Crowdsourcing und Cloudworking: Schöne neue Arbeitswelt

Seite 2: Die Verflüssigung des Arbeitslebens

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Das von der Konzernführung "Liquid" getaufte Organisationsmodell sieht eine massive Flexibilisierung der Arbeitsabläufe und deren "flüchtigere Organisation" vor, die durch die Auslagerung von Tätigkeitsfeldern an externe Dienstleister und insbesondere an freie Mitarbeiter bewerkstelligt werden soll. Die Masse betriebswirtschaftlich verwerteter Arbeitskraft - wie auch der hierfür notwendigen Arbeitskräfte - soll so einer Flüssigkeit gleich nahezu friktionslos den Erfordernissen des Konzerns angepasst werden können. Das Liquid-Konzept stellt somit die Perfektionierung des neoliberalen Wunschtraums vom "atmenden Unternehmen" dar, das Lohnarbeiter nach Gutdünken heuern und feuern kann.

Das Neuartige an diesem Konzept besteht darin, dass nun Organisationsstrukturen des Internets massiv auf die Arbeitsabläufe in der IT-Branche übertragen werden sollen. Das Internet scheint aus der digitalen Sphäre herauszutreten und sich in der Realität des Arbeitslebens in dessen Strukturen zu "materialisieren". Das Internet 2.0 ist durch die Aktivität der Netzteilnehmer geprägt, der "Schwarm" gilt als dessen zentraler Akteur, das "soziale Netzwerk" bildet dessen grundlegende Kommunikationsplattform, die Cloud (Datenwolke) gilt als dessen zentrales Strukturmerkmal. Und genau diese Charakteristika des Web 2.0 - der "Schwarm", das soziale Netzwerk und die Cloud - sollen auf die Arbeitswelt übertragen werden.

Um die Ausmaße der drohenden Prekarisierungswelle voll zu erfassen, muss hier nochmals der fundamentale Unterschied zu den Umstrukturierungsschüben im Gefolge der Inwertsetzung der Techniken des "passiven" Internet 1.0 betont werden. Das Internet 1.0 spielte bei den bisherigen Globalisierungsschüben größtenteils eine strukturell passive Rolle, weil es nur die bestehenden Strukturen der Betriebsorganisation quantitativ modifizierte und erweiterte: Es ermöglichte eine größere Reichweite betriebswirtschaftlicher Organisation, eine Beschleunigung des Verwertungsprozesses, größere Effizienzgewinne oder Einsparpotenziale …

Das Web 2.0 wird hingegen aktiv zu der strukturellen Auflösung und Zerfaserung der gegebenen betriebswirtschaftlichen Strukturen beitragen, wie es bereits an IBMs Liquid-Konzept absehbar ist. "Big Blue" will künftig viele Softwareprojekte auf eigens eingerichteten Internetportalen (Liquid Portal) ausschreiben, bei denen zertifizierte freie Softwareentwickler sich anmelden können, um sich für die jeweils von IBM ausgeschriebenen Projekte zu "bewerben". Auf diesen "Projektbörsen" - die eine Art eBay der Lohnarbeit darstellen werden - dürfen auch die derzeit noch fest angestellten IBM-Mitarbeiter um neue Aufträge "mitbieten".

Dies wird von der sogenannten "Liquid Community" bereits seit einiger Zeit im Unternehmen im kleinen Maßstab praktiziert, sodass IBM bereits erste Erfahrungen mit Crowdsourcing intern sammeln konnte. Hierbei handelt es sich um rund 7.000 IBM-Mitarbeiter mit freien Zeitkonten, die sich in diese "neue Arbeitsweise exakt eingefügt" hätten, wie IBM-Vizepräsident Patric Howard im August 2011 schwärmte: "Wir schaffen 30 Prozent schnellere Auslieferung, 20 Prozent höhere Qualität, (...) und haben dabei in 30 Monaten die Kosten um 33 Prozent gesenkt." Sollte diese massive Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsorganisation erfolgreich sein, wird das bereits in Ansätzen zu Anwendung gelangende Liquid-Konzept konzernweit voll umgesetzt werden.

Bei dem "externen" Crowdsourcing soll das auf projektbezogene Jobvermittlung spezialisierte Internetportal Top-Coder zum Zuge kommen, bei dem sich global bereits knapp 400 000 freie Programmierer als Nutzer angemeldet haben. Hierbei erstellt der betreffende Programmierer ein Profil seiner Fähigkeiten, wie auch auf anderen Online-Plattformen, um dann an dem allgemeinen Konkurrenzkampf um Aufträge teilnehmen zu können. IBM wird somit in einem ersten Schritt beim Top-Coder-Portal bestimmte Ausschreibungen platzieren, dass im Firmenjargon als "Liquid Ressource" bezeichnet wird. Das entsprechende Portal gleicht somit Facebook, nur dass hier die von IBM zertifizierten Fähigkeiten der Beschäftigten und deren frühere Leistungsbewertungen eingesehen werden können.

Perspektivisch will IBM diese Art des webgestützten Tagelöhnertums in der gesamten Branche popularisieren, indem die entsprechenden Portale auch selbst aufgebaut und anderen Unternehmen zur Nutzung angeboten werden sollen - gegen eine Gebühr, die zur weiteren Einahmequelle wird. Der künftige IBM-Projektleiter aus der Kernbelegschaft könnte diesen Vorstellungen gemäß künftig auf etlichen Jobportalen sich seine freien Mitarbeiter aus verschiedenen Portalen für ein Projekt einfach "zusammenklicken" - ganz so, wie wir uns derzeit Favoritenlisten oder Einkaufslisten auf Internetportalen zusammenstellen.

Jobportale wie Top-Coder oder Twago stellen somit eine Art pervertiertes soziales Netzwerk dar, auf dem die prekarisierten Lohnabhängigen ihre Ware Arbeitskraft feilbieten müssen - und deren einzige Kommunikationsform die gnadenlose Konkurrenz untereinander bildet. Im Idealfall sollen die an die Portale gerichteten "Calls" (die Projektaufträge) der IT-Konzerne "offen" sein. Dies bedeutet, dass jeder auf dem Portal gemeldete Programmierer an der Realisierung des Projekts teilnehmen kann und nur die beste Lösung auch entlohn wird. Die Konsequenzen dieser Form des "Crowdsourcing" schilderte die Verdi-Betriebszeitung bei IBM:

Das ist für den Aufgabensteller - hier die IBM - besonders lukrativ, denn der kann aus den fertigen angebotenen Lösungen genau die aussuchen, die ihm am besten gefällt und am billigsten ist. Natürlich wird nur diese eine fertige Lösung bezahlt. Vielleicht kriegt noch der Zweitplatzierte etwas, aber die anderen gehen leer aus. Sie haben dann umsonst gearbeitet.

Arbeiten in der Cloud

Das soziale Netzwerk - von den Medien spätestens seit dem Ausbruch des "arabischen Frühlings" als das Mittel menschlicher Emanzipation schlechthin idealisiert - wandelt sich bei Einverleibung in den Verwertungsprozess zu einem buchstäblich "Asozialen Netzwerk", das Konkurrenz und Ausbeutung auf eine neue Stufe stellt. In einer furchtbaren Ironie wird so das soziale Netzwerk dazu missbraucht, die konkurrenzvermittelte Vereinzelung der lohnabhängigen Monaden auf die Spitze zu treiben, deren Wohnung somit auch zum Arbeitsplatz würde.

Inzwischen macht das Schlagwort des "Cloud Working" in der Branche die Runde, um aus betriebswirtschaftlicher Perspektive die Möglichleiten des Web 2.0 auf den Begriff zu bringen. Mit dem IT-Begriff der "Cloud" (Wolke) werden die Daten, Programme und Dienstleistungen bezeichnet, die ein Benutzer in dem Internet aufbewahrt - etwa durch webgestützte E-Mail-Clients, soziale Netzwerke, Videoportale, Foto- und Musikdienste, usw. Nahezu jeder von uns hinterlässt solch eine Wolke von persönlichen Daten im Internet. Die in asozialen Netzwerken der Lohnarbeit gegeneinander konkurrierenden Menschen sollen im Idealfall Teil einer "Wolke" aus lebendiger Arbeitskraft werden, die um die Kernbelegschaft eines Konzerns konjunkturabhängig fluktuiert. Diese menschliche Wolke, diese "Human Cloud" von freien Mitarbeitern, bleibt nur noch vermittels der Subunternehmen, Jobportale und der entsprechenden Zertifizierungen an dem Unternehmen "angedockt".

Mit diesem Prozess geht auch eine regelrechte Zerfaserung der Unternehmensstrukturen einher, die aufgrund einer Vielzahl von Subunternehmen, Dienstleistern und Jobportalen im Konzernumfeld an Eindeutigkeit und Kontur verlieren. Künftig sollen somit möglichst viele Arbeitsabläufe in Form von "offenen Calls" auf Projektbasis an diese Tagelöhner in der "Human Cloud" ausgeschrieben werden, die sich wie ein "Schwarm" auf diese Calls stürzen und in Konkurrenz zueinander dem Konzern ihre Lösungen anbieten, von denen dieser die besten auswählen kann. Hier würde ein "Schwarm des Kapitals" kreiert, der enorme Effizienzgewinne ermöglichte. Das System ist zudem auf direkte, globale Konkurrenz ausgelegt, bei dem der Standort der einzelnen Cloud-Mitglieder keine Rolle spielt. Deswegen erwägt sich die IBM-Führung die Einführung globaler Arbeitsverträge. Und deswegen ist die IBM-Deutschland-Chefin Koederitz schon heute der Ansicht, die genaue Anzahl ihrer Mitarbeiter in Deutschland aufgrund der globalen Verflechtung ihres Unternehmens nicht beziffern zu können.

Im Grunde stellen diese Überlegungen die Konsequenz des neoliberalen Appells an die "Selbstverantwortung" der Lohnabhängigen dar. Diese würden so tatsächlich zu den "Unternehmern ihrer selbst" werden, die nun für alle Voraussetzungen ihrer Lohnarbeit aufzukommen hätten: Ausbildung, Gesundheit, Renten, Arbeitsplatz, Arbeitsmittel, etc. - während die Zuspitzung der Konkurrenz untereinander und die Form der Heimarbeit die Organisierung von Gegenwehr stark behindern würden.

Auch in Deutschland gibt es übrigens erste Versuche, "Human Clouds" aufzubauen. So kann das Portal Clickworker.com bereits 100 000 Nutzer verzeichnen, die prekär Korrekturaufgaben, Texterstellung oder Internetrecherche übernehmen. Kein Wunder also, das IBM-Personalchef Ringo schon 2010 so begeistert war. Die Zeitschrift Personnel Today, der Ringo das besagte Interview gab, berichtete zudem von einem gigantischen gesamtwirtschaftlichen Potenzial für diese neuen Formen der prekären webbasierenden Arbeitsvermittlung in den USA: "Outsourcing-Experten erklärten, dass Arbeitgeber im privaten wie im öffentlichen Sektor dieses Modell verstärkt in Erwägung zögen, um die Personalkosten im Gefolge der Rezession zu senken."

Tendenziell können nahezu alle Formen der Büroarbeit - und auch viele Dienstleistungen - in die "Cloud" ausgelagert werden. Wie eine solch umfassend prekarisierte "schöne neue Arbeitswelt" aussehen würde, schildert der im Auftrag der Gewerkschaft Verdi produzierte Kurzfilm Gar kein Wolkenkuckucksheim. Der Film entwickelt ein Zukunftsszenario, bei dem Lohnabhängige in den meisten Branchen bereits zu Cloud-Workern zugerichtet wurden.