Corona-Untersuchung: Das Schweigen sollte enden

Seite 2: Gruppendenken

Nach dem Psychologen Irving Janis ist Gruppendenken ein "Denkmodus, den Personen verwenden, wenn das Streben nach Einmütigkeit in einer kohäsiven Gruppe derart dominant wird, dass es dahin tendiert, die realistische Abschätzung von Handlungsalternativen außer Kraft zu setzen".

Gruppendenken kann gerade bei grundlegenden politischen Entscheidungen in Angesicht einer äußeren Bedrohung zu Katastrophen führen, wie die Geschichte gezeigt hat.

Schon im August 2020 mahnten in einem Gastkommentar in der taz die Epidemiologen Angela Spelsberg und Ulrich Keil:

Aus unserer Sicht haben sich Politik und öffentliche Meinung selten so sehr auf den Rat von nur wenigen Fachleuten gestützt wie jetzt in der Coronakrise.

Und es stellt sich die Frage, ob die Expertengremien genügend interdisziplinär und ausgewogen zusammengesetzt sind, um die Politik in dieser Krise mit Gelassenheit und Augenmaß und ohne Interessenkonflikte beraten zu können.

Es geht ja nicht nur um die Beurteilung der Gefährlichkeit der Pandemie, sondern auch um die Abschätzung des tatsächlichen Nutzens der Maßnahmen für die Eindämmung der Pandemie; und nicht zuletzt geht es auch um die Beurteilung der durch die Maßnahmen möglicherweise verursachten Kollateralschäden – nicht nur für die Gesundheit, sondern auch für Gesellschaft, Demokratie, Kultur, Bildung und Wirtschaft.

Die Besetzung des Expertenrates

Der Expertenrat der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel war beispielsweise mit acht Experten besetzt, die sich bereits zuvor fast ausschließlich für deutlich strengere Maßnahmen mit dem zentralen Ziel, die Infektionszahlen massiv zu senken, stark gemacht haben.

Die Zero-Covid-Strategie war mit der Virologin Melanie Brinkmann vertreten. Einen Kritiker der Maßnahmen suchte man hingegen vergebens.

Der Virologe Hendrik Streeck, der im Jahr 2020 schnell zur Zielscheibe der medialen und politischen Kritik wurde, kritisierte im Februar letzten Jahres:

Es ging schnell mehr um Gut und Böse als um die Suche nach dem richtigen Weg. Das nahm teils fast intolerante Züge an, es herrschte die Totalität eines einzigen Arguments statt Diskurs.

Und dabei merkte man viel zu spät: Richtiger Umgang mit Corona ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, der längst nicht nur virologische Aspekte hat. Da fehlten die facettenreichen Stimmen vieler Fachleute, die am Ende doch alle das gleiche Ziel hatten.

Inwiefern der Expertenrat der aktuellen Bundesregierung ausreichend mit Menschen unterschiedlicher Fachrichtungen und Meinungen besetzt ist, gilt es zu fragen.

Wie steht es um eine ausreichende Abwägung?

Klaus Stöhr kritisierte im letzten Sommer:

Mehr als 60 Prozent der Todesfälle betrafen Menschen, die über 70 Jahre alt waren. Viele dieser Personen kamen aus der stationären Pflege, allerdings war niemand in dem Gremium, der aus der Geriatrie kam, niemand, der sich mit Alten- und Pflegeheimen und der Betreuung von Personen in solchen Einrichtungen professionell auseinandersetzt.

Es gab auch keinen Krankenhaushygieniker oder einen Vakzinologen, der weiß, wie Impfstoffe entwickelt und zugelassen werden.

Stattdessen gab es in dem Expertenrat auch Mikrobiologen, die kundtaten, vor der Pandemie noch nie etwas mit Corona und praktischer Seuchenbekämpfung zu tun gehabt zu haben.

Was für mich völlig unverständlich ist: wie man Leute in ein solches Gremium berufen kann, die eine Null-Covid-Strategie verfolgen. (...) jeder Medizinstudent im sechsten Semester weiß sicherlich, dass eine Null-Covid-Strategie null realistisch ist. Hier wurde die Hoffnung und der Wunsch zur Erwartung stilisiert.

Mit einer notwendigen Untersuchung, inwiefern die deutsche Politik Opfer von Gruppendenken wurde, geht die ebenfalls zu untersuchende Frage einher, ob bei den beschlossenen Maßnahmen tatsächlich eine ausreichende Abwägung stattgefunden hat, dass diese in den gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen nicht mehr Schaden anrichten, als dass sie vor Schaden bewahren.

Qualität der Vorhersagen

Die Gefahren des Gruppendenkens auf Entscheidungen und Vorhersagen hat der Politikwissenschaftler Philip E. Tetlock in seinem Buch "Superforecasting" eingehend untersucht, das das Wall Street Journal als "das wichtigste Buch über Entscheidungsfindung seit Daniel Kahnemans Schnelles Denken, Langsames Denken" bezeichnet.

Tetlock ist der Frage nachgegangen, was ein Team von Menschen kennzeichnet, das die genauesten Vorhersagen trifft. Sein aufwendiges The Good Judgment Project offenbarte, dass nach bestimmten Kriterien ausgewählte Amateur-Prognostiker in ihren Vorhersagen Experten erstaunlicherweise im Schnitt bei Weitem übertrafen.

Tetlocks Forschung belegt die Gefahr des Gruppendenkens und führt ihn zu dem Schluss:

Die Kombination einheitlicher Perspektiven führt nur zu mehr vom Gleichen, während leichte Variationen zu leichten Verbesserungen führen. Es ist die Vielfalt der Perspektiven, die die Magie wirken lässt.

Dabei betont Tetlock das besondere Kennzeichen der sogenannten "Superforecaster":

Je vielfältiger ein Team ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass einige über Informationen verfügen, die andere nicht haben.

Auch einen weiteren Rat von Tetlock sollte sich jeder Experte zu Herzen nehmen:

Hinter der Superprognose steht ein Geist der Bescheidenheit - das Bewusstsein, dass die Komplexität der Realität überwältigend ist, unsere Fähigkeit, sie zu verstehen, begrenzt und Fehler unvermeidlich sind.

Das Wissen existiert, wie ein Rat von Experten aussehen muss, um in hochkomplexen Situationen möglichst treffende Vorhersagen und damit Entscheidungen fällen zu können. Ist dieses Wissen aber während der Corona-Jahre auch in die Praxis umgesetzt worden?

Dies müsste ein transparenter Untersuchungsausschuss klären.