Corona-Maßnahmen: "Karlsruhe wollte ganz einfach nicht"

Bundesverfassungsgericht verpasst wichtige Gelegenheit, Urteil zur frühen Corona-Verordnungs-Politik zu fällen. Mit einer Einordnung von Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Neßler.

Deutschlands oberste Richter üben sich in verwunderlicher Zurückhaltung: Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVErfG) hat am vergangenen Donnerstag eine Vorlage des Thüringer Verfassungsgerichtshofs für unzulässig erklärt, in der dieser die Karlsruher um eine Stellungnahme zur Maßnahmenpolitik in der Frühphase der Corona-Krise ersuchte.

Das Bemerkenswerte: Karlsruhe erklärte zwar die allgemeine Fragestellung für wesentlich beziehungsweise "tauglich", nicht aber den konkreten Gegenstand der Anfrage. Auf diese Weise verpasste das BVerfG, eine wegweisende Entscheidung in einer der bedeutendsten Fragen der deutschen Verfassungsrechtsprechung zu fällen.

Zeitraum vor der "Neuen Normalität" um Paragraf 28a

Gegenstand der Anfrage war die Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Thüringer Corona-Verordnung vom 31. Oktober 2020 (Achtung, Wortungetüm: Thüringer SARS-CoV-2-Sondereindämmungsmaßnahmenverordnung), die im November 2020 in Kraft trat und bis zum 30. November befristet war. Sie sah weitreichende Kontaktbeschränkungen und Bußgeldstrafen bei Zuwiderhandlung vor.

Die Verordnung stützte sich damals noch alleine auf den Paragrafen 28 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) und damit auf eine "weit gefasste Generalklausel", die erst am 19. November 2020 durch die Einführung des umstrittenen Paragrafen 28a IfSG um konkrete Bestimmungen für Covid-19 ergänzt wurde.

Vor dem 19. November – und der Ankunft der "Neuen Normalität" in der deutschen Rechtsprechung – war die Ermächtigung der Exekutive, am Parlament "vorbei" Verordnungen zu erlassen, noch Teil einer regen Debatte, die den sogenannten Parlamentsvorbehalt als Gegenargument anführte. Und genau über dieser Frage entzweiten sich auch die Gerichte.

"Divergenz" in der Rechtsprechung

Am 10. November – die Diskussionen zwischen Bevölkerungsschutz und Grundrechtsachtung überschlugen sich – ging die Thüringer AfD-Fraktion mit einem "abstrakten Normenkontrollantrag" gegen besagte Verordnung vor. Und behauptete: Das Vorgehen der Landesregierung sei verfassungswidrig.

Der Thüringer VErfGH in Weimar stellte seine Entscheidung allerdings zurück. Grund war eine voraussichtliche Abweichung ("Divergenz") zur Rechtsprechung eines anderen Gerichts – in dem Fall des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt – welche laut Gesetzgebung nach einer Anrufung des BVerfG verlangt.

Sachsen-Anhalt hatte im März 2021 nämlich entschieden, dass die Rechtsprechung zum Pendant der Thüringer Verordnung, der "Achten SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung von Sachsen-Anhalt" eben doch verfassungswidrig sei – wenn auch nur teilweise –, eben weil sie über die damals geltende gesetzliche Grundlage im IfSG hinausging. Die Verfassungswidrigkeit, so liest man zur Erläuterung des Urteils auf anwaltonline.com:

"(…) betraf im Wesentlichen das Beherbergungsverbot, die Schließung der Gaststätten und die Untersagung von Reisebusreisen. Die Beschränkungen zum Aufenthalt im öffentlichen Raum, insbesondere von Trauungen und Trauerfeiern hingegen seien zwar durch das Infektionsschutzgesetz ausreichend legitimiert gewesen.

Sie ließen jedoch die ihnen unterworfenen Bürger nicht hinreichend klar erkennen, was unter welchen Voraussetzungen geboten oder verboten war. Wegen Verstoßes gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Gebot der Normenklarheit hat das Landesverfassungsgericht deshalb auch diese Regelungen für verfassungswidrig und daher nichtig erklärt.

anwaltonline.com

Interessant ist nun aber, dass Sachsen-Anhalt die Neuauflage der genannten Verordnung (Achtung, weiteres Wortungetüm: "Dritte Verordnung zur Änderung der Achten SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung") im Dezember als verfassungskonform (!) bezeichnete. Denn da galt ja bereits der umstrittene Paragraf 28a.

Um es kurz zu machen: Karlsruhe erkannte in einer Beurteilung der Thüringer Verordnung als verfassungskonform keine "Divergenz" im Sinne des Antrags (vollständiges Urteil zum Nachlesen hier). Das heißt: Thüringen entscheidet also (weiterhin) nach eigenem Ermessen. Viel interessanter ist allerdings ein anderer Aspekt.