Covid-19 und das Ende der Ratio

Seite 2: Wackelkandidaten: Die Monumente der Bourgeoisie

Den Innenstädten der westlichen Metropolgesellschaften geht 2020 der Lebenssinn verloren. Impulskäufe finden nicht mehr statt. Der Fetisch der Ware samt seinen Tempeln rückt im Lockdown für viele in eine quälende Distanz. Man kauft ersatzweise online, die Umsätze von Amazon brechen bisherige Rekorde.

Die wuchernde Überproduktion weltweit ist nur vorübergehend ausgebremst, sie nimmt 2021 wieder Fahrt auf, temporäre Unterbrechungen in den Lieferketten werden das faustische Grundprinzip nicht ins Wanken bringen. Die Natur ist weiterhin "gratis da" (zerstörte Natur und demoralisierte Menschen), bei voll funktionierender Industriemaschinerie.

Wo das durchrationalisierte Weltgetriebe unerwartet Schwachstellen zeigt, aktuell etwa am Beispiel fehlender Chips (Halbleiter), wird man zweckrational etwas dagegen unternehmen, Prozesse optimieren und die Kundschaft trösten. Umdenken (metanoia) ist nicht angesagt.

Viel interessanter am Beispiel ist die Beobachtung, wie abhängig der Dinosaurier "Automobilbranche" von den Winzlingen ist, was uns zugleich den ausufernden digitalen Megatrend vor Augen führt, der hinter den Kulissen am Werk ist und hier seine Grenzen offenbart. Auch Grenzen des Machbaren? Des Wünschbaren?

Gleichzeitig begegnen wir monströsen Gegensätzen. Walter Benjamins (1892-1940) Zeitdiagnose klingt angesichts der Unerschütterlichkeit der globalisierten Wirtschaft mit ihren vernetzten Industriekomplexen und ausgeklügelten Herrschaftsapparaten heute, rund 85 Jahre später, beinahe weltfremd:

Mit der Erschütterung der Warenwirtschaft beginnen wir, die Monumente der Bourgeoisie als Ruinen zu erkennen, noch ehe sie zerfallen sind.

Walter Benjamin, 1935. Zit.: Passagen, Stuttgart (RUB) 2020, S. 66

Benjamin, der die Pariser Einkaufspassagen seiner Zeit als Zentren zivilreligiöser Sinnstiftung beschrieb, erwies sich damit nicht als Vorrausseher eines triumphierenden Konzernkapitalismus, welcher imstande ist, beinahe jede Krise zu überstehen: Die Monumente von heute haben einen anderen Anstrich bekommen, und die Bourgeoisie mag die Kleider gewechselt haben - der Geist ist sich gleich. Der Homo oeconomicus, das "praktische Arbeitspferd des Marktfundamentalismus", reüssiert als Erfolgsmodell des modernen Menschen auch in der Krise. (Zit.: Paul Collier, John Kay: Das Ende der Gier, München 2020, S. 45).

Titanische Träume

Zurück in die Gegenwart der Pandemie: Während viele ums bloße Überleben kämpfen, erfreuen sich wenige an nie dagewesenen Reichtümern und Gewinnmaximierung. Das Vermögen der zehn reichsten Männer der Welt hat sich seit letztem Jahr um mehr als 500 Milliarden US-Dollar erhöht, schreibt das Magazin Jacobin:

Das Geld würde ausreichen, um die gesamte Welt mit Impfstoff zu versorgen. Allein in Deutschland stieg das Vermögen der Reichsten um mindestens 100 Milliarden Euro, während 15,5 Millionen Haushalte in Deutschland Einkommenseinbußen hinnehmen mussten.

Elon Musk, Jeff Bezos und Mark Zuckerberg treten gerade an, den Raum des titanischen Welterwerbs expressiv zu erweitern. Mit Spacex, Blue Origin und Metavers übertragen die neuzeitlichen Wirtschaftsriesen den Warencharakter aufs Universum. Auch eine imaginäre Flucht ins "Extraterrestrische"?

An Abnehmern wird es nicht fehlen und fehlt es schon heute nicht. Die Loslösung von der Erde und ihrer lästigen Schwerkraft lockt mit phänomenalen Aussichten (und Gewinnmargen). In den Denkfabriken der hybriden Welthersteller gedeihen derweil Pläne, das Universum in der bisherigen Form überhaupt abzulösen. Physische Gegenstände werde man einscannen können, damit sie auch im "Metaverse" präsent sind, sagt Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, und eröffnet "Räume für Millionen" (frei nach Goethe). Der Tod ist abgeschafft.

Der Bezug des Menschen zum Ganzen der Welt wird sich endgültig verändern: Der bisherige Weltinnenraum bekommt Konkurrenz. Alles Wirkliche wird so gesammelt, d.h. verwandelt, dass das Grundwort der Wirklichkeit einfach "Meta" heißen muss (vgl. Metamorphosis).

Die Willkürherrschaft über Dinge setzt die Vereinnahmung der Menschheitspopulation freilich schon voraus, selbstverständlich politisch korrekt unter Wahrung von Mannigfaltigkeit und Geschlechterneutralität. Wir werden als männliche, weibliche, diverse Quantenzwillinge gleichberechtigt teilhaben an der digitalen Auferstehung, zum verewigten Dasein im Hyperraum.

Home, Office, Homeoffice

Der Alltag der Mehrheit gestaltet sich indes vorerst weiter höchst irdisch. Das Homeoffice ist in der Corona-Krise über Nacht zum geläufigen Arbeitsplatz geworden. Allerdings wurde das neue Modell in der jetzigen Form aus Not geboren, weniger aus Einsicht. Was auf den ersten Blick smart rüberkommt (flotte junge Mutti mit Laptop und Fläschchen), erweist sich bei näherem Hinsehen leider oft als weitere Episode einer Transformation der Disziplinierungs- in die Kontrollgesellschaft. Wir nehmen es als normal hin, wie Arbeit und Freizeit während Corona ineinander übergegangen sind.

Die Stressgeplagten machen einen Teil ihre Zweizimmerwohnung zum Arbeitstrakt und öffnen unter der Hand neuen Formen der Beherrschbarkeit Tür und Tor. Rückzugsräume werden schleichend kommerzialisiert. Eine daraus resultierende Instabilität der Stimmungslage ist Sache des Einzelnen und wird gern in die individuelle Psyche zurückverlagert.

In der Art, wie Bewusstsein in Beschlag genommen wird, spiegelt sich der Forderungskatalog marktkonformer Lebenspraxis und unternehmensorientierter Selbstdarstellung. Die herausgelöste Performance wird als Modell-Konstruktion so zum Teil der gesamten Sinnstruktur – ihrerseits ein Modell.