Chomsky: Warum China, nicht Russland die US-dominierte Weltordnung bedroht

Seite 4: Konfrontation mit Russland: Hinweis auf Sicherheitsbedenken ist kein Handlanger-Dienst

Apropos neuer Kalter Krieg: Ich muss sagen, dass ich völlig fassungslos bin über die Reaktion so vieler Menschen in den USA auf Analysen, die versuchen, die Hintergründe des russischen Einmarsches in der Ukraine zu erklären, und das Gleiche gilt für Stimmen, die zur Beendigung des Krieges auf diplomatischem Wege aufrufen. Sie verwechseln Erklärung und Rechtfertigung und ignorieren vorsätzlich historische Fakten, wie die Entscheidung der USA, die Nato nach Osten zu erweitern, ohne Rücksicht auf die Sicherheitsbedenken Russlands. Und es ist nicht so, dass diese Entscheidung seinerzeit von führenden Diplomaten und Außenpolitikern begrüßt wurde. Der ehemalige US-Gesandte in der Sowjetunion Jack F. Matlock Jr. und der ehemalige Außenminister Henry Kissinger warnten vor der Nato-Erweiterung und der Inklusion der Ukraine. George Kennans Reaktion auf die Ratifizierung der Nato-Osterweiterung durch den Senat im Jahr 1998, die bis an die Grenzen Russlands heranreichte, war sogar noch unverblümter: "Ich glaube, das ist der Beginn eines neuen Kalten Krieges (...) Ich denke, die Russen werden allmählich ziemlich ablehnend reagieren (...) Ich denke, es ist ein tragischer Fehler. Es gab keinen Grund für diese (...) Natürlich wird es eine schädliche Reaktion aus Russland geben, und dann werden [die Nato-Erweiterer] sagen, wir haben euch immer gesagt, dass die Russen so sind – aber das ist einfach falsch." Sind diese hochrangigen US-Diplomaten russische Handlanger, wie es heute oft von jedem behauptet wird, der Hintergrundinformationen darüber liefert, warum Russland in die Ukraine einmarschiert ist?

Noam Chomsky: Man kann weitere Personen hinzufügen, die Washington eindringlich davor gewarnt haben, dass es leichtsinnig und unnötig provokativ sei, Russlands angekündigte Sicherheitsbedenken zu ignorieren, darunter der derzeitige CIA-Direktor William Burns und sein Vorgänger Stansfield Turner, sogar Falken wie Paul Nitze, eigentlich fast das gesamte diplomatische Korps, das sich mit Russland auskennt.

Diese Warnungen waren besonders nachdrücklich im Hinblick auf die Bedenken Russlands – lange vor Putin und geäußert von allen russischen Präsidenten – hinsichtlich der Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die Nato. Es sind Russlands geostrategische Kerngebiete, wie ein Blick auf eine topographische Karte und die jüngste Geschichte, das Unternehmen Barbarossa (Invasion der Wehrmacht 1941 in die Sowjetunion vor allem über die Ukraine, Telepolis), zeigt.

Sind das alles russische Handlanger? Ich nehme an, dass man das in dem heutigen Klima der blinden Irrationalität behaupten kann – eine Gefahr für uns und die Welt.

Es ist sinnvoll, einen Blick auf Phasen der Geschichte zu werfen, die weit genug zurückliegen, um sie mit einem gewissen Abstand betrachten zu können. Eine nahliegende Wahl ist, wie bereits erwähnt, der Erste Weltkrieg. Heute ist man sich darüber im Klaren, dass es sich um einen schrecklichen Krieg der Sinnlosigkeit und Dummheit handelte, in dem keiner der Beteiligten einen vertretbaren Standpunkt hatte.

Heute sieht man das so. Damals nicht. Als die Großmächte damals in den Krieg stolperten, verkündeten die intellektuelle Klasse in ihren Ländern die ehrenwerten Ziele des eigenen Staates. Ein berühmtes Manifest prominenter deutscher Intellektueller appellierte an den Westen, das Land von Kant, Goethe, Beethoven und anderen führenden Persönlichkeiten der Zivilisation zu unterstützen.

Ihre Kollegen in Frankreich und Großbritannien taten dasselbe, ebenso wie die bedeutendsten amerikanischen Intellektuellen, als US-Präsident Woodrow Wilson in den Krieg eintrat, kurz nachdem er die Wahlen von 1916 auf der Grundlage eines Programms für "Frieden ohne Sieg" gewonnen hatte.

Nicht alle feierten die Größe ihres Staates. In England wagte es Bertrand Russell, die Parteilinie zu hinterfragen; in Deutschland schlossen sich ihm Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht an; in den USA Eugene Debs. Alle wurden inhaftiert. Einige, wie Randolph Bourne in den USA, entgingen diesem Schicksal. Bourne wurde lediglich aus allen liberalen Zeitschriften verbannt.

Dieses Muster stellt keine Abweichung von der historischen Norm dar. Es ist bedauerlicherweise so ziemlich die Norm.

Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs stellten wichtige Lehren bereit. Das Potential wurde schnell erkannt. Zwei sehr einflussreiche Intellektuelle damals waren Walter Lippmann und Edward Bernays.

Lippmann wurde zu einem der bedeutendsten öffentlichen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts in den USA. Bernays ist Begründer und intellektueller Kopf der riesigen Public-Relations-Industrie, der größten Propaganda-Agentur der Welt, die sich der Untergrabung der Märkte widmet, indem sie uninformierte Verbraucher schafft, die irrationale Entscheidungen treffen, und einen ungezügelten Konsumismus fördert, der neben der fossilen Brennstoffindustrie eine Bedrohung für das Überleben darstellt.

Lippmann und Bernays waren Wilson-Roosevelt-Kennedy-Liberale. Sie waren auch Mitglieder der Propaganda-Agentur, die Präsident Wilson eingerichtet hatte, um die pazifistische US-Bevölkerung zu wütenden antideutschen Fanatikern zu bekehren: das Creel Committee on Public Information, ein passender Titel im Sinne Orwells.

Beide waren sehr beeindruckt vom Erfolg der Agentur bei der "Herstellung von Zustimmung" (Lippmann), der "technischen Fabrikation von Zustimmung" (Bernays). Sie erkannten darin eine "neue Kunst demokratischer Praxis", ein Mittel, um sicherzustellen, dass die "verwirrte Herde" – die allgemeine Bevölkerung – als bloße "Zuschauer" in ihre Schranken gewiesen werden kann und sich nicht in Bereiche einmischt, in die sie nicht gehört: den Bereich politischer Entscheidungen. Dieser müsse der "intelligenten Minderheit" vorbehalten sein, "den technokratischen und politikorientierten Intellektuellen".

Das ist so ziemlich die herrschende liberale Demokratietheorie, die von Lippmann und Bernays entworfen wurde. Die Konzepte sind keineswegs neu. Sie gehen zurück auf die frühen demokratischen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts in England und ihrer damaligen US-Kolonie. Sie wurden durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs gestärkt.

Aber während die Massen mit "notwendigen Illusionen" und "emotional starken Vereinfachungen" (in den Worten von Reinhold Niebuhr, der als "Theologe des liberalen Establishments" verehrt wird) kontrolliert werden können, gibt es ein anderes Problem: die "wertorientierten Intellektuellen", die es wagen, Fragen zur US-Politik zu stellen, die über taktische Entscheidungen hinausgehen. Sie können nicht mehr wie während des Ersten Weltkriegs inhaftiert werden, so dass die Machthaber nun versuchen, sie auf andere Weise aus der Öffentlichkeit zu vertreiben.

Noam Chomsky ist Professor emeritus für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm (zusammen mit Robert Pollin) "Die Klimakrise und der Global Green New Deal" (Unrast Verlag 2021).

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