Corona-Aufarbeitung: Was wussten wir wirklich?

Abakus mit Corona-Viren

Datenerhebungskatastrophe und Impfpflicht: Eine transparente Untersuchung muss den fundamentalen Fragen zu Datenlücken und Impfpolitik nachgehen. (Teil 2)

In Krisenzeiten kommt der Datenqualität naheliegenderweise eine ganz besondere Bedeutung zu. Denn präzise Daten sind die notwendige Grundlage möglichst optimaler und verhältnismäßigen Entscheidungen. Eine schlechte Datenqualität führt hingegen zu einer permanenten Nebelfahrt. Wie solide war die Datenlage während der Corona-Krise in Deutschland?

Teil 1: Corona-Untersuchung: Das Schweigen sollte enden

Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit bezeichnete die Datenerhebung in Deutschland als "Datenerhebungskatastrophe", wie Telepolis im Januar 2022 berichtete.

Auch der Sozialwissenschaftler Rainer Schnell benutzte in einem ZDF-Beitrag ebendieses Wort.

Der Medizinstatistiker Gert Antes, der von Beginn der Corona-Krise an auf die Notwendigkeit möglichst stabiler Daten gepocht und immer wieder vor einem kontinuierlichen Blindflug gewarnt hatte, erklärte – angesprochen auf die Datenqualität des Robert Koch-Instituts – ein Student in der Universität müsste bei dieser Qualität vermutlich das Seminar noch einmal wiederholen.

Kein Traumzeugnis.

Schwimmende Daten: Infektionen

Immer wieder erstaunte in den Corona-Jahren, welche Unsicherheiten bei der Datenlage herrschte. Ein paar Beispiele, die keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erheben:

• In Hamburg behauptete Bürgermeister Peter Tschentscher 16. November 2021, 90 Prozent der Neuinfektionen seien auf Ungeimpfte zurückzuführen. Dies rechtfertige scharfe Grundrechtseinschränkungen für Ungeimpfte.

Hamburg war das erste Bundesland, das ein 2G-System einführte. Später stellte sich jedoch heraus, dass bei knapp zwei Drittel der Neuinfizierten der Impfstatus überhaupt nicht erfasst worden waren und sie schlicht der Gruppe der Ungeimpften zugeschlagen wurden.

Tatsächlich war der Inzidenz-Unterschied deutlich geringer

• In Bayern veröffentlichte Ministerpräsident Markus Söder eine Grafik auf Twitter, wonach die Inzidenz der Geimpften bei 110, die der Ungeimpften aber dreizehnmal so hoch gelegen haben solle. Söder kommentierte:

Leider nehmen die Corona-Infektionen gerade bei Ungeimpften dramatisch zu. Es gibt einen direkten Zusammenhang von niedrigen Impfquoten und hohen Infektionsraten.

Auch hier: Infizierte mit unbekanntem Impfstatus wurden schlicht den Ungeimpften zugeordnet. Das korrekte Verhältnis nicht 1:13, sondern 1:3. Zudem hatte Anfang Dezember Die Welt enthüllt, dass der Impfstatus in einer Beispielwoche im November in sage und schreibe 70 Prozent der Fälle unbekannt war. Diese wurden den Ungeimpften zugeordnet.

• In Sachsen nannte Ministerpräsident Michael Kretschmer am 5. November 2021 im Deutschlandfunk eine Inzidenz bei Geimpften von 70 bis 80. Bei Ungeimpften läge diese zehnmal so hoch.

Am 18. November erklärte er dann im sächsischen Landtag:

"In der Tat ist es so, dass die Inzidenz bei den nichtgeimpften Bürgerinnen und Bürger bei 1800 liegt und bei denen, die geimpft sind, bei 63."

Ein Verhältnis also von knapp 1:30. Auf Anfrage der Welt antwortete das sächsische Sozialministerium: "Wenn keine Angaben vorliegen, gilt die Person zunächst als ungeimpft und wird dieser Gruppe zugeordnet."

Auf Nachfrage gab es dann auch Zahlen für die von Kretschmer herangezogene Woche: Die Inzidenz lautete 72 zu 597 (ein Verhältnis von 1:8) wobei:

"In 30 bis 40 Prozent der Fälle wurde nach Angaben der Landesuntersuchungsanstalt in diesem Zeitraum angegeben, dass der Impfstatus nicht erhoben/nicht ermittelbar war."

Obwohl zu diesem Zeitpunkt in Deutschland weit mehr als die Hälfte der Menschen geimpft war und daher der logisch naheliegende Schluss war, Infizierte ohne bekannten Impfstatus einzeln auszuweisen oder – wenn schon – im Zweifelsfalle den Geimpften zuzuteilen, wurden sie grundsätzlich den Ungeimpften zugeordnet. Ohne dies zu erwähnen.

Der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek verteidigte dennoch diese Zuordnung:

"Es war sinnvoll, die Meldefälle mit unbekanntem Impfstatus gemeinsam mit der Gruppe der Ungeimpften auszuweisen."

Auf diese Weise habe man erreicht, "dass die Zahlen näher an der Realität lagen". Einen Beleg für diese Behauptung blieb er jedoch schuldig.

Die Konsequenz: Auf Grundlage der sächsischen Zahlen wurde beispielsweise die Arbeitsschutzverordnung bundesweit verschärft:

"(…) während die 7-Tage-Inzidenz bei den Geimpften bei ca. 60/100.000 liegt, beträgt sie bei Ungeimpften und nicht vollständig Geimpften fast 600/100.000 (Stand 02. November 2021)."

Was grundsätzlich bei der Fragestellung nach der Impfwirksamkeit nicht berücksichtigt wurde: Da Geimpfte sich so gut wie gar nicht mehr testen lassen mussten und dies daher meist nur bei klaren Symptomen taten, fiel somit die gesamte Gruppe asymptomatisch infizierter Geimpfter aus den Daten heraus, was zwangsläufig zu einer massiven Verzerrung der Zahlen für Infektionen bei geimpften Menschen geführt hat.

Der Virologe Alexander Kekulé bemängelte genau dies bereits im September 2021:

Während die häufig proklamierte "Welle der Ungeimpften" anhand der Tests und Krankenhauseinweisungen sichtbar und berechenbar ist, rauscht die Welle der Geimpften wie ein Tarnkappen-Bomber durch die Bevölkerung.

Alexander Kekulé

Einmal mehr hätten hier repräsentative Kohorten-Untersuchungen Sicherheit ermöglicht, die regelmäßig getestet würden. Warum dies unterlassen wurde, wäre ein weiteres Thema für einen Untersuchungsausschuss.

Schwimmende Daten: Hospitalisierung

Die Frage, wie hoch der Anteil der Krankenhauspatienten ist, die wegen einer Covid-19-Erkrankung eingewiesen wurden und der Gesamtzahl der Patienten, die mit positivem PCR-Test im Krankenhaus lagen, erwies sich aufgrund der Datenlage als schwierig zu beantworten, obwohl viele Maßnahmen hiervon abhingen.

Auf eine Anfrage der Welt an die Hamburger Sozialbehörde lautete die knappe Antwort:

"Der Grund für eine Hospitalisierung mit Covid-19 wird nicht statistisch erfasst."

Die Welt resümierte ihre Nachforschungen im Dezember 2021 und Januar 2022:

In Rheinland-Pfalz etwa war Corona nur in 53 Prozent der Fälle Ursache für die Hospitalisierung. 27 Prozent der Patienten wurden aus anderen Gründen eingeliefert. Für die übrigen 20 Prozent liegen keine Informationen vor.

Berlin teilte mit, in 47 Prozent der Fälle sei Covid der Hauptgrund gewesen, bei 29 Prozent lag keine Angabe zum Hospitalisierungsgrund vor.

Welt

Recht auf korrekte Zahlen

Nachdem sich herausgestellt hatte, dass in Bayern Infizierte, deren Impfstatus nicht festgestellt wurde, schlicht der Gruppe der Ungeimpften zugeordnet worden sind, wie bereits dargestellt, forderte die FDP in Bayern auf einer Pressekonferenz "lückenlose Aufklärung".

Die Reaktionen ließen an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Der damalige CSU-Generalsekretär Markus Blume sagte, die FDP würde das Geschäft der AfD betreiben. Der Grünen-Politiker Andreas Krahl sah das ähnlich:

"Mit Ihrer Themenwahl bieten Sie der AfD heute eine Paradebühne."

Und Fabian Mehring, Chef der Freien Wähler, warf der FDP vor:

"In dieser schwierigen Phase streuen Sie den Menschen Sand in die Augen und stellen etwas, was Sie selbst wissen, anders dar, um daraus als politischer Geschäftemacher Kapital zu schlagen. Meine Damen und Herren, das kannte dieses Hohe Haus bislang einzig von der AfD."

CSU-Politikerin Beate Merk nannte das Vorgehen der FDP "rechtspopulistisch" und sagte: "Wir wünschen uns nach alldem, was Sie hier gebracht haben, dass Sie sich schämen."

Tim Röhn kommentierte in der Welt:

Moment – wirklich? Man macht sich zum Sprachrohr der AfD, wenn man auf das Recht auf korrekte Zahlen pocht? Man muss bei derartigen Anliegen sicherstellen, keinen Applaus von den Falschen zu bekommen?

Diese Argumentation ist – zumindest vonseiten der Regierungskoalition – der schäbige Versuch, vom eigenen Versagen, möglicherweise gar von der bewussten Täuschung der Bevölkerung abzulenken.

Tim Röhn

Es liegt auf der Hand, dass eine Frage, die eine Untersuchung der Corona-Politik beantworten muss, lautet: Wie ist diese Datenerhebungskatastrophe zu erklären und was muss geändert werden, um dies in der Zukunft zu verhindern?

Grassierendes Desinteresse

Ein weiterer Aspekt der unsoliden Datenlage ist das Desinteresse an bestimmten Zahlen:

• Die Gruppe der Genesenen war keine Erhebung wert und fiel immer wieder durch den Untersuchungsraster, wie ausführlich auf Telepolis thematisiert wurde.

• Im Krankenhaus wurde nicht festgehalten, wie hoch der Anteil von Genesenen auf der Intensivstation war (sodass es auch niemals möglich war, der Frage nachzugehen, wie sehr eine natürliche Immunität vor einer schweren Wiedererkrankung schützt).

• Die Anzahl der erhaltenen Impfdosen wurde bei der Feststellung von Impfnebenwirkungen nicht notiert. Daher kann man auch keine Aussage basierend auf Zahlen aus Deutschland treffen, ob die Wahrscheinlichkeit schwerer Impfnebenwirkungen bei jeder Dosis konstant bleibt, zu – oder abnimmt.

Selbstverständlich wäre das aber eine wichtige Information, gerade im Hinblick auf die Kosten- und Nutzen von Boosterimpfungen.

• Streckenweise war sogar nicht bekannt, wie viele Covid-Intensivpatienten geimpft waren oder nicht.

• Seit Januar 2022 schätzte das RKI Inzidenzen nur noch

• Seit Ende April 2022 veröffentlichte das RKI keine Zahlen zur Impfeffizienz mehr.

Kann es verwundern, dass angesichts dieser "Datenerhebungskatastrophe" die Mehrheit der Deutschen schon am 3. Januar 2022 den Corona-Daten des Robert Koch-Instituts misstraute?

Der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier betont die Bedeutung dieses Aspektes in rechtlicher Hinsicht:

Geht es um schwerwiegende Grundrechtseingriffe wie im Falle der Pandemiebekämpfung, dürfen Unklarheiten in der Bewertung von Tatsachen grundsätzlich nicht dauerhaft zulasten der Grundrechtsträger gehen.

Es ist deshalb besonders fatal für den Grundrechtsschutz anzusehen, dass die eklatanten Mängel der Erkenntnisgewinnung in weitem Umfang selbst am Ende der Pandemie bestanden, weil die verantwortlichen staatlichen Stellen es unterlassen haben, die für eine Evaluierung notwendigen Daten zu erheben.

Hans-Jürgen Papier