Corona-Untersuchung: Das Schweigen sollte enden

Polizeikontrolle Ausgangssperre Lockdown Corona

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Von Gruppendenken bis zu übertriebenen Maßnahmen – auf dem Prüfstand: Deutschlands Corona-Politik. Warum so lange auf eine Untersuchung warten? (Teil 1).

Nachdem vor einem Monat die RKI-Files öffentlich gemacht wurden, freigeklagt von Multipolar, kommt langsam Bewegung in eine festgefahrene Debatte.

Eine wachsende Zahl von Politikern äußert sich zustimmend zu einer Untersuchung, auch wenn noch bei vielen ein deutlicher Widerstand weiterhin zu erkennen ist. Nun will Gesundheitsminister Karl Lauterbach die RKI-Protokolle weitgehend entschwärzen lassen.

Allerdings hat das Verwaltungsgericht Berlin auf Antrag des Robert Koch-Instituts einen Termin zur mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme in Sachen der Multipolar-Klage zur Entschwärzung der Dokumente auf den Juli verschoben.

Leichte Kehrtwendung

Bereits kurz vor der Veröffentlichung der RKI-Files meldeten sich die ersten Regierungspolitiker mit zurückhaltender Selbstkritik.

Der damalige Innenminister Horst Seehofer würde heute mit der Forderung nach einer Zwangsimpfung vorsichtiger sein. Der damalige Kanzleramtsminister Helge Braun kritisiert, dass mit der Impfung die nicht erfüllbare Erwartung des Endes der Krise geschürt worden wäre. Und Karl Lauterbach gesteht, "der größte Fehler" sei der strenge Umgang mit den Kindern gewesen.

Also insgesamt ausreichend Zeichen, dass die Politik aus dieser Krise der Corona-Jahre lernen und Fehler bei den getroffenen Maßnahmen, die insgesamt 440 Milliarden Euro gekostet haben (etwa 5.200 Euro pro Deutschen) aufklären will?

Schweigende Politik

Bereits im März 2023, also vor einem Jahr, hatte die FDP eine Enquete-Kommission des Bundestages zur Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen gefordert. Ohne Erfolg.

Es stellt sich daher die Frage, wie selbstkritisch der aktuelle Aufklärungswille tatsächlich ist. Es ist nur schwer nachvollziehbar, wenn die Politik, nachdem sie die schwersten Eingriffe in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger seit Bestehen des Landes durchgesetzt hat, um – so die damals viel gebrauchte Metapher – "möglichst unbeschadet durch den Nebel fahren zu können", nach der Fahrt kein Interesse daran zeigt, zu überprüfen, ob und inwieweit alle Maßnahmen wirklich notwendig waren oder ob das Auto nicht vielleicht doch mit über mehr oder weniger geeignete Nebelscheinwerfer verfügt hätte.

Und nicht zuletzt, ob es Maßnahmen gegeben hat, die auch Schäden angerichtet haben, die den Nutzen überstiegen. Nicht zuletzt ist hier das einsame Sterben alter Menschen zu nennen, also gerade der Gruppe Menschen, die besonders durch die Maßnahmen geschützt werden sollten.

Offener Brief: "Unzureichende Krisenfestigkeit unserer Gesellschaft"

Ebenfalls bereits im März letzten Jahres schrieben eine Reihe von Wissenschaftlern einen Offenen Brief mit folgender Einleitung, die sich ausführlicher zu zitieren lohnt:

Die Corona-Pandemie hat in unserem Land tiefe Spuren hinterlassen und eine unzureichende Krisenfestigkeit unserer Gesellschaft offenbart. Viele Menschen fühlen sich nach der Pandemie alleingelassen mit ihren Enttäuschungen, Ängsten und Verlusterfahrungen und haben Vertrauen in staatliche und wissenschaftliche Institutionen verloren.

Es wurden Existenzen zerstört und Lebenspläne über den Haufen geworfen, Freundschaften und Familien sind an der Polarisierung der Gesellschaft zerbrochen.

Zwar wächst die Einsicht, dass unsere Reaktion auf die Bedrohung durch das Virus in vielerlei Hinsicht nicht optimal war, dass beispielsweise die langen KiTa-, Schul- und Hochschulschließungen nicht verhältnismäßig waren und Familien, insbesondere Mütter, nachhaltig belastet haben.

Ebenso werden psychische und soziale Vereinsamung der vulnerabelsten Gruppen (z.B. psychisch Kranke und hochbetagte Menschen) als Kollateralschäden nicht hinreichend austarierter Schutzmaßnahmen anerkannt.

Doch bleibt die bisherige Reflexion über die Pandemie zu punktuell und zu sehr vom Streben nach politischer und medialer Meinungshoheit geprägt. Es bedarf einer geordneten und systematischen Aufarbeitung, um robuste Lehren für zukünftige Krisen zu ziehen und ähnliche Fehler zu vermeiden.

Zu den Erstunterzeichnern gehörten Prof. Gerd Antes (Medizinstatistik), Prof. Jonas Schmidt-Chanasit (Virologie), Prof. Matthias Schrappe (Infektiologie) und Prof. Klaus Stöhr (Public Health, Epidemiologie, Virologie, Vakzinologie).

Wenig später folgte ein zweiter Offener Brief, der zum Ziel hatte:

"(...) die Priorisierung und Strukturierung der infrage stehenden Themen (vorzunehmen). Im Vordergrund stehen (1) die Infragestellung des Grundgedankens der Evidenz, (2) die Schwächung des Prinzips der Patientenorientierung und (3) die neuerdings bevorzugte Top-Down-Steuerung ohne Einbeziehung der Partner im Gesundheitswesen."

Kampf um Deutungshoheiten

Die Politik blieb trotz mehrerer Forderungen nach Aufarbeitung taub. Beispielsweise äußerte der gesundheitspolitische Sprecher der Grünen Janosch Dahmen die Sorge, "dass es am Ende eher ein Kampf um Deutungshoheiten und nachträgliche Schuldzuweisungen wird und damit weiteres Vertrauen der Bevölkerung verloren geht" und personalisierte das Thema, indem er den Hauptinitiator der Forderung nach einer Enquete-Kommission kritisierte:

Wolfgang Kubicki hat während der Pandemie immer wieder extreme Positionen vertreten und durch eine zum Teil AfD-nahe Rhetorik versucht, eine gesellschaftliche Spaltung herbeizureden. Mir fehlt die Fantasie zu glauben, dass ausgerechnet er Interesse an seriöser, nach vorn gerichteter Aufarbeitung hat.

Klaus Stöhr klagt:

Ich habe dafür kein Verständnis. Man muss doch jetzt händeringend die richtigen Schlüsse aus der Vergangenheit ziehen, um bei der nächsten Pandemie besser vorbereitet zu sein.

Seine Fehlerauflistung ist lang:

Das fing bereits beim Grundlagenwissen an: Atemwegserreger führen zu keiner sterilen Immunität, alle werden sich mehrmals infizieren. Die Impfung kann nicht verhindern, dass man sich und andere ansteckt, aber sie kann die Folgen der eigenen Ansteckung abmildern. Eine Infektion bewirkt in der Regel eine bessere Immunität als ein Impfstoff mit nur einem Virusprotein.

Massentestungen von asymptomatischen Personen führen selbst bei geringer Fehleranfälligkeit der Tests zu Fehleinschätzungen. Begleitende Forschung ist für eine Fehlerkorrektur während der Bekämpfung essentiell, etcetera etcetera …

Noch wichtiger ist die Frage: Was war relativ schnell nach dem Beginn der Pandemie als gesichert bekannt?

Dazu zählte vor allem die Rolle der Kinder. Hier hätte man zum Beispiel nur auf die medizinischen Fachgesellschaften hören müssen.

Klaus Stöhr

Schweigende Medien

Nicht nur die Politik muss angesichts des Desinteresses an einer Aufarbeitung kritisiert werden. Auch die Medien haben es sich zumeist in einem vergleichbaren Fahrwasser bequem gemacht. Martin Rücker kommentiert in der Berliner Zeitung:

Die Pandemie-Maßnahmen haben große gesellschaftliche Konflikte ausgelöst und befeuert. Dennoch hat kein klassisches Medium, darunter auch große, gut ausgestattete Redaktionen, für eine Öffentlichkeit der Dokumente gesorgt.

Dieses Medienversagen zu benennen, ist nötig. Viel zu wenig nutzt der Journalismus die Möglichkeiten der Informationsfreiheitsrechte, setzen Medienunternehmen ihre Auskunftsrechte auch mithilfe von Anwälten durch – es ist höchste Zeit, dies zu ändern.

Timo Rieg mahnt auf Telepolis:

Die journalistische Aufarbeitung der Jahre 2020 bis 2023 müsste mit Journalismuskritik beginnen. Wie konnten all die Falschbehauptungen in die Berichterstattung gelangen, wieso unterblieb fast jede Recherche dazu?

Auch der Autor dieser Zeilen muss sich die Frage stellen, warum er zum Beispiel bereits Anfang des Jahres 2023 einen Artikel über die Notwendigkeit einer transparenten Untersuchung der Maßnahmen schreiben wollte und erst jetzt – mehr als ein Jahr später – konkret schreibt, obwohl die Schlussfolgerung und die Schlusszeilen dieser aktuellen dreiteiligen Artikelserie schon zum damaligen Zeitpunkt formuliert waren.

Notwendig ist eine Untersuchung, um beispielsweise herauszufinden, inwiefern in Deutschland und gerade bei den Entscheidungsträgern ein sogenanntes Gruppendenken vorgeherrscht hat.