Cyberspace? Hier entlang...

Die 6.Internationale Konferenz über Cyberspace, Oslo, 5.-8. Juni 97

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Konferenz-URL 6th cyberconf
Auch die pop~Tarts haben einen Bericht zur Cyberconf verfaßt, der eine andere Perspektive auf das Ereignis einbringt und damit mindestens ebenso lesenswert ist.
Ebenfalls in dieser Ausgabe: Publizieren im Cyberspace die (nachträglich verfasste) deutsche Fassung meines Vortrags in Oslo.

Als am Abend des ersten Konferenztages die Bürgermeisterin der Stadt Oslo zum Empfang lud und die vor dem Portal des architektonisch strengen Rathauses eintreffenden Konferenzteilnehmer hilflos um sich blickten, wurde ihnen von einem Pförtner mit freundlicher Geste der Weg gewiesen. Cyberspace? Hier entlang...
Nun ist es natürlich paradox, daß der Cyberspace, von dem wir doch alle wissen, daß er seiner Natur nach ortlos ist, überall und nirgends zugleich existiert, bzw. in der geheimnisvollen Welt der Kabel, Router, Switches und Harddisks angesiedelt ist, ausgerechnet in Oslo eine bestimmte örtliche Manifestation gefunden haben soll. Und diese eher zufällige Episode wäre auch gar nicht der Erwähnung wert, wenn sie uns nicht zu zwei grundlegenden Erkenntnissen verhelfen würde: Cyberspace existiert nicht als Ort per se, wie etwa ein bestimmter Platz in einer bestimmten Stadt, sondern ist das, was wir alle uns in unseren Köpfen vorstellen, eine Art Gruppenhalluzination, die individuell stark abweichenden Charakters sein kann. Cyberspace ist für jeden etwas ganz anderes. Und die zweite, eher banale Wahrheit ist, daß Norwegen das am besten verdrahtete Land der Welt ist. Von den 4 Millionen Einwohnern verfügen 1 Million über Internetzugang. Diese hohe Modem-Dichte sagt jedoch wenig über die Qualität der örtlichen Netzkultur aus.

Um es vorwegzunehmen: Die sechste Konferenz über Cyberspace war im Vergleich zum Vorjahr, als die Konferenz in Madrid stattfand, enttäuschend. Das lag wohl größtenteils in der Verantwortung der örtlichen Organisation, ein Team aus der Forschungsabteilung der Telenor (norwegische Telekom). Sie waren nicht in der Lage, eine lebendige Diskussion - für die die Cyberconf ja geradezu berühmt ist - in Gang zu bringen, im Gegenteil, ihre Moderatorenrolle bestand hauptsächlich im Abwürgen von Diskussionen mit dem üblichen Verweis auf die knappe Zeit. So zerfiel die Konferenz in ihre Einzelteile, eine Dynamik wie etwa in Madrid, die in die Konfrontation John Perry Barlow - Geert Lovink/Pit Schultz mündete, kam nicht in Gang. Die interessanten inhaltlichen Gespräche fanden in Kleingruppen in den Kaffeepausen oder bei gemeinsamen Essen statt.

Gruppenbild mit elektronischen Festivalnomaden, Foto Cecilie Andersson

Das kann auch schön sein, ist aber eigentlich schade. Denn das versammelte intellektuelle Potential der aus den verschiedensten Erdteilen angereisten Teilnehmer hätte eigentlich wirklich spannende Konfrontationen und verbale Crosspostings erwarten lassen. Neben "Keynote Speakers" Arthur und Marie-Louise Kroker, Pierre Levy, Konferenz-Initiatorin Sandy Stone, waren als Vortragende u.a. Suzy Meszoly, Manuel De Landa, Sally Jane Norman, Tecla Schiphorst, Pop~Tarts Kathy Rae Huffmann und Margarete Jahrmann, Marcos Novak und nicht zuletzt "nur" als Publikum teilnehmende Personen wie Perry Hoberman oder die Organisatoren der letztjährigen Cyberconf, Raffaelo Lozano-Hemmer und Suzy Ramsay in die norwegische Hauptstadt gekommen.

Sandy Stone, Initiatorin der Cyberconf, Foto Cecilie Andersson

Eloquent, wortgewandt, metaphernreich und - wie immer - an der Grenze zur Performance-Kunst das Eröffnungsstatement von Sandy Stone. Mit hochgestrecktem Arm und geschlossenen Augen, tiefe Trance simulierend, rief sie die Geister nicht erschienener Cyberconf-Ahnen an. "John Perry Barlow, bist, du hier?" Und sofort meldete sich John Perry, inkorporiert von Sandy, zu Wort, um in einen flammenden Appell für Free Speech und ungebremsten Kommerz auszubrechen. Als weiterer Geist wurde die Interface-Theoretikerin Brenda Laurel angerufen. Danach auf den Boden der Tatsachen zurückkommend, verwies Sandy Stone auf Themen, die aus ihrer Sicht die Kernthemen der Konferenz werden sollten: Kontrolle, Zensur und Überwachung auf der einen Seite, kommerzielle Überformung, z.B. durch Push-Technologien auf der anderen Seite, und/aber die immer noch gegebene Offenheit des Cyberspace, die Möglichkeit für jede/n, sich als Person im Cyberspace zu verwirklichen und damit die Gestalt, die der Cyberspace in Zukunft haben wird, mit zu beeinflussen. Denn, das versuchte Sandy Stone ganz deutlich hervorzuheben, bei aller berechtigten Sorge über bestimmte Fehlentwicklungen und Tendenzen, gibt das "Neuland" Cyberspace immer noch viele Möglichkeiten her. Cyberspace sitzt zunächst in unseren Köpfen und was es wirklich ist oder sein wird, hängt von jedem einzelnen Netizen ab.

Was also ist Cyberspace? Wie nicht anders zu erwarten führte auch die sechste Konferenz nicht zu einer endgültigen Klärung dieser Frage. Eigentlich war es eher so, daß die Beiträge, die sich mit der Cyberspace-Metapher im engeren Sinn befaßten, großes Gähnen auslösten. Ein anderer, pragmatischerer Zugang, stärker an der Wirklichkeit vorhandener Netzstrukturen, Communities und Probleme orientiert, scheint der Wirklichkeit des Cyberspace und dem Interesse der Netizens näher zu stehen.

Marcos Novak, Foto Cecilie Andersson

Symptomatisch für hochgeistige Verwirrungsstrategien war z.B. die von gleichzeitigen Projektionen auf zwei Leinwänden unterstützte Präsentation von Marcos Novak, University von Austin, Texas, in ihrer deleuzianischen Überfülle von nichthierarchisch verschachtelten Gedankengängen. Schade, eigentlich klang das alles sehr interessant, Novak machte es einem aber auch (absichtlich) verdammt schwer, sich etwas Konkretes rauszuziehen. (Ein Text von Marcos Novak findet sich im Telepolis Schwerpunktthema Architektur.)

Wenig Neues wußte Pierre Levy vorzutragen. Seine "Universalität ohne Totalität" ist Telepolis-Lesern wohl bereits geläufig. Besonders in der Diskussion im Anschluss an seinen Vortrag zeigte sich, daß diese Theorie nur dann funktioniert, wenn man sie nicht zu sehr in die Nähe von Realweltphänomenen bringt. Echte Theorie eben, französischer Rationalismus, technikgestützter Humanismus verbunden mit der modernistischen Vorstellung, daß neue Technologien zwangsläufig auch ein Element an sozialem Fortschritt beinhalten. Wer sich von diesem "schönen" Gedankengut anstecken lassen möchte, sollte es tun, sich aber bewußt bleiben, daß sich die Dinge auch ganz anders entwickeln können. (Texte von Pierre Lévy in Telepolis: Universalität ohne Totalität, Städte, Territorien und Cyberspace, Manifest für eine molekulare Politik.)

Babylon by Databus

Einige Beiträge lösten nicht nur Gähnen sondern auch Kopfschütteln aus. Ohne nun jemanden namentlich zu nennen und dadurch zu beleidigen, so ist es doch erschütternd zu beobachten, wie die Sehnsucht nach dem Ausleben sexueller und erotischer Wünsche insbrünstig, ästhetisch/künstlerisch verbrämt, was es aber auch nicht besser macht, in den Cyberspace projiziert wird. Interaktive Techno-Videos, Live-Performances, die unvermittelt (bei Programmabsturz) zu Macromedia-Director Werbeeinschaltungen werden, elektronischer Musik-Kitsch, der sich noch dazu selbst als Kunst ernst nimmt, peinigten Auge, Ohr und Fassungsvermögen des Publikums. Und damit soll nichts gegen Techno als Musik oder das Phänomen der V-Jays (Video DJŽs) grundsätzlich gesagt sein. Sicherlich ist gerade auch dieser Bereich an der Grenze zwischen Medien/Kunst/Entertainment einer der Motoren zukünftiger Entwicklungen. Doch sollte neben Enthusiasmus und Programmierkünsten vielleicht doch auch mehr Wert auf künstlerische Ausbildung gelegt, die Problematik von Form und Inhalt, die mit den neuen Medien nicht einfach verschwindet, bedacht werden.

Theoretiker als Rockstars

Perry Hoberman (links, nachdenklich), Arthur Kroker (rechts, skeptisch), Foto Cecilie Andersson

Das kanadische Ehepaar Arthur und Marie-Louise Kroker gestaltete seine Auftritte als Performances. Ein erster "Gig" fand mit musikalischer Unterstützung von Steve Gibson statt. Doch auch der eigentliche Vortrag der Krokers geriet zur Performance. Ein knalliges Video zum Einstieg, danach abgezirkelte Wortkaskaden, mal mehr poetisch, mal mehr narrativ, mal mehr annäherungsweise theoretisch und zum Ausstieg wieder ein knalliges Video (über den "Millenniumsbug", das Umstellungsproblem, das ältere Computersysteme mit dem Jahr 2000 haben). Da wird die Kritik der Krokers, die sich gegen den kulturellen Imperialismus von multinationalen Entertainmentkonzernen und die Kultur der "Remakes" richtet, zur mediengestützten Agitation. Theorie kann man das eigentlich nicht nennen. Der monolithische Gebrauch von Worten, wie z.B. die "Technologie" tue dies, tue das, bleibt viel zu sehr in Verallgemeinerungen stecken, um uns wirklich etwas Neues mitteilen zu können. Die Panikmache vor der völligen Vereinnahmung des Menschen durch Technologien macht die Dinge eigentlich bloß nebulös. Wirklich konsequent durchdacht scheint nur die Strategie der Krokers, durch geschickten Technikeinsatz und den Stil der Vorträge und ihre inhaltliche Polarisierung selbst zu Medienstars zu werden. Vielleicht schaffen sie es damit ja wirklich in die Massenmedien, in WIRED waren sie schon, vielleicht können sie damit Leuten zumindest Anstöße vermitteln, ihr Denken über Cyberspace in eine kritische Richtung zu lenken. Die Undifferenziertheit der Statements aber, und die limitierten Fähigkeiten der Krokers als Performer könnten dieses Unterfangen zum Schuß in den Ofen werden lassen. (siehe das Gespräch von Geert Lovink mit Arthur Kroker über Data Trash;)

Die fleissigen ArbeiterInnen des Cyberspace

Sally Jane Norman (links), Suzanne Meszoly (rechts), Foto Cecilie Andersson

So blieben als die positivsten Beiträge jene in Erinnerung, die entwerde von konkreten Ereignissen und Projekten zu berichten oder mit einer Fülle von Daten und Informationen, aufbauend auf solider Forschungsarbeit, aufzuwarten wußten. In dieser Hinsicht sind u.a. Sally Jane Norman, Suzanne Meszoly und Manuel DeLanda zu nennen (die Hervorhebungen sind natürlich subjektiv und nicht repräsentativ; siehe dazu den Artikel der pop~Tarts über die Cyberconf, denen noch weitere Beiträge positiv aufgefallen sind).

Manuel DeLanda, Foto Cecilie Andersson

DeLanda, wie üblich den vorbereiteten Text paraphrasierend, hätte auch nach einer Stunde noch mühelos weiterreden können. Seine Untersuchungen über Wissenschaftsphilosophie und -soziologie am Beispiel von Software-Entwicklungen stützt sich auf langfristige Recherchen. Es dürfte wohl kaum ein einschlägiges Buch in New Yorker Bibliotheken geben, das DeLanda nicht zitierbereit im Kopf hat. Auf die entsprechende Publikation werden wir allerdings laut Aussagen des Künstlers noch 3 Jahre warten müssen, so lange wird die Recherche noch dauern.

Weniger theoretisch aber umsomehr enthusiastisch Sally Jane Norman, die von Experimenten bei einem Robotik-Workshop in Aix-en-Provence berichtete und diese in einen Kontext mit der Technozooesemantik von Louis Bec zu bringen wußte.

Suzanne Meszoly stellte das von ihr geleitete Medienkunstzentrum C3 in Budapest vor. Die Gastkünstlerprogramme (siehe z.B. Alexei Shulgins dort realisiertes neues Projekt "Form Art"), die kostenlosen Internet-Workshops, das Radio- und Webmagazin "Pararadio", die angedachten und bereits begonnenen Kooperationen mit jungen Roma- und Sintimusikern u.v.a.m. zeigen, daß in dem seit einem Jahr existierenden Zentrum gute Arbeit geleistet wird. Verdienten Applaus fand auch die gelungene Live-Real-Audio Einschaltung der jungen Akteure von Pararadio aus Budapest. Um etwaiger Kritik an der "Sorosisierung" des osteuropäischen Kulturlebens vorzubeugen, die sich am Defacto-Monopol zur Förderung von Medienkunst in exkommunistischen Staaten entzündet, schilderte Meszoly auch den Aufbau und die Organisationsstruktur der Soros-Centres for Contemporary Art und gab unumwunden zu, daß die Arbeit in manchen Zentren nicht so gut funktioniert. Das sei eben abhängig von der jeweiligen örtlichen Organisation. Auch die Soros-Zentren seien kein monolithischer Block. Das C3-Centre zeigt jedenfalls im Kern gute Ansätze, lokal in Budapest, ebenso wie in internationalen Netzen zu einem spannenden Ort der Praxis und Diskussion der neuen Medien zu werden.

Kunst oder Messestand?

Die begleitende Medienkunstausstellung E~on zeigte einmal mehr das Dilemma mediengestützter Kunstschaus. Die im Erdgeschoss der Kunsthalle gezeigten Web-, VRML-, und Multi-User 3D-Projekte hatten den vielbeschworenen Charme einer Computermesse. Bloß technisch interessant ist in diesem Zusammenhang das von der Forschungsabteilung der Telenor entwickelte Mehrbenutzersystem "DOVE". Es integriert Funktionen, die in VRML 2.0 gegeben sind, basiert jedoch auf einer selbstgeschriebenen Software und ist dadurch zum einen ästhetisch anspruchsvoller (schönere Oberflächen der 3D Modelle) und auch noch schneller im Netz. Die Entwicklung von DOVE steht in einem engen Zusammenhang zur Entwicklung des MPEG 4 Standards, der die Kompression von Daten, wie sie in 3D Welten zum Einsatz kommen, vereinheitlichen soll. Wenn hier wirklich ein Durchbruch erzielt wird, bei gleichzeitiger Erhöhung der durchschnittlich verfügbaren Prozessorleistungen und Bandbreiten, könnten Mehrbenutzerwelten vielleicht bald aus der Obskurität der High-Techlabors und anderer priviligierter User-Umgebungen ins Licht der allgemeinen Netzwelt treten. Für DOVE war allerdings immer noch eine SGI Crimson vonnöten, die diskret um die Ecke, also fürs Publikum eigentlich nicht sichtbar, ihre Dienste tat.

Im ersten Stock wurde die bereits bekannte Arbeit "Solve et Coagulae" von Stahl Stenslie, Knut Mork, Lars Nilsson und Karl-Anders Oygard gezeigt. Durch ein Stipendium am C3 Centre, Budapest, konnte die Arbeit weiterentwickelt werden (eine ausführliche Beschreibung von solve et coagulae siehe Pop~Tarts).

Guten Anklang fand auch die "Cyber-Islam"-Performance der jungen norwegischen Gruppe Motherboard. Es ist eigentlich schade, daß diese wirklich netzkundigen jungen Künstler aus Norwegen nicht in der Konferenz vertreten waren, da ihre Arbeiten zeigen, daß sie nicht bloss herumbastelnde Praktiker sind, sondern zweifellos auch ein konzeptuelles und kulturkritisches Gedankengut, das sich mit der Praxis vermischt, hinter diesen Projekten steht.

So blieb alles in allem ein zwiespältiger Eindruck von Oslo zurück, von einer Stadt, die mit den kurzen Nächten und bei schönem Wetter im Juni eigentlich wunderschön ist, der aber auch das Problem der nordeuropäischen Einsamkeit und der Langeweile in sattestem Wohlstand anzumerken ist, was sich zum teil auch, in der bereits kritisierten, Konferenzorganisation bemerkbar machte. Die Bedeutung und das Potential der Telekommunikation in Norwegen sind sicherlich riesengroß, das Niveau des Diskurses aber sollte angehoben, mehr internationaler Austausch - und nicht nur mit den skandinavischen Nachbarländern - angestrebt werden.
Bewerbungen für die nächste Cyberconf liegen aus Stockholm, Finnland und Budapest vor, und bei aller Sympathie für die umtriebigen Nordländer, Budapest wäre wohl doch der spannendste Ort unter diesen Vorschlägen.