Computer Mediated Body

Die Vision vom Lebensraum im Computer

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Die Grenzen des Körpers zu überschreiten, ist ein alter Traum. In Cyberspace scheint er näher zu rücken, wo Menschen als beliebige virtuelle Gestalten auftreten. Visionäre glauben daran, einmal unser Bewusstsein vollständig auf einen Computer übertragen zu können. "Ein großer Denkfehler", kritisiert der High-Tech-Philosoph John Sullins aus Binghamton, USA.

Mann oder Frau, eine Phantasiegestalt oder das Idealbild eines realen Menschen: in computererzeugten Welten sind diese Unterschiede nur noch willkürlich. Besucher von dreidimensionalen computersimulierten Orten im Internet suchen sich einfach eine beliebige Gestalt aus, mit der sie für andere dort sichtbar sind. Das Aussehen ihres virtuellen Repräsentanten, der Avatar, findet seine Grenzen lediglich an der Kreativität und Rechenleistung der eingesetzten Hardware. Die Science-Fiction-Fangemeinde "Cybertown", die von der Münchner Firma Blaxxun betrieben wird, ist ein Beispiel für den Lebensraum in digitalen Welten. Mit über 100.000 Bürgern ist sie fast zu einer Großstadt geworden. Mitglieder und Besucher navigieren zwischen virtuellen Gebäuden, treffen andere Avatare auf Plätzen und chatten per Text. Noch trennt der Bildschirm und die Tastatur des Computers von einem unmittelbaren Erlebnis der künstlichen Welt.

Eigentlich müsste der Mensch vollständig in die fremde Welt eintauchen, sich wie im Alltag in ihr bewegen können, so die Hoffnung der Cyberenthusiasten. Für den Philosophen John Sullins vom Fachbereich "Philosophy, Computers and Cognitive Science" an der Universität Binghamton im US-Bundesstaat New York ist das ein verbreiteter Wunsch, die Grenzen des eigenen Körpers zu überschreiten. "In vielerlei Hinsicht wird der menschliche Körper als Hindernis gesehen," meint Sullins. Man träume davon, dass er sich dem technischen Welten anpasse, die von den Computern erzeugt werden. Schon im Alltag zeige sich, dass der Körper dem Computer untergeordnet wird, wenn Menschen das unbequeme Arbeiten vor dem PC in Kauf nehmen, ihre Augen überlasten, ihre Hände verkrampfen und eine ungesunde Körperhaltung in Kauf nehmen.

Den Traum, die Grenzen des Körpers zu überschreiten, nennt John Sullins "Transhumanismus". Nach dieser Anschauung soll und kann der Mensch eine höhere Form der Existenz erreichen, sowohl körperlich, geistig und sozial. Man will länger leben, befreit sein von der Ballast des Alterns, der Anfälligkeit für Krankheiten und Verletzungen und schließlich von den Grenzen des Denkens und der Erfahrungswelten. Der perfekte Körper und das perfekte Bewusstsein sind das Ziel, ganz entsprechend dem "Imperativ der Steigerung", mit dem der Soziologe Peter Gross die übersättigte Gesellschaft der Wohlstandsländer charakterisiert. Sie sei auf eine ständige Steigerung von Erlebnisdichte, Reizen und Luxus fixiert. Dafür wird auch am Körper operiert und genetisch manipuliert.

Die Avatare in den virtuellen Welten und Experimente mit Chips im Gehirn bieten neuen Stoff für Visionen des Transhumanismus. Anhänger dieser Weltanschauung wie Marvin Minsky, Hans Movarek und Raymond Kurzweil glauben, dass der Körper des Menschen einmal überflüssig sein wird, wenn menschliche Intelligenz und Bewusstsein auf einen Computer übertragen werden können. Dann würden selbst Reisen in Lichtgeschwindigkeit zu beliebigen Orten möglich sein, wo sich ein vernetzter Computer befindet. Es würde keinen Unterschied mehr machen, ob jemand real oder virtuell verreist.

Wenn es auch inzwischen möglich ist, mit Hilfe von speziellen 3D-Brillen, verkabelten Handschuhen und Spezialanzügen in Computerwelten einzutauchen, glaubt John Sullins nicht an diese Science-Finction-Visionen: "Stillschweigende Voraussetzung ist die, dass die Identität einer Person unabhängig vom physikalischen Körper ist", kritisiert der Philosoph. Der Körper sei aber untrennbar von unserer Wahrnehmung und von dem Bild, das wir uns von der Welt machen. Ohne den Körper und die mit ihm verbundene Zeiterfahrung gebe es sogar keine Identität. "Wir bewohnen diese Welt als lebendige Teilhaber von Raum und Zeit, nicht als ein Puppenspieler, der an den Fäden der Kausalität zieht, die unseren Körper steuern", ist John Sullins überzeugt. Die geistigen Leistungen des Menschen seien nicht etwas Abstraktes. Es gibt keine unabhängige Steuerzentrale, die Anweisungen an den Körper gäbe. Gerade diesem Irrtum erliegen aber die technikgläubigen Visionäre, die das menschliche Bewusstsein und die geistigen Leistungen des Gehirns als formales, abstraktes System beschreiben, das sich auf einen Computer übertragen lässt. Daher glaubt Sullins auch nicht an eine neue Identität des Menschen in virtuellen Welten.

Der Rollenwechsel, der durch einen Avatar im Web oder anderen künstlichen Welten möglich ist, wird nach Einschätzung des Philosophen dennoch Folgen haben. "Je mehr jemand in eine außerkörperliche Erfahrung eintaucht, desto eher ist zu erwarten, dass seine eigene Persönlichkeit und Identität verschwinden", folgert John Sullins aus dem engen Zusammenspiel von Körper und menschlichem Bewusstsein. Daher sei es an der Zeit, der Körperlichkeit des Menschen im Umgang mit dem Computer mehr Rechnung zu tragen, statt über den Körper als lästiges Hindernis hinwegzugehen.