
Seite 2: Substanzen und Sozialpolitik
- Cannabis-Legalisierung: Über Ursachen und Risiken des Konsums
- Substanzen und Sozialpolitik
- Auf einer Seite lesen
Und das ist der Punkt, an dem mich Aussagen konservativer Politiker oder jetzt eben der Polizeigewerkschafter stören: Ich konsumiere zwar keine verbotenen Substanzen und habe das auch nicht vor; aber ich weiß von den sozialen Ursachen für diesen Substanzkonsum.
In Anlehnung an Karl Marx könnte man sagen, dass in einer säkularisierten Welt nicht Religion, sondern Opium das Opium des Volkes ist. Will sagen: Viele Menschen konsumieren bewusstseinsverändernde Substanzen, um mit Erfahrungen von Ausgrenzung, Demütigung, Langeweile, Stress oder Traumata umzugehen.
So erhält das Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft eine überraschende, zweite Wendung: Es ist nicht nur so, dass das Verhalten des Einzelnen Auswirkungen auf das Ganze hat, sondern auch die Erfahrungen des Individuums entscheidend von den sozialen Umständen abhängen.
Und so wird aus der Drogenpolitik der Konservativen eine doppelte Stigmatisierung: Erst werden Menschen ausgegrenzt - etwa über konkrete Benachteiligung im Bildungs-, Wirtschafts- und Steuersystem. Wenn sie dann - freilich nicht alle, doch viele - zu bestimmten Substanzen greifen, um diese Ausgrenzungserfahrungen besser zu ertragen, folgt die zweite Ausgrenzung, jetzt als "Drogenkriminelle".
Drogen im Krieg statt Drogenkrieg
Ein krasses, doch anschauliches Beispiel war der Vietnamkrieg (1955-1975): Hier schickten konservative US-Politiker andere Männer - darunter viele Unterprivilegierte, Wohlhabende konnten sich mitunter freikaufen - in einen sinnlosen Krieg. Man musste halt den Kommunismus besiegen.
Um diese Hölle auf Erden auszuhalten, konsumierten nach offiziellen Angaben etwa 30 Prozent der US-Soldaten regelmäßig(!) Marihuana, 10 bis 15 Prozent Heroin. Die Konsumenten, die den Krieg überlebten, brachten ihre Traumata und Substanzerfahrungen dann natürlich mit zurück in ihr Heimatland.
Hier könnte man auch einen Bogen zum Zweiten Weltkrieg und anderen Kriegen schlagen, wo Amphetamin und andere Stimulanzien weitverbreitet waren. Mit anderen Worten: Wenn es den Wirtschafts- und Kriegsinteressen konservativer Politiker nutzt, sollen Drogen opportune Mittel sein; doch wenn man damit unbeliebte Gruppen ausgrenzen kann, werden dieselben Substanzen dämonisiert!
Damit ist nach meiner Einschätzung die gängige, ja herrschende Drogenpolitik völlig delegitimiert: Es ist einfach nicht gerecht, Menschen erst mit Gesetzen und staatlichen Institutionen auszugrenzen - und sie dann dafür zu bestrafen, wenn sie diese erfahrene Ausgrenzung mit Substanzkonsum kompensieren.
In einer idealen Welt müsste natürlich niemand zu den Mitteln greifen, um die Gesellschaft besser auszuhalten. Unsere reale Welt könnte man aber mit einer liberaleren Drogenpolitik immerhin ein Stückchen weniger ungerecht machen.
In diesem Sinne spricht der steigende Konsum von Schmerzmitteln, Cannabisprodukten und anderen Substanzen in den letzten Jahren eine deutliche, soziale Sprache. Bloß in einem anderen Sinne, als konservative Politiker uns glauben machen wollen.
Gesundheitsrisiken
Natürlich geht Substanzkonsum - wie alles andere auch - mit bestimmten Risiken einher. Gefahren durch verunreinigte Stoffe und falsche Dosierungen sind aber eine direkte Folge der restriktiven Drogenpolitik. Verbote lassen sich damit also gerade nicht begründen.
Wenn man nur auf die Konsumenten schaut, dann schätzen wissenschaftliche Experten die Risiken von Crack, Heroin, Methamphetamin, Alkohol, Kokain, Amphetamin (wird als ADHS-Medikament übrigens auch an Kinder verschrieben) und Tabak, in dieser Reihenfolge, als viel höher ein als die Risiken von beispielsweise Cannabis, Steroiden, Ecstasy, LSD oder halluzinogenen Pilzen.
In der Gesellschaft würden Alkohol, Heroin, Crack, Tabak, Cannabis, Kokain und Amphetamin, in dieser Reihenfolge, den größten Schaden verursachen. Diese Schätzungen hängen natürlich auch mit der Verbreitung zusammen.
Bei näherer Betrachtung sind die Einzelstudien und Meta-Analysen zu den Risiken des Cannabiskonsums alles andere als eindeutig (siehe hier eine Übersicht auf Wikipedia). Zudem ist die Kausalität oftmals gar nicht klar: Haben zum Beispiel Menschen mit Cannabiskonsum ein höheres Risiko für psychische Störungen oder greifen umgekehrt mehr Menschen mit psychischen Problemen zu der Substanz? Eine ehrliche Diskussion muss solche Daten neutral betrachten und auch verschiedene Ursachen berücksichtigen.
Ein Polizist, der etwas gegen Drogen hat, wird natürlich mit jedem "bekifften" Unfallverursacher seine Vorurteile bestätigen. Ehrlicherweise widerspricht aber jeder nüchterne Risikofahrer auch diesem Vorurteil. Und den "Abschaum", den er in einem Drogenkonsumenten sieht, hat er mit seiner ausgrenzenden Haltung vielleicht erst selbst erzeugt.
Traditionell waren Kirche, Polizei (mit Justiz) und Psychiatrie die Institutionen zur Aufrechterhaltung der Normalität. Bloß um wessen Normen es geht, das ist hier die Frage.
Hinweis: Der Autor konsumierte im Alter von 14 bis 16 Jahren regelmäßig Cannabisprodukte. Dieser Artikel erscheint ebenfalls in seinem Blog "Menschen-Bilder".