Corona-Pandemie: Wut, Spaltung und offene Fragen

Seite 2: Schuldfrage

Die Schuldfrage scheint klar und der Tenor der Anklage gegen die Ungeimpften eindeutig: Schuld an der aktuellen Krise, die das Gesundheitssystem an seine Grenzen bringt, sind die Ungeimpften. Dies dürfte vermutlich der Hintergrund genannter massiver Vorwürfe sein.

Stellvertretend für viele stellt daher Olaf Scholz klar:

Das heute uns alle beeinträchtigende Infektionsgeschehen rührt von den Ungeimpften her. Darüber gibt es gar keinen Zweifel!

Sein Vorgänger Gerhard Schröder ist sicher: Impfunwillige, "sind die, die andere belasten und krank machen können durch Ansteckung". Und für Karl Lauterbach sind Ungeimpfte "die Treiber der Pandemie".

Nach Einführung von 2G, dem wenige Wochen später der Lockdown für Ungeimpfte folgte, steht nun die Einführung der allgemeinen Impfpflicht vor der Tür, die von vielen Bundestagsabgeordneten gefordert und von einer deutlichen Mehrheit der Deutschen befürwortet wird.

Wenn eine Gruppe die Schuld an der gegenwärtigen Krise trägt, erscheint deren Bestrafung naheliegend. Angesichts der brisanten und bedrohlichen Situation in den deutschen Krankenhäusern erscheinen die Wut, Aggression und der Schrei nach Abspaltung nachvollziehbar.

Komplexitätsreduktion

Die undifferenzierte Schuldzuweisung wird jedoch der Komplexität der gegenwärtigen Krise nicht gerecht, sondern vergisst wichtige Erkenntnisse der letzten Tage und Wochen. Der Virologe Christian Drosten hatte beispielsweise explizit erklärt:

Es gibt im Moment ein Narrativ, das ich für vollkommen falsch halte: die Pandemie der Ungeimpften. Wir haben keine Pandemie der Ungeimpften, wir haben eine Pandemie.

Hintergrund dieser Aussage war die deutliche Zunahme von sogenannten Impfdurchbrüchen. Aktuell (Stand 9. 12) sind knapp die Hälfte der über 60-jährigen Covid-Patienten auf Intensiv geimpft. Bei symptomatischen Erkrankungen sind es 70,6 Prozent.

Bereinigt man die Anzahl der Impfdurchbrüche (hierunter fallen nur symptomatische Erkrankungen von Geimpften), dann kommt man zu dem Ergebnis, dass bei den über 60-jährigen Geimpfte 26,4 Prozent zum Infektionsgeschehen beitragen, bei der Gruppe der 18 bis 59-jährigen 24 Prozent.

Mit anderen Worten: Geimpfte sind vor einer symptomatischen Erkrankung dreimal besser geschützt als Ungeimpfte. Also ein durchaus relevanter Schutz, aber weit entfernt von den ursprünglich laut klinischen Studien erklärten Schutz von 95 Prozent. (Hierbei muss man zudem bedenken, dass das RKI nur jeweils den Durchschnitt der letzten vier Wochen veröffentlicht. Auch auf Nachfrage von Telepolis ist keine Zahl für die aktuelle Woche zu erhalten).

Betrachtet man die Krankenhausdaten genauer, so zeigt sich nach offizieller Datenlage, dass Ungeimpfte bei der Gruppe 18-59 Jahren etwa 2,6 mal wahrscheinlicher symptomatisch erkranken und knapp siebenmal eher ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen. Bei den über 60-jährigen liegt die Wahrscheinlichkeit bei 2,8 und 6,2.

Es überrascht hierbei das Ausmaß der offiziell fehlenden Daten, das auch heute noch vorherrscht. Denn laut RKI ist bei, einem knappen Drittel, 32 Prozent der Menschen, die mit SARS-CoV2-2 im Krankenhaus liegen, erstaunlicherweise der Impfstatus nicht bekannt.

Inzwischen ist das RKI dazu übergegangen, diese Gruppe nicht automatisch den Ungeimpften zuzurechnen. Bayern und Hamburg vollziehen jedoch weiterhin diese Vorgehensweise.

Legt man den Fokus nun auf die deutschen Intensivbetten, also eigentlich dem Kernproblem der gegenwärtigen Krise, wird der Anteil der Menschen, deren Impfstatus nicht bekannt ist, vermutlich noch größer. Addiert man im aktuellen Wochenbericht die Anzahl von ungeimpften und geimpften Covid-Patienten auf Intensiv (für die Kalenderwochen 45-48), so kommt man auf 1.800.

Die Anzahl ist bemerkenswert gering, denn zu Beginn der Kalenderwoche 45 waren 2.613 Covid-Fälle auf deutschen Intensivstationen gemeldet. Am Ende der Kalenderwoche 48 4.805. Bei einer recht konstanten Steigerung kann man also in etwa von einem Durchschnittswert von 3.600 Intensivpatienten ausgehen, so dass bei etwa der Hälfte der Impfstatus unbekannt ist. (Norbert Häring hatte zuerst auf diese Differenz hingewiesen)

Auf Nachfrage von Telepolis erklärte hierzu das RKI:

Unabhängig davon, dass man immer einen Meldeverzug von 1-3 Wochen beachten muss, liegt die zunehmende Differenz zwischen der Hospitalisierten insgesamt und den symptomatischen Hospitalisierten mit bekanntem Impfstatus (Impfdurchbrüche-Tabelle) höchstwahrscheinlich an der derzeitigen Situation in Deutschland (4. Welle der Pandemie). Die Krankenhäuser sowie die Gesundheitsämter sind zurzeit sehr überlastet und können wahrscheinlich alle Angaben zu den hospitalisierten Fälle nicht vollständig erfassen und/oder dem RKI übermitteln. Es kann sein, dass diese uns nachträglich übermittelt werden, mit den Ergebnis, dass die Fälle, die dann unseren Definitionen entsprechen, werden automatisch rückwirkend in unseren Analysen berücksichtigt.

Angesichts der Bedeutung einer möglichst sicheren Datenlage ist es erschreckend, wie hoch auch heute noch die Unwissenheit und die Verlässlichkeit der Datenübertragung ist. (Inwiefern dies eher ein Problem des RKI, des Übertragungsweges, der Gesundheitsämter oder der Krankenhäuser ist, kann an dieser Stelle nicht näher thematisiert werden, siehe hier)

Warum unternimmt Deutschland nicht jede Anstrengung, nach dem berühmten Nebelscheinwerfer zu suchen, wenn man dauerhaft im Nebel fahren muss?

Es sollte im Sinne aller Menschen sein, anstatt die Aggression der Schuldvorwürfe zu steigern, alles zu unternehmen, um eine möglichst hohe Datensicherheit zu erhalten. Eine Forderung, die der Medizinstatistiker Gert Antes schon vor eineinhalb Jahren erhoben hatte.

Lesen Sie im zweiten Teil, wie die Impfkampagne die Hoffnung nicht erfüllen konnte und im Sommer Chancen verpasst wurden.