Covid-19-Impfung: Auf der Suche nach den 95 Prozent Wirksamkeit

Seite 3: Konfusion

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier konnte die anfängliche Impfzurückhaltung in Deutschland nicht verstehen und mahnte eindringlich:

Jede einzelne Impfung verhindere neue Infektionen und schütze Menschenleben. (…) Nehmen Sie Ihr Impfangebot wahr, wenn Sie an der Reihe sind. Schützen Sie sich selbst und andere!

Seine Rede hielt er am 25. Februar. Einen Tag nach Erscheinen der Studie aus Israel. Inwiefern seine Betonung der Wirksamkeit des Infektionsschutzes schon hochaktuell auf diesen Daten basiert und kein Missverständnis wie beispielsweise der obige Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war, kann nicht geklärt werden.

Allerdings hatte Steinmeier sich bereits Mitte Dezember mit einer fast identischen Botschaft an die Bevölkerung gewandt. Mit Hinweis auf die Herdenimmunität hatte er von einem "Akt gesamtgesellschaftlicher Solidarität" gesprochen, so dass der Verdacht naheliegt, dass sein erneuter Aufruf nicht Ergebnis der neuen Zahlen aus Israel war.

Eindeutig ist hingegen der Fall des Bayerischen Ministerpräsident Markus Söder. Er forderte bereits am 12. Januar 2021 eine Impfpflicht für das Pflegepersonal. Wohlgemerkt mahnte er dies also in einer Zeit an, als es keine einzige definitive Zahl über den Schutz vor asymptomatischen Infektionen und damit einen Fremdschutz gab. Dennoch argumentierte er:

Es geht ja beim Impfen nicht nur um den Eigenschutz, sondern um den Schutz des Nächsten.

Angesichts mehrerer Äußerungen führender Politiker (und ebenfalls einiger Journalisten), die vermutlich stellvertretend für eine Reihe weitere Stellungnahmen stehen, kann es nicht wirklich überraschen, dass sich zum Start der Impfkampagne bei der Bevölkerung mehrheitlich die Überzeugung eingestellt hatte, dass die Impfung auch vor einer asymptomatischen Infektion schützt und die Verhinderung der Weitergabe des Virus bereits bei der Zulassung mit Daten belegt gewesen sei.

In einer Umfrage Anfang Januar 2021 befürworten entsprechend rund 58 Prozent der Befragten die Frage, ob eine Corona-Impfpflicht für Pflegekräfte für zielführend sei, um die Risikogruppen besser zu schützen.

Wie zuvor erwähnt, zu diesem Zeitpunkt war dies aber kein Ausdruck von wissenschaftlicher Nüchternheit, sondern von unbelegtem Wunschdenken. Auf eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung antwortete eine Privatperson auf die Frage, ob sie sich impfen lassen werde, ganz in diesem Sinne:

"Auf jeden Fall! Sofort! Ich will doch wieder in mein altes Leben zurück. Außerdem ist es im Sinne der Solidarität zu meinen Mitmenschen, dass weder ich mich mit dem Virus anstecke, noch andere damit anstecken kann."

Frühe Bedenken

Bereits am 26. November 2020, eine Woche nach Veröffentlichung der 95 Prozent, betonte Peter Doshi, Mitherausgeber des renommierten British Medical Journals, dass die klinische Studie von Biontech keinerlei Aussage über den Schutz vor einer Infektion mache:

Lassen Sie uns dies in die richtige Perspektive rücken. Erstens wird eine relative Risikoreduzierung angegeben, nicht eine absolute Risikoreduzierung, die offenbar weniger als ein Prozent beträgt.

Zweitens beziehen sich diese Ergebnisse auf den primären Endpunkt der Studien, d. h. Covid-19 in praktisch allen Schweregraden, und nicht auf die Fähigkeit des Impfstoffs, Leben zu retten, oder die Fähigkeit, Infektionen zu verhindern, oder die Wirksamkeit in wichtigen Untergruppen (z. B. gebrechliche ältere Menschen). Diese bleiben weiterhin unbekannt.

Drittens beziehen sich diese Ergebnisse auf einen Zeitpunkt relativ kurz nach der Impfung, und wir wissen nichts über die Wirksamkeit des Impfstoffs nach 3, 6 oder 12 Monaten, sodass wir diese Zahlen nicht mit anderen Impfstoffen wie Grippeimpfstoffen (die über eine ganze Saison hinweg beurteilt werden) vergleichen können.

Peter Doshi, BMJ

Wiederholt wies er auf die Notwendigkeit hin, auch die Rohdaten der klinischen Studien prüfen zu können.

Mitte März dieses Jahres war er dann selbst an einer Studie beteiligt, die erklärt, warum auch ganz grundsätzlich die 95 Prozent Impfwirksamkeit gegen Erkrankung mit Vorsicht zu genießen sind:

Bei den entscheidenden Covid-19-Impfstoffstudien wurde als primärer Endpunkt eine im Labor bestätigte, symptomatische Covid-19-Infektion zugrunde gelegt. Bei der Schätzung der Wirksamkeit des Impfstoffs wurden jedoch nicht alle Covid-Fälle berücksichtigt. Die Forscher begannen erst dann mit der Zählung der Fälle, wenn die Teilnehmer mindestens 14 Tage (bei Pfizer sieben Tage) nach Abschluss des Impfschemas geimpft waren, ein Zeitpunkt, den die Gesundheitsbehörden später als "vollständig geimpft" bezeichneten.

Die Gründe für den Ausschluss von Fällen, die vor Beginn dieses "Fallzählungsfensters" auftraten, wurden in den Studienprotokollen nicht dargelegt, und die Rechtmäßigkeit des Ausschlusses von Ereignissen nach der Randomisierung ist seit Langem umstritten. In einem Post-Marketing-Dokument von Pfizer heißt es jedoch, dass der Impfstoff in der ersten Zeit nach der Impfung noch nicht genügend Zeit hatte, das Immunsystem zu stimulieren.

Bei randomisierten Studien ist es einfach, das Zählfenster für "vollständig geimpfte" Fälle sowohl auf die Impfstoff- als auch auf die Placebo-Gruppe anzuwenden. In Kohortenstudien wird das Fallzählungsfenster jedoch nur auf die geimpfte Gruppe angewandt.

Da ungeimpfte Personen keine Placeboimpfungen erhalten, ist eine Zählung 14 Tage nach der zweiten Impfung einfach nicht möglich. Diese Asymmetrie, bei der das Zeitfenster für die Fallzählung Fälle in der geimpften, nicht aber in der ungeimpften Gruppe ausschließt, verzerrt die Schätzungen. Infolgedessen kann ein völlig unwirksamer Impfstoff als wesentlich wirksam erscheinen - 48 Prozent wirksam.

Peter Doshi