China, der Ukraine-Krieg und das Ende der Geschichte
Seite 2: Nachholendes Begreifen der Lage der Menschheit
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Fukuyamas Theorie vom Ende der Geschichte konnte überhaupt erst als Reklamezettel für einen weltweiten Hurra-Liberalismus Furore machen, weil sie die bloß dürftige Nachbildung von Thesen des kommunistischen Philosophen Alexandre Kojève darstellte. Dieser führte seine Theorie vom "Ende der Geschichte" bereits in den 1930er-Jahren aus und stütze sich dabei auf Hegel.
Kojéve wollte darauf hinweisen, dass, folgte man seiner Interpretation der Hegelschen Geschichtsauffassung, bereits nach Napoleon und dessen Eroberungskriegen, also der Ausbreitung des Code Napoleons und der bürgerlichen Gesellschaft in Europa, das Ende der Geschichte erreicht gewesen sei – und zwar in dem Sinne, dass nun die weltweite, "universale und homogene" Weltgesellschaft, also überhaupt erst die sogenannte Menschheit hergestellt werden könne und nach und nach alle Völker gezwungen seien, in die Geschichte einzutreten.
Kojève korrigierte diesen Hegel zugeschriebenen Gedanken nur dahingehend, dass es in Wahrheit noch Stalin – als den Nachfolger Napoleons, der "Weltseele zu Pferde" (Hegel) – brauche, um die Geschichte tatsächlich an ihr Ende zu führen: Stalin habe, geht es nach Kojève, mit seiner Politik – also der Industrialisierung, Alphabetisierung und allgemeinen gesellschaftlichen Modernisierung des rückständigen Russlands sowie seines Krieges gegen die Nazis – dafür gesorgt, dass sich erst im 20. Jahrhundert tatsächlich ein zivilisierter Weltstaat über den ganzen Globus und nicht nur in den von Napoleon eroberten Teilen Europas ausbreiten, der Kampf der Nationen untereinander beendet werden und damit auch die Geschichte wirklich an ihr Ende kommen könne:
Stalin rette quasi die Idee Napoleons (und Hegels) auch für den Osten, den Napoleon noch nicht erreichen konnte. Somit enthält Fukuyamas Verweis auf Kojève auch ein zynisches Augenzwinkern in Richtung der kommunistischen Weltbewegung im Sinne von: "Jetzt seid nicht mehr ihr es, sondern wir Liberalen, die nach unserem Sieg das Ende der Geschichte konstatieren."
Keine Videorekorder ohne Krieg
Was wiederum momentan geschieht – der Angriff einer ehemaligen Sowjet-Republik auf eine andere, also von Putins Russland auf die Selenskyj-Ukraine, das 100-Milliarden-Aufrüstungsprogramm der Bundesrepublik, die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine durch die Nato-Staaten und das russische Bestreben, die Ukraine dem ökonomischen Zugriff des Westens zu entziehen und wieder zurück in die russische Einfluss-Sphäre zu überführen – ist innerhalb der Logik dieser Theorie eben gerade nicht das Aufflammen und die Fortführung des geschichtlichen Prozesses – also des Klassenkampfs durch (Welt-)Kriege –, sondern ein bloßes Geschichts-Überbleibsel nach dem Ende der Geschichte, ein weiterer Verteilungs-Krieg innerhalb der seit 1991 global durchgesetzten kapitalistischen Weltkonkurrenz.
Wenn der liberale Ideologe Fukuyama damals befand, für das Gesellschaftssystem der USA spreche, dass es "politisch die liberale Demokratie und ökonomisch den Zugang zu Videorekordern" ermögliche, dann vergaß er dabei, dass das Mittel, sich die Rohstoffe und Arbeitskraft für die Herstellung von Videorekordern zu beschaffen, stets der Krieg war, der gleichzeitig als Ursprung wie fortgeschlepptes Resultat der vom Liberalismus durchgesetzten Staatenkonkurrenz fungiert.
Nach Kojève, der sich als ein einfacher Propagandist der Hegelschen Philosophie verstand, ist bei Hegel das Ende der Geschichte folgendermaßen charakterisiert: Alle materiellen Dinge auf der Welt sind bereits getan, es gibt keine grundsätzliche, wesentliche Änderung mehr, keine Notwendigkeit von (Klassen-)Kämpfen und Kriegen.
Es gibt nichts Neues mehr, keine Ereignisse, die über die Wiederholung von Altbekanntem als Farce hinausgehen. Die Menschheit ist in ihrem eigentlichen Wesen hergestellt, sie ist als solche überhaupt erst aus all den Kämpfen der Geschichte hervorgegangen, erst jetzt ist sie mit sich selbst identisch. Was nun lediglich noch getan werden müsse, ist, dieses Ende der Geschichte den Menschen auf gedanklicher, ideeller Ebene zu Bewusstsein zu bringen.
Und dafür sei "der Weise", d.h. Hegel, bzw. seine Philosophie, sein Buch (Die Phänomenologie des Geistes) da – propagiert und erklärt vom Philosophen Kojève. "Es zeigt sich", sagt Kojève "dass für Hegel die Phänomenologie nicht verstanden werden kann ohne ein vorheriges Wissen über die Geschichte, ebenso wie die Geschichte nicht wirklich verstanden werden kann ohne die Phänomenologie.
Von daher war es für meine Interpretation der Phänomenologie richtig, über Athen, Rom, Louis XIV. und Napoleon zu sprechen. Solange man nicht die historischen Fakten sieht, auf die sich das Buch bezieht, versteht niemand, was darin gesagt wird."
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