Chaostheorie und Flugzeugabstürze

Barbara Albert über "Böse Zellen"

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"Alles hängt mit allem zusammen, jeder mit jedem. Trotzdem sind hier alle einsam und niemand hat eine Ahnung, wie gutes Leben funktionieren könnte." Ob es das überhaupt gibt, das 'gute Leben', ist eine der Kernfragen des Films "Böse Zellen". Trotz seines Titels hat der weder mit Krebskrankheit, noch mit der Gentechnologie zu tun, und schon gar nicht mit Terrorismus. Aber mit allem davon ein wenig. Denn sein Thema ist die Suche nach dem Glück, an den verschiedensten Orten, und das Leiden daran, dass man es an keinem so recht findet. Mit dem herausragenden "Nordrand" wurde die Regisseurin und heute 34jährige Österreicherin Barbara Albert im Jahr 2000 schlagartig bekannt. Das sozialrealistische Alltagsdrama passte gut zu den Werken anderer österreichischer Filmemacher - Michael Haneke, Jessica Hausner, Ulrich Seidl - die die genaue Beobachtung vor die Bewertung stellen, denen offene Fragen wichtiger sind als fertige Antworten. "Böse Zellen", Alberts neuer Film, schlägt nun eine neue Richtung ein: Ein Episodenfilm, der an die Alltagspanoramen Robert Altmans und Todd Solondz' ebenso erinnert, wie an Paul Thomas Andersons "Magnolia", das vom Leben handelt, also vom Tod und von der bösen Mehrheit, von Schicksal, Gnade und Verzeihung, aber auch von der Chaostheorie und von Flugzeugabstürzen. In der latenten Bedrohung und Trostlosigkeit, die im Hintergrund mitschwingt, liegt eine genaue Momentaufnahme zugleich lassen manche Einstellungen ahnen, dass da noch mehr ist, Überirdisches vielleicht.

Helles Licht strahlt ins Hotelzimmer, der "Macarena"-Song, der vor ein paar Jahren 'in' war, erklingt, vielleicht eine Spur zu laut. Eine junge Frau im Ausland; Sonne, Schweiß und Palmen - die Stimmung ist bereitet für ein sarkastisches Panorama über Tourismus und westliches Lebensgefühl, Depression im Überfluss, wie man es beispielhaft in den Romanen Houellebecqs oder in Ulrich Seidls Film "Hundstage" erlebt hat. Doch Barbara Albert schlägt schon gleich zu Beginn einen anderen Ton an. Man sieht, dass die junge Frau packt, ihr Urlaub in Brasilien ist zuende. Noch ein paar schnelle Postkarten am Flughafen, dann steigt sie in den Flieger. Der letzte Blick aus dem Fenster, das Flugzeug startet.

Schnitt. Ein Chor singt fromme Lieder. "Vom Himmel hoch, da komm ich her..." Sanft nimmt die Kamera ein Wandbild in den Blick, gleitet darauf zu: Religiöser Kitsch, auf ein Kind fällt durch wolkenverhangenen Himmel ein göttlicher Schein. In diese Wolken hinein zoomt die Kamera, sie werden plastisch, und wir Zuschauer befinden uns wieder im Flugzeug. Diese Sequenz ist nicht nur in ihrer Überbrückung von Zeit und Raum, von verschiedenen Realitäten, echtes Kino, sie zeigt auch ganz großartig die spezielle Kunst dieses Films: seine mal beiläufigen, mal dramatisierenden Übergänge, seinen subtilen Witz. Das Flugzeug ist in Turbulenzen geraten, es schüttelt hin und her; die junge Frau bekommt Nasenbluten, und wir spüren, dass dies nicht gut gehen wird - lange noch bevor die Stille einsetzt...

"Böse Zellen" ist ein Katastrophenfilm eigener Art. Den Flugzeugabsturz wird Manu, das Mädchen vom Anfang, zwar überleben. Aber dann, "6 Jahre später", als die eigentliche Handlung des Films einsetzt, geht die Katastrophe weiter, auf andere, stille Weise. Man lernt Manus Leben kennen, ihren Mann, ihre kleine Tochter, ihre Freundin Andrea, mit der Manu eines Abends zum Tanzen in eine Disco geht. Auf dem Rückweg stirbt Manu dann bei einem Autounfall. Unglaublich, aber wahr, nicht nur im Kino:

Da ist eine Frau, eine Deutsche, in den 70er Jahren irgendwo abgestürzt, hat als einzige überlebt, und ist dann später doch bei einem Flugzeugabsturz gestorben. Völlig absurd.

erzählt Albert im Gespräch von einer der vielen Anregungen zu dieser Geschichte. Dieser Tod wird zum ersten Kreuzungspunkt für eine Gruppe von Menschen, die alle auf irgendeine Weise etwas mit Manu zu tun haben. Ihre Familie, Freunde, Kai, der Unfallverursacher und seine seitdem querschnittgelähmte Freundin Gabi, auch Menschen, mit denen sie nur mittelbar zu tun hat, wie etwa Sandra, eine Afroösterreicherin, in die sich ihr Bruder verliebt oder wie Kais Mitschülerin Patricia. Deren Schicksal verknüpft der Film nun zu einem virtuosen, überaus souverän erzählten Puzzle. Ein Episodenfilm. Rein formal im Stil der Montage an Werke Robert Altmans, etwa "Nashville" und "Short Cuts" erinnernd, in seiner dramatischen Überhöhung und dem Mut, die Grenzen der wahrnehmbaren Realität zu unterminieren, dann aber doch eher an Paul Thomas Andersons Schicksalsdrama "Magnolia". Und indem es Barbara Albert vermag, in einer angenehmen, manchmal richtig beglückenden Weise von totaler Depression zu erzählen, und in der latenten Bedrohung und Trostlosigkeit eine genaue Momentaufnahme zu bieten, erinnert ihr Film tatsächlich an ihr erklärtes Vorbild Todd Solondz und seine Filme "Welcome to the Dollhouse", "Happiness" und "Storytelling". Ein Realismus, der vom Interesse am Dokumentarischen weit entfernt ist.

Ich wollte eine Art Hyperrealismus. Stilisierter, weniger naturalistisch. Diese Geistebene ist für mich Teil des Realistischen. Ich möchte, dass sich das vermischt, und beide Ebenen aufeinandertreffen. Weil ich nicht sagen will: Nur das eine ist Realität. Dass der Film diese Irritationen auslöst, diese Hilflosigkeit. Das wollte ich schon. Es stimmt: Dieser Film ist weniger situativ, eher ein Blick von Außen auf Systeme. Es sind sehr viele Figuren und da tun sich manche Leute schwer, mitzugehen. Aber die, die mitgehen, werden emotionalisiert.

Frühling, Sommer, Herbst, Winter - die gleichförmige Ordnung der Natur ist das erste Modell, nachdem der Film strukturiert ist, noch ganz an der Oberfläche. Analog dazu entsteht in dem Wiener Vorort, in dem der Film spielt, auch ein Einkaufszentrum mit prächtiger Shopping Mall. Die Idee der Chronologie, des geordneten Ablaufs der Jahreszeiten und Kreislaufs der Natur ist auch die einer sinnvollen Vollendung. Das Werk, das getan wird, das Gebäude, das am Filmende fertig dasteht, ist auch Sinnbild für geglücktes Leben, ja für Glück selbst: "Wir machen Sie glücklich!" verkündet ein Werbeplakat.

Mit der Ordnung der Natur korrespondiert die Ordnung der Gesellschaft mit ihren nicht weniger vertrauten Strukturen aus Überwachung und Sanktion, Kontrolle und Disziplinierung: Ein kleines Mädchen kommt zur Kindergärtnerin, und zeigt auf eine Gleichaltrige: "Die malt den Hasen orange, dabei stimmt das doch gar nicht." verkündet sie stolz, denn sie hat etwas gelernt. Und die Kindergärtnerin sagt zu der anderen: "Mal den noch mal richtig." In "Böse Zellen" geht es auch darum, inwiefern Gesellschaft ein System ist, das die Menschen einordnet, einander anpasst. Dieses andere kleine Mädchen ist Manus Tochter, und sie fällt uns schon auf, bevor wir wissen, dass Manu bald stirbt: "Wenn man tot ist, kommt man dann als etwas anderes wieder?" fragt sie und stört damit eine Situation, in der junge Frauen gerade über Vor- und Nachteile des Seitensprungs reden.

Während Alberts erster Film "Nordrand" eine Situation geschildert hat, schildert "Böse Zellen" eine Weltsicht. Der Film hat etwas sehr Grundsätzliches. In seinen Themen, darin, dass er von der Mechanik der Beziehungen handelt, vom "System Gesellschaft", aber ebenso in der Tatsache, dass er Menschen zeigt, die zum Teil ganz jung sind, zum Teil ganz alt. Lebensphasen, Lebensmöglichkeiten. Alberts Blick ist hier nie zynisch, im Gegenteil voller Liebe und Sympathie zu ihren Figuren, aber doch auch illusionslos in der Beobachtung und voller Sinn für Ironien. Sie schaut nicht weg, sondern hält drauf - eine Ernüchterung, die ihr manche jetzt vorwerfen.

Albert: "Diesen Verlust der Unschuld, den finde ich nur gut. Ich mag ja "Böse Zellen" deshalb gern, weil er nicht so naiv ist."

Ist dies der spezifisch österreichische Blick, den man als Deutscher in vielen österreichischen Gegenwartsfilmen glaubt, zu erkennen?

Albert: "Spezifisch österreichisch ist die Sprache. Sie ist oft für Deutsche komisch, niedlich, eigenartig oder lustig. Damit müssen wir uns auseinander setzen. Die Sprache trägt viel dazu bei, uns in eine Kategorie zu werfen. Ein zweiter Grund ist unsere Geschichte. Früher habe ich mich dagegen gewehrt. Aber wir Österreicher haben eine andere Art von Schuld- oder Nicht-Schuldbewältigung, und eine andere Schwere. Das spürt man. Unbewältigtes. Untergründiges. Und den Katholizismus. Ich glaube, dass unsere Kulturen sich eigentlich sehr unterschiedlich sich entwickelt haben. Und das macht viel aus, das verarbeiten wir in den Filmen."

Auf die zweite Ebene des Films, seine tiefere Struktur, führen vor allem zwei Figuren. Hier bietet Albert so etwas wie Erklärungsangebote dafür, wie menschliches Zusammenleben funktioniert - allerdings sind diese Angebote äußerst gegenläufig. Die Afroösterreicherin Sandra macht eine Gruppentherapie nach dem Ansatz der "Systemischen Aufstellungen" Bert Hellingers. Unbekannte Menschen fungieren in dieser nicht unumstrittenen Therapieform als "Stellvertreter" mit denen der Patient seine Familie aufstellt. Die Kamera beobachtet diesen Prozess, dessen Grundannahme auf der Vorstellung basiert, Familie bilde ein "System", das den einzelnen massiv beeinflusst, und wenn nicht begriffen, so doch erspürt werden könne. "Alles lässt sich erst verstehen, wenn wir aufhören, nach Schuld zu suchen." sagt die Therapeutin bei der Aufstellung. Und Albert kommentiert:

Für mich hat diese "Aufstellung" auch viel mit Film zu tun: Figuren stehen in Beziehung zueinander in einem Raum. So sehe ich überhaupt das Kino - und eigentlich auch das Leben.

Manus Bruder Lukas, der sich in Sandra verliebt, arbeitet als Physiklehrer und ist ein etwas hilfloser Schwärmer. Fasziniert ist er vor allem von der Chaostheorie, die er seinen Schülern immer wieder näher zu bringen versucht. Hiernach ist die Welt ein Geflecht aus Aktion und Reaktion, in der auch die kleinste Ursache größte Wirkung haben kann - der berühmte Schmetterlingseffekt. "Böse Zellen" ist selbst ein solches Stück Chaostheorie der Gesellschaft und des Lebens. Denn die Lebensgeschichten dieses runden Dutzend Menschen, die der Film vorstellt, ähneln sich in ihrer Substanz - dem hilflosen Herumirren auf der Suche nach ein wenig Glück - und wirken dadurch wie die "Fraktale" der Chaostheorie, eines Einzelteils, das in Gestalt und Struktur immer mit der Gesamtmenge identisch ist.

Theorien wie diese, die der Film selbst anbietet, vermischen sich mit jenen, die die Charaktere vertreten. Etwa die Hoffnung auf den Hauptgewinn in der Lotterie, den göttlichen Eingriff, der einen mit einem Schlag von allen materiellen Sorgen befreit: Das Glücksversprechen der Konsumgesellschaft, dessen alltägliche Form die Shopping-Mall verkörpert. Denn auch der Konsum suggeriert, wie Sex, wie der samstägliche Disco-Ausflug, wie Drogen, die schnelle Glückserfüllung. Und vielleicht ist diese tatsächlich die einzige, die bleibt. Oder man lebt in einer anderen, sekundären Realität, die Fernsehwirklichkeit, die etwa für Unfallfahrer Kai diejenige Form wird, in der er überhaupt noch mit seiner gelähmten Ex-Freundin sprechen kann - indem er in der "Verzeih mir"-Show auftritt, und seine Geschichte erzählt.

Den Lösungsvorschlag: Kauft mehr, dann geht es euch auch besser - den mag ich nicht. Es kommen aber auch andere Lösungsvorschläge vor: Religion oder auch das Fernsehen, die manchen das Gefühl geben, lebendiger und wichtiger zu sein.

Wer an Geister glaubt, wie die Schülerin Patricia, für den ist auch eine spiritistische Sitzung kein Kinderspiel. Und der Film lässt sich auf diesen Glauben ein, indem er uns, allein durch bestimmte Momente seiner Kameraführung, die fortbestehende imaginäre Präsenz von Manu für möglich halten lässt - ein Geisterblick von oben, der natürlich genauso gut der von Gott selbst sein könnte, oder einfach der seiner Stellvertreterin auf Erden, der Regisseurin.

Ein Trost wäre auch das nicht:

Nein, Böse Zellen ist ein Film, in dem es keine Lösung gibt, wobei viele angeboten werden. Ich war mir dessen bewusst, dass ich mit dem Film von Anfang an keine Chance hab, irgendetwas aufzulösen, weil ich Themen aufgreife, die in Wahrheit keine Lösung haben. Das ist vielleicht auch das Irritierende.

Dass in alldem keine Sicherheit über die Perspektive zu haben ist, muss kein Nachteil sein, im Gegenteil, es ist gerade die besondere Stärke von Alberts Film. Auf Kosten der Genauigkeit geht solcher Wahrnehmungspluralismus nie. "Böse Zellen" ist ein offenes Panorama, das in seiner Bedeutung über Österreich weit hinaus geht. Das Thema ist kein Geringeres, als das Leben selbst - so hoch zielt Albert mit ihrem Film, immer in Gefahr dabei abzustürzen, aber weil sie ihr ausweicht, und ihr dieser Film gelingt, ist er ein brillantes Kunstwerk geworden, voller Mut und Wucht und Präzision.

Hat der Film für Sie ein Happy End?

Albert: Das letzte Bild ist sehr neutral. Davor gibt es ein paar Ansätze. Positive Momente. Mehr braucht's nicht. Um mehr geht's eh nicht. Wir leben und wir sterben. Und das ist es. Das ist versöhnlich: Wir wandeln dahin. Und die zwei Figuren am Schluss, die frei herumwandeln dürfen, sind die nicht geordneten. Sie haben dieses Autonome und dieses Verzweifelte. Sind frei. Das mag ich gern.

Ok. Das nächste Mal müssen wir dann noch über Shopping-Malls reden.

Albert: Oder über Österreich.