Chomsky: Warum China, nicht Russland die US-dominierte Weltordnung bedroht
- Chomsky: Warum China, nicht Russland die US-dominierte Weltordnung bedroht
- Konfrontation mit Russland nur Nebenschauplatz neu entstehender Weltordnung
- Die chinesische Bedrohung im Mittelpunkt der US-Strategie
- Konfrontation mit Russland: Hinweis auf Sicherheitsbedenken ist kein Handlanger-Dienst
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Eine neue Weltordnung nimmt Gestalt an, aber die Konfrontation zwischen den USA und Russland ist nicht ihr zentrales Element, sagt Chomsky. Die "chinesische Bedrohung" steht im Mittelpunkt der US-Strategie. Wird Russland Juniorpartner Chinas?
Noam Chomsky analysiert die neue und höchst gefährliche globale Ordnung, die sich herausbildet. Vielleicht zur Überraschung vieler, vor allem in Anbetracht des andauernden Krieges in der Ukraine, beschreibt er nicht die Konfrontation zwischen den USA und Russland als zentrales Element der neuen, im Entstehen begriffenen Weltordnung.
Das Interview führt der Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou.
Der erste Teil des Interviews zum Ukraine-Krieg und einer friedlichen Lösung des Konflikts ist gestern auf Telepolis erschienen. Das Interview erschien zuerst auf der Nachrichtenseite Truthout. Übersetzung: David Goeßmann.
Wenn der Krieg in der Ukraine auf diplomatischem Wege beendet werden kann, könnte ein Friedensabkommen viele Formen annehmen. Die von vielen Experten vorgeschlagene diplomatische Lösung basiert auf einem ukrainischen Neutralitätsvertrag, während Russland seine Einwände gegen die Mitgliedschaft der Ukraine in der EU fallen lässt, auch wenn der Weg dorthin unweigerlich sehr lang sein wird. Es gibt jedoch ein Szenario, das nur selten diskutiert wird, obwohl es die Richtung vorgeben könnte. Dabei handelt es sich um das "koreanische Szenario" von Graham Allison, bei dem die Ukraine ohne einen formellen Vertrag in zwei Teile geteilt wird. Halten Sie dies für ein wahrscheinliches oder mögliches Szenario?
Noam Chomsky: Es ist eines von mehreren möglichen, sehr hässlichen Szenarien. Spekulationen erscheinen mir eher müßig. Ich denke, es ist besser, unsere Energie darauf zu verwenden, konstruktive Wege zur Überwindung der sich abzeichnenden Tragödien zu finden – die wiederum weit über die Ukraine hinausgehen.
Wir könnten uns sogar einen breiteren Rahmen vorstellen, so etwas wie das "gemeinsame europäische Haus" ohne Militärbündnisse, das Michail Gorbatschow nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als geeigneten Rahmen für die Weltordnung vorgeschlagen hat. Oder wir könnten einige der frühen Formulierungen der Partnerschaft für den Frieden aufgreifen, die in denselben Jahren von Washington initiiert wurde, als Präsident Bill Clinton 1994 Boris Jelzin versicherte, dass "das umfassendere, höhere Ziel [die] europäische Sicherheit, Einheit und Integration [ist] – ein Ziel, von dem ich weiß, dass Sie es teilen".
Diese vielversprechenden Aussichten auf eine friedliche Integration wurden jedoch bald durch Clintons Pläne für eine Nato-Erweiterung zunichte gemacht, die gegen den entschiedenen Widerstand Russlands lange vor Putin beschlossen wurde.
Diese Hoffnungen können wiederbelebt werden, zum großen Nutzen Europas, Russlands und des Weltfriedens im Allgemeinen. Sie hätten von Putin wiederbelebt werden können, wenn er Emmanuel Macrons zaghafte Initiativen zur Annäherung verfolgt hätte, anstatt sich törichterweise für eine kriminelle Aggression zu entscheiden. Aber sie sind nicht unbedingt tot.
Es ist nützlich, sich ein wenig an die Geschichte zu erinnern. Jahrhunderte lang war Europa der brutalste Ort der Welt. Für Franzosen und Deutsche bestand das höchste Ziel im Leben darin, sich gegenseitig abzuschlachten. Noch in meiner Kindheit schien es unvorstellbar, dass dies jemals ein Ende haben könnte. Wenige Jahre später war es soweit, und seitdem sind sie enge Verbündete, die in einer radikalen Umkehrung einer langen Geschichte brutaler Konflikte gemeinsame Ziele verfolgen. Diplomatische Erfolge müssen nicht unmöglich zu erreichen sein.