China: "Die Bedingungen sind noch immer fast überall schrecklich"

Internationale Markenproduzenten in China in der Kritik. Ein Gespräch mit Ming Lai Chung von der unabhängigen Labour Action China

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Über die konkrete Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter in China, die Rolle westlicher Markenunternehmen und die Notwendigkeit von Streikrecht und Tarifverträgen sprachen wir mit der Aktivistin von Labour Action China, Ming Lai Chung, die zu den Initiatoren der „Play Fair 2008“-Kampagne zählt und sich zu einigen Veranstaltungen und Treffen mit hiesigen Gewerkschaftern für kurze Zeit in Europa aufhielt.

Ming Lai Chung

Ming Lai Chung ist 28 Jahre alt, lebt in Hong Kong und ist eine der tragenden Säulen der Labour Action China, einer Organisation, die sich mit den Arbeitsbedingungen in der „Weltfabrik“ beschäftigt. Seit Monaten laufen die Maschinen in den größten chinesischen Textilunternehmen auf Hochtouren, um in Hinblick auf die vom 8. bis 24.August 2008 in Peking stattfindende Olympiade immense Mengen an Sportartikeln zu produzieren.

Ming Lai Chung inspizierte persönlich diverse Fabriken, um mit den Arbeiterinnen und Arbeitern zu sprechen und zusammen mit mehreren anderen Autoren für die Kampagne „Play Fair 2008“ den Bericht „Die Hindernisse überwinden“ zu verfassen, aus dem hervorgeht, dass die Rechte der Beschäftigten in diesem globalen Industriezweig nach wie vor deutlich unterhalb der Norm liegen, auch wenn einige Markenunternehmen unter dem Druck der Öffentlichkeit Verbesserungen vorgenommen haben und die Verhältnisse in ihren Subunternehmen kontrollieren, um sich in den verschiedenen Bereichen internationalen Standards anzunähern und so aus der Kritik zu kommen.

Seit wann sind Sie bei Labour Action China und worin besteht Ihre Arbeit?

Ming Lai Chung: Ich arbeite seit ungefähr vier Jahren für die Organisation, die ihren Sitz in Hong Kong hat und mit der Clean Clothes Campaign vernetzt ist. Meine Arbeit besteht im Wesentlichen darin, unter den Arbeitern ein umfassendes Bewusstsein für ihre Rechte zu schaffen. Rechte, die inzwischen auch die chinesischen Gesetze garantieren (das neue Arbeitsgesetz trat im Januar 2008 in Kraft), bislang in den Betrieben, die für Dritte produzieren, aber nur selten respektiert werden. Das Problem ist, dass ohne gewerkschaftliche Freiheit und Tarifvertrag eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen unmöglich ist – soviel auch immer über Ethik oder soziale Verantwortung der Unternehmen gesagt wird. Die Arbeiterinnen und Arbeiter werden erpresst und haben Angst. Deshalb ist es nicht gerade einfach, mit ihnen in Kontakt zu kommen. In der Regel gehe ich in die Industriegebiete und fange an die Lokale zu besuchen, in denen sie verkehren, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Ich habe Sprachkurse besucht, um meinen Hong Konger Akzent abzulegen. Außerdem habe ich mich in mehreren Unternehmen beworben, um direkten Zugang zu den Werksgeländen zu haben. Leider hat mich aber mein studentisches Aussehen verraten.

Warum sind Sie in Europa?

Ming Lai Chung: Ich bin hier um die europäischen Konsumenten für die Missbräuche zu sensibilisieren, die auch dank des europäischen Kapitals in China begangen werden. Die Ausbeutung und der Missbrauch der chinesischen Arbeiterinnen und Arbeiter sind bekannt. Deshalb verfolgen wir nicht so sehr das Ziel, diese Anklagen zu wiederholen, sondern vielmehr konkrete Lösungen vorzuschlagen. Dabei wollen wir die Tatsache nutzen, dass China aufgrund der Olympiade im Rampenlicht steht, um die Unternehmen herauszufordern und sie in eine inhaltliche Diskussion zu verwickeln.

Wie soll das genau aussehen?

Ming Lai Chung: Für Anfang Juli sind die Sportartikelhersteller nach Hong Kong eingeladen, um darüber zu diskutieren, wie substanzielle Fortschritte in punkto Rechte auch in der Sportartikelindustrie erzielt werden können. Wir haben einen Aktionsplan auf den Tisch gelegt, der auf Verbesserungen sowie konkreten und überprüfbaren Indikatoren basiert, wobei es insbesondere um die ethische Kontrolle der Zuliefererkette geht. Die Zivilgesellschaft kann die von den Markenfirmen im Sportbereich angewandten Arbeitspraktiken nicht länger tolerieren und ich denke, dass auch die Regierungen über die dort herrschenden Zustände nicht einfach hinwegsehen können. Unsere Untersuchung hat uns gezeigt, dass eine Vielzahl von Machtmissbräuchen immer noch weit verbreitet ist. Das reicht vom wahllosen Zwang zu Überstunden, über extrem niedrige Löhne und miserablen Arbeits- und Gesundheitsschutz bis zur Unmöglichkeit, sich zu organisieren und die Arbeitsbedingungen kollektiv auszuhandeln.

Warum haben sich die Arbeitsbedingungen nach zehn Jahren internationaler Kampagnen und freiwilligen Verhaltenskodexen noch immer nicht verbessert?

Ming Lai Chung: Gute Frage. Wir glauben, dass es tatsächlich Raum für viele Verbesserungen gäbe, weil wir – wenn wir uns die Bilanzen der großen Marken anschauen – sehen, dass die Arbeitskosten nur einen sehr geringen Einfluss auf deren Profite haben. Kurz gesagt, sie könnten die Löhne verdoppeln, ohne aufhören, daran zu verdienen.

Ist das also alles die Schuld der großen Markenartikelhersteller?

Ming Lai Chung: Natürlich tragen die eine größere Verantwortung, weil deren Profite deutlich höher sind, aber mit Sicherheit haben auch die Regierungen eine Mitverantwortung dafür, auch wenn in den letzten Jahren in China bei der Verbesserung der Normen große Fortschritte gemacht wurden. Die chinesische Regierung hat konkrete Anstrengungen unternommen, um sich als Vermittler zwischen den Tarifparteien zu präsentieren. Dazu dient auch das neue Gesetz über den Arbeitsvertrag, das auch eine konkrete Anerkennung der Bedeutung ist, die Schutzbestimmungen in diesem Bereich haben. Es gibt einen neuen Spielraum für kollektive Tarifverhandlungen, seit die Regierung eine Vermittlerrolle zwischen Arbeitern und Industriellen übernommen hat. Jetzt haben die großen Marken keine Entschuldigungen mehr. Sie können nicht mehr die chinesische Regierung beschuldigen, dass die ihrer Verantwortung nicht gerecht wird. Deshalb ist jetzt der Moment gekommen, um konkrete Verpflichtungen einzugehen. Aber ich werde nicht müde, es zu wiederholen: Ohne gewerkschaftliche Freiheit und kollektive Tarifverhandlungen werden sich die Arbeitsbedingungen niemals ändern.

Ist das ein Problem, das nur die bekannten westlichen Markenfirmen betrifft?

Ming Lai Chung: Nein. Yue Yuen zum Beispiel ist einer der weltweit größten Hersteller von Sportschuhen. Das Unternehmen stammt aus Hong Kong, der Sitz ist in Taiwan und die Fabriken stehen in China. Ein echter transnationaler asiatischer Konzern, der sein Kapital in sehr vielen Produktionsbereichen investiert. Von Yue Yuen stammt der größte Teil der Sportschuhe, die auf diesem Planeten getragen werden, und der Konzern unterhält stabile und konsolidierte Geschäftsbeziehungen zu ganz bekannten Marken wie Nike, das sein wichtigster Kunde ist.

Bei Yue Yuen machen die Arbeitskosten nur 10% der Gesamtkosten aus. Das ist der niedrigste Wert unter allen Lieferanten und liegt sogar noch unter dem Anteil, den sie vor einigen Jahren hatten. Außerdem ist Yue Yuen nicht nur Produzent, sondern verfügt als Exporteur und in letzter Konsequenz auch als Einzelhändler über eine enorme Verhandlungsmacht gegenüber den großen Marken. Praktisch gibt er damit auch für alle anderen Lieferanten den Preis und die akzeptablen Praktiken vor. Die westlichen Marken, die sich dieses Unternehmens bedienen, können Verbesserungen verlangen, und genau das fordern wir von den europäischen Firmen, die mit Yue Yuen zusammenarbeiten. Sie sollen endlich ihre Verantwortung übernehmen und in den Ländern (in China genau wie im übrigen Asien) einen Prozess der Verbesserung von Löhnen und Arbeitsbedingungen einleiten!

Habt Ihr in dieser Richtung bislang irgendwelche positiven Reaktionen erhalten?

Ming Lai Chung: Ich muss sagen, dass gerade die italienischen Marken wie Lotto, Kappa und Fila (die vor kurzem von einem indischen Konzern aufgekauft wurden) noch immer großen Widerstand dagegen leisten, überhaupt nur einen Dialog zu führen. Ich spreche hier nicht von Aktionen, sondern schlicht und einfach von der Bereitschaft, die beteiligten Parteien anzuhören. Wir müssen sie dazu bringen, dass sie diese Politik der völligen Abschottung aufgeben. Leider haben wir aber auch auf institutioneller Ebene kein großes Gehör gefunden. Kein Treffen mit Regierungsvertretern. Wir haben sehr konkrete Vorschläge gemacht und es gibt alle Möglichkeiten, die Situation zu verbessern, da die Marken (und vor allem die Sportmarken, die sich an ein jugendliches Publikum wenden) sehr viel Geld für Werbung und Sponsoring ausgeben. Wir müssen sie dazu zwingen, etwas von diesem Geld in die Verbesserung der Arbeitsbedingungen fließen zu lassen – angefangen beim gesetzlichen Mindestlohn, der nur sehr selten eingehalten wird. Wir haben einen sehr konkreten Arbeitsplan vorgelegt und warten auf ebenso konkrete Antworten.

Wie sind Eure Beziehungen zur chinesischen Regierung?

Ming Lai Chung: Zuallererst einmal möchte ich betonen, dass wir nicht mit der Regierung zusammenarbeiten, sondern mit den Arbeitern. Das seit kurzem herrschende Klima einer vor-olympischen Hysterie, das bei Streiks zu erheblichem staatlichen Druck geführt hat, einmal beiseite gelassen, muss man sagen, dass die Behörden in der letzten Zeit begriffen haben, dass Organisationen wie unsere eine wichtige Vermittlerrolle zwischen Unternehmern und Belegschaften spielen können. Das bereits erwähnte Gesetz zeigt, dass sich auch die Regierung dieses Problems bewusst ist. Es auch wirklich in die Praxis umzusetzen, ist allerdings durchaus nicht einfach, und es ist von grundlegender Bedeutung, dass die Arbeiter über ihre Rechte informiert sind. In dieser Phase kommt unsere Organisation ins Spiel. Da ich in Hong Kong geboren wurde und aufgewachsen bin, muss ich sagen, dass ich über das Ausbeutungsniveau erschüttert war, das ich zu sehen bekam als ich das erste Mal in den Fabrikanlagen des kontinentalen Chinas war.

Wie sehr sind sich die chinesischen Arbeiter dessen bewusst?

Ming Lai Chung: Ich glaube, dass die aktuelle Generation sehr entschlossen ist zu kämpfen, einfach weil sie keine andere Wahl hat. Im Unterschied zu den zuerst Angekommenen sind die neuen Migranten mittlerweile urbanisiert, auch weil viele restriktive Mechanismen aufgehoben wurden, die die Bauern an die ländlichen Gebiete banden. Inzwischen sind sich die Arbeiter bewusst, dass sie nicht wieder zurückkehren und den Acker bestellen werden, sondern dass sie kämpfen müssen, um ihr Leben dort zu verbessern, wo sie sich befinden. Das zeigen auch die zahllosen Streiks, die es in den letzten Jahren gegeben hat. Die Bedingungen sind aber noch immer fast überall schrecklich und die Arbeitgeber tun alles, um nicht den per Gesetz festgelegten Mindestlohn zu zahlen, der bereits am Existenzminimum liegt.

Welche Verantwortung haben die Konsumenten?

Ming Lai Chung: Ich bin weiterhin der Ansicht, dass die größte Verantwortung bei den großen Markenfirmen liegt, die – manchmal über regelrechte Versteigerungen im Internet – den niedrigsten Preis und die kürzesten Lieferzeiten durchsetzen. Das sind Entscheidungen, die von den Akquisitionsbüros getroffen werden, die sich nicht mit Arbeitsrecht beschäftigen. Ganz im Gegensatz zu der früher verbreiteten Praxis, bei der es das Personalbüro war, das sich mit der Arbeit beschäftigte und mit den Gewerkschaften verhandelte. Dann stehen die lokalen Unternehmensleiter in der Verantwortung, die, um den Dumpingwettbewerb zu gewinnen und die Profite zu maximieren, nur bei den Arbeitskosten intervenieren und den Beschäftigten unerträgliche Arbeitszeiten sowie unerreichbare Produktionsziele aufzwingen.

Die Auftraggeber können viele Maßnahmen ergreifen, um diesen Zustand zu ändern. Zum Beispiel indem sie Bestellungen in gewerkschaftlich organisierten Betrieben vorziehen und stabile Lieferverträge abschließen, um die Flucht in die rückständigen Zonen zu verhindern, kaum dass die Arbeiter anfangen, Forderungen zu stellen. Ja, sie könnten sogar einen Anreiz für die Fabriken schaffen, in denen es Tarifverträge gibt. Am Ende der Kette steht selbstverständlich der Konsument, der weiterhin eine fundamentale Tatsache verdrängt: Je weniger er bezahlt, umso mehr macht er sich zum Komplizen der Ausbeutung und des Missbrauchs.