Covid-19 und das Ende der Ratio

Seite 3: Covid-19 gegen den Gestus der instrumentellen Vernunft

Nicht nur in Deutschland wirken der Staat, seine Institutionen und die Gesamtgesellschaft zum Ausklang des zweiten Corona-Jahres überfordert, rat- und machtlos. Innovativ klingendes Marketing-Speech (Boostern, 2G+, Modellstadt, Modellregion, Schnellteststrategie) klingt nur gut und kann über das katastrophale Versagen der Speaker nicht hinwegtäuschen.

Um ein Bonmot des Publizisten Harry Pross aufzugreifen: Der ökonomische Klerus regiert (das gilt fraglos auch für den globalisierten Konzernkapitalismus während Corona); die politische Klasse herrscht, aber regiert nicht.

Die Intensivstationen laufen in der vierten Welle voll. Viele Pflegekräfte haben inzwischen aus Mangel an Kraft und Motivation das Handtuch geworfen. Also es liegt etwas im Argen: Rasche Besserung nicht in Sicht. Die Pandemie ist nicht ursächlich an der Misere schuld, sie hat die Missstände ans Licht gebracht.

Neben der Kranken- gilt das für die Altenpflege: Hier ist von 20.000 offenen Stellen die Rede, Pflegeforscher Heinz Rothgang berechnet den tatsächlichen Bedarf auf 120.000 Kräfte und das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) extrapoliert die Lücke bis zum Jahr 2035 auf mehr als 300.000, die Alterung der Gesellschaft eingerechnet. "Die Pflege ist ein Pflegefall", resümiert der Kölner Stadt-Anzeiger.1

Im besten Fall würde man in einer Krise etwas dazulernen. Das setzt Möglichkeitssinn voraus, der mit den rein technisch-materiellen Bewältigungsstrategien, mit denen wir der Welt gegenübertreten, nicht schon erfasst ist. Wir sind es gewohnt, handhabbare Hebel zu benutzen, suchen als Erstes nach einem Instrumentenkasten.

In Krisen sind Menschen mit Ereignissen und Veränderungen konfrontiert, die bisherige Lebensziele und -vollzüge in Frage stellen. Der sonst alltäglich ablaufende Ausgleich zwischen Ist- und Sollzustand kann nicht mehr routiniert, automatisch, ohne erkennbaren Aufwand stattfinden.

Margret Dross: Krisenintervention, Göttingen (Hogrefe) 2001, S. 18

In der Corona-Pandemie, die trotz eines hypermodernen genetischen Impfstoffs nicht klein beigeben will, anders gesagt: die der technisch-wissenschaftlichen Rationalität und der dazugehörigen positiven, i.e. politisch-ideologischen Erwartung trotzt, gibt es außer dem naturwissenschaftlichen Ansatz (Impfen) nur mehr oder weniger dürftige Versuche, der Lage mithilfe behördlicher Werkzeuge und sozialer Appelle beizukommen (Lockdowns, AHA-Regeln, Notfallparagrafen).

Über den Erfolg oder Misserfolg solcher Maßnahmen wollen wir hier nicht streiten. Um die 50.000 Neuinfektionen am Tag sind für sich Stressfaktor genug. Was wir gerade erleben, könnte man einen atavistischen Affront der Natur gegen das Mantra der Beherrschbarkeit nennen: Das Virus ist zurück. Wir machen weiter.

Gesunder Menschenverstand!?

Der französische Soziologe Bruno Latour hat einen Fragebogen zur Selbstreflexion veröffentlicht. Was kann man in diesen Zeiten der Orientierungslosigkeit tun? Er knüpft damit an den Vorschlag aus seinem "Terrestrischen Manifest" an.

Hilft "gesunder Menschenverstand"? Latour fände es, wie er selbst sagt, schade, die Gesundheitskrise ("Pause im globalisierten Produktionssystem") nicht zum Nachdenken zu nutzen. Die durch Corona erzwungene Unterbrechung sieht er als Gelegenheit zu einer persönlichen Bestandsaufnahme.

Auf die Bitte um gesunden Menschenverstand - "Lasst uns die Produktion so schnell wie möglich wieder aufnehmen" - müssen wir mit einem Schrei antworten: "Sicher nicht!". Das Letzte, was wir tun sollten, wäre, wieder alles genau so zu machen, was wir vorher gemacht haben.

Bruno Latour

Sein "Selbstbeschreibungsfragebogen" soll dabei helfen, persönliche Antworten zu formulieren. In sogenannten Beschwerdeheften (cahiers de doléance) hat er das Verfahren der Selbstbeschreibung mit KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen entwickelt.

Übers Jetzt hinaus

Auf Impfen folgt Boostern. Die Wirtschaft erholt sich. Normalität kehrt zurück: Die Modell-Konstruktion könnte schlechtestenfalls exakt so lauten. Alles wird wie vorher.

Margret Dross sprach von "Aufwand", den es bedeutet, einer Krise zu begegnen. Welche Ressourcen sind gemeint, welche stehen dem Einzelnen überhaupt zur Verfügung? Mit der Frage dürften sich schon Unterschiede auftun; Corona trifft nicht alle gleich. Der im Artikel bereits zitierte Harry Pross sprach von der "Erneuerbarkeit humaner Energie".

Für jedermann ist es gleichwohl nicht leicht, sich den vorherrschenden Kulturmustern zu entziehen, die unsere Wahrnehmung nach außen drängen. Die täglichen Nachrichten bannen den Fokus auf die Bewältigung der Krise im Jetzt. Wir werden zu Gefangenen im Panoptikum der äußeren Bilder, die uns zugleich fixieren; Vorstellungen über das Leben als stets zu justierenden Entwurf – das potenzielle Scheitern eingerechnet – bleiben auf der Strecke.

Faust, der Weltverschwender, erblindet im fünften Akt des Dramas. Er sieht das Unheil nicht, das sein höchst eigenes geworden ist. Corona könnte uns die Augen öffnen: Goethes Modell des faustischen Titanentums enthält eine zeitgemäße Lehre.