Corona-Aufarbeitung: Was wussten wir wirklich?

Seite 3: Auf der Suche nach 95 Prozent Impfschutz

Die erlösende Pressemitteilung von Biontech ging am 18. November 2020 um die Welt:

Die Wirksamkeit war über alle Alters- und Geschlechtsgruppen und die gesamte diverse Studienpopulation hin konsistent; der Impfschutz bei Erwachsenen über 65 Jahren lag bei über 94 Prozent.

Biontech, Pressemitteilung

Eine nahezu perfekte Impfung, die Tür und Tor für die Erlösung in Form von Fremdschutz und Herdenimmunität zu garantieren schien. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb ganz in diesem Sinne:

Über die neunzig Prozent Erfolgsquote sollten wir uns aber auch noch aus einem anderen Grund freuen: Wenn der Impfstoff bei fast allen wirkt und sie sich nicht mehr infizieren, dann ist es auch wahrscheinlich, dass die Menschen insgesamt weniger das Virus verbreiten. Die Chancen, die Pandemie zu besiegen, steigen dann beträchtlich.

Und zwar werden die Chancen umso größer, je mehr Menschen sich auch wirklich impfen lassen. Um es auf eine Zahl zu bringen: Ungefähr zwei Drittel müssen geimpft werden, dann sind so viele Menschen immun gegen das Virus, dass das Virus ganz schlechte Karten hat, noch andere Menschen zu finden, in denen es sich weiter vermehren kann. Die Pandemie wird dann gestoppt. "Herdenimmunität" nennt man das.

FAZ

Warum wurde das Ziel dann aber nicht erreicht?

Der Teufel steckt in einem kleinen, aber feinen Detail. Dem Unterschied zwischen Infektion und Erkrankung, wie auf Telepolis dargestellt wurde.

Auch wenn während der Corona-Jahre oft ein positives Testergebnis als eine Erkrankung verstanden wurde, bei der es nur zu unterscheiden galt, ob Symptome existierten oder nicht, wurde aber seit jeher ein fundamentaler Unterschied zwischen Infektion und Erkrankung gemacht.

Die Apotheken-Umschau beschreibt den Unterschied anschaulich:

Nicht jeder mit einem positiven Test wird zwangsläufig krank! Ist jemand infiziert ("angesteckt"), bedeutet das zunächst einmal nur: Das Virus hat es geschafft, in den Körper zu gelangen und sich dort zu vermehren.

In den meisten Fällen erfolgt die Ansteckung über Speicheltröpfchen, die ein Infizierter zum Beispiel beim Husten, Niesen oder Sprechen verbreitet. Sie gelangen über Mund, Nase oder Augen in den Rachen anderer Menschen, wo sie sich vermehren. (…)

Nicht alle, die sich angesteckt haben, werden krank. Bleiben Symptome aus, sprechen Ärzte und Ärztinnen von einer asymptomatischen Infektion.

Apotheken-Rundschau

Die berühmten 95 Prozent beziehen sich auf den Schutz vor Erkrankung, nicht vor Infektion. Von Politik und Medien wurde dies oft – aus welchem Grund auch immer – durcheinander gebracht.

Die Impfung erschien ihnen als Freifahrtschein, weil sie einen 95-prozentigen Schutz und damit auch einen fast perfekten Fremdschutz garantierte, sodass der Rückkehr in ein normales Leben für Geimpfte nichts mehr im Wege zu stehen schien und entsprechend die 3G- bzw. 2G-Regelung getroffen wurde.

Auf der Suche nach dem Fremdschutz

Ein sehr gut nachvollziehbares Ziel der Impfung war der Fremdschutz, also der Schutz, andere Menschen anzustecken. Ganz in diesem Sinne lautete die Impfkampagne der Bundesregierung Anfang des Jahres 2022:

"Impfen hilft. Auch allen, die du liebst"

Und Bundeskanzler Olaf Scholz hob im Januar 2022 auf Twitter eine zentrale Aussage seines Interview mit der Süddeutschen Zeitung hervor:

Wer sich entscheidet, sich nicht impfen zu lassen, trifft die Entscheidung nicht für sich allein. Er entscheidet mit über das Schicksal all derer, die sich deshalb infizieren.

Die Botschaft war deutlich: Impfen ist vor allem ein Akt der Solidarität. Insbesondere für gesunde Menschen, die ein sehr geringes Risiko vor den Folgen einer Infektion haben.

Jörg Phil Friedrich kommentierte die Worte des Bundeskanzlers:

"Ende Januar 2022, eine freie Spekulation ohne jeden wissenschaftlichen Halt – ja, sie widerspricht allen vorliegenden internationalen Erkenntnissen über die Ausbreitung der inzwischen vorherrschenden Omikron-Variante des Coronavirus."

Bei "Markus Lanz" betonte der Virologe Hendrik Streeck zur gleichen Zeit:

Ein Fehler in meinen Augen in der Kommunikation war von Anfang an zu sagen: Wir haben einen Schutz vor der Infektion. Es ist ein Fremdschutz, wir kriegen eine Herdenimmunität. Das haben wir ja nicht. Die einzelne Person schützt sich selber, macht was zur Gesundheitsvorsorge.

Hendrik Streeck

Daher lautet seine Konsequenz: "Wir können die Pandemie nicht wegimpfen."

In einer Diskussionsrunde bei der Welt wurde er noch eindeutiger:

"Es ist eben ein reiner Eigenschutz und kein Fremdschutz. Wir erreichen keine Herdenimmunität damit."

Fehlende Untersuchung

Besonders pikant jedoch: Der Impfstoff wurde niemals darauf getestet, ob er den viel beschworenen Fremdschutz überhaupt erreichen kann. Im Gutachten der Ema zum Antrag von Biontech auf Notfallzulassung vom 19. Februar 2021 heißt es explizit:

Derzeit ist nicht bekannt, ob der Impfstoff vor asymptomatischen Infektionen schützt und wie er sich auf die Virusübertragung auswirkt. Die Dauer des Schutzes ist nicht bekannt.

Ema-Gutachten, S. 97

Und:

Die Zulassungsstudie war nicht darauf ausgelegt, die Wirkung des Impfstoffs gegen die Übertragung von Sars-CoV-2 bei Personen zu bewerten, die nach der Impfung infiziert sind. Die Wirksamkeit des Impfstoffs bei der Verhinderung der Sars-CoV-2-Ausscheidung und -Übertragung, insbesondere bei Personen mit asymptomatischer Infektion, kann erst nach der Zulassung in epidemiologischen oder spezifischen klinischen Studien bewertet werden.

Ema-Gutachten, S. 132

Auf eine damalige Nachfrage von Telepolis schrieb Biontech, dass die Studie auf die Beurteilung der Wirksamkeit zum Schutz vor Erkrankung, nicht aber vor einer asymptomatischen Infektion angelegt war. Eine transparente Untersuchung müsste dringend aufklären, weshalb oftmals der Eindruck erweckt wurde, die Impfung diene dem Fremdschutz.

Die 2G-Regelung

Die sogenannte 2G-Regelung wurde in den verschiedenen Bundesländern im Verlauf des Winters 2021/22 eingeführt. Dabei wurde der Zutritt zu Gastronomie, Kultureinrichtungen, Freizeiteinrichtungen etc. nur Menschen gestattet, die offiziell als Geimpfte oder Genesene galten (der Status war bekanntermaßen von einer beschränkten Dauer).

Ein negativer Test reichte als Eintritt nicht mehr aus. Es war gewissermaßen ein "Lockdown für Ungeimpfte". Die Ausweitung der 2G-Regel sei ein "Beitrag zur Normalisierung des öffentlichen Lebens" erklärte etwa der Ministerpräsident Niedersachsens Stephan Weil in seiner Regierungserklärung.

Vollständig geimpfte Menschen hätten das Anrecht, "ihr altes Leben" wieder "uneingeschränkt" führen zu können. Erwachsene, die sich gegen eine Schutzimpfung entschieden, müssten hingegen "für die Folgen ihrer Entscheidung einstehen".

Die zugrunde liegende Überzeugung: Die Impfung verschaffe in hohem Maße einen Fremdschutz. Karl Lauterbach war sich im November 2021 sicher:

2G ist die einzig wirksame Maßnahme gegen die Corona-Pandemie. (…) Ohne den Mut, ganz drastisch und auch mit harten Kontrollen flächendeckend 2G einzuführen, werden wir diese Welle nicht in den Griff bekommen.

Der FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki stellte im Januar dieses Jahres die Frage, ob "die Bundesregierung im Angesicht der jüngsten Äußerungen an der Feststellung festhält, dass die Einführung der 2G-Regel in der Corona-Pandemie eine wirksame Maßnahme war, und wenn ja, warum?"

Die Antwort beinhaltete jedoch nur indirekt einen Bezug auf die zu kontrollierende Welle:

"Eine Überlastung des Gesundheitssystems konnte während der Gültigkeit der Regelung insgesamt verhindert werden."

Kubicki hält dies für eine "Unverschämtheit", denn:

"Eine Überlastung des Gesundheitssystems hat es auch sonst zu keinem Zeitpunkt der Pandemie gegeben."

Womit wir wieder beim Thema Datenerhebung sind. Waren die Krankenhäuser jemals bedroht? Wenn nein, warum wurde es so kommuniziert und grundrechtseinschränkende Maßnahmen durchgeführt, die hierdurch begründet wurden?

Wenn die Krankenhäuser tatsächlich bedroht waren, wann genau war dies der Fall und was tat die Regierung konkret, um die Belastungsfähigkeit des Gesundheitssystems zu verbessern?

Und wenn massiv grundrechtseinschränkende Maßnahmen erlassen wurden, um das Gesundheitssystem zu schützen, inwiefern öffnet das Tür und Tor andere selbstschädigende Verhaltensweisen zu verbieten (Rauchen, Alkohol) und gesundheitsfördernde Verhaltensweisen zu erzwingen (Sport etc.)?

Und nicht zuletzt sollte man da nicht an einen zentralen Aspekt der Corona-Jahre erinnern:

Es gibt eine bittere, aber zentrale Wahrheit der Pandemie, die bei der Aufarbeitung oft in Vergessenheit gerät. Hätte es in den Kliniken mehr Pflegepersonal gegeben, wären weniger Betten gesperrt worden, etwa auf der Intensivstation, dann hätten mehr Patienten aufgenommen können. Und das Gesundheitssystem insgesamt wäre funktionstüchtiger gewesen.

Welt

Eine Frage drängt sich auf: Was ist bis heute – gut vier Jahre später – eigentlich geschehen, um das Gesundheitssystem in Deutschland krisenfest zu machen?

Aber zurück zur Antwort des BMG: Der Epidemiologe Klaus Stöhr kritisierte diese scharf:

Sowohl Bundesgesundheitsministerium als auch Ministerpräsidenten der Länder haben offenbar nie verstanden, dass man mit einer Impfung niemals die SARS-CoV-2 Ausscheidung und Infektion verhindern kann. (…) Das Bundesgesundheitsministerium gesteht hier mit anderen Worten ein, dass es eine Impfung als Kontaktreduktion bewertet und das auch noch für wirksam, notwendig und verhältnismäßig hält.

Klaus Stöhr

Der erste, der ein anderes, vielleicht plausibleres Motiv für 2G an die Öffentlichkeit brachte, war RKI-Chef Lothar Wieler. Ziel der 2G-Maßnahme sei es, die Impfquote zu erhöhen, sagte Wieler im November 2021 der Apotheken Umschau:

Einen großen Teil der rund 16 Millionen Menschen ab 12 Jahren könnte man so überzeugen. Die, die sich nicht impfen lassen, müssten sich dann zunehmend entscheiden, ob sie vom öffentlichen Leben ausgeschlossen bleiben wollen. Es kann doch nicht sein, dass die Ungeimpften das Leben von Geimpften in einem solchen Maße beeinflussen, wie das momentan der Fall ist.

Lothar Wieler

Kubicki hierauf:

"Es ging darum, den sozialen Druck zu erhöhen. Medizinische oder infektiologische Gründe hat es für diese Maßnahme wahrscheinlich gar nicht gegeben."