transArchitektur

Bauen an der vordersten Front der Gedanken

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Architektur hat sich seit dem letzten Jahrhundert als unfähig erwiesen, die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse und mathematischen Modelle vieldimensionaler Räume in ihre Bauten zu integrieren. Marcos Novak sieht jetzt eine Chance, eine neue Architektur im Cyberspace und zwischen realem und virtuellen Raum zu verwirklichen. "transArchitektur" ist sein Name für eine Architektur im Zeitalter des Cyberspace.

Marcos Novak

Homepage

Eidos und Idee

Denn eidos bedeutet in der alltäglichen Sprache die Ansicht, die ein sichtbares Ding unserem sinnlichen Auge darbietet. Platon mutet jedoch diesem Wort das ganz Ungewöhnliche zu, Jenes zu benennen, was gerade nicht und niemals mit sinnlichen Augen vernehmbar wird. Aber auch so ist des Ungewöhnlichen noch keineswegs genug. Denn idea nennt nicht nur das nichtsinnliche Aussehen des sinnlich Sichtbaren. Aussehen, idea heißt und ist auch, was im Hörbaren, Tastbaren, Fühlbaren, in jeglichem, was irgendwie zugänglich ist, das Wesen ausmacht.

Martin Heidegger - Die Frage nach der Technik

Ideen sind die unsichtbaren Gerüste, auf denen das Reale gebaut ist. Die Architekturgeschichte ist eine Geschichte der wachsenden Perfektionierung von unsichtbaren Gerüsten. Es gibt wirkliche Gerüste wie diejenigen, die während des Bauens die Gewölbe stützen; es gibt industrielle Gerüste wie Fabriken, die Rohmaterialien dazu bringen, sich zu Strukturen und Oberflächen unserer Städte zu kombinieren, zu erhärten und zu formen; und es gibt Informationsgerüste, die Aktivitäten und Interessen der Menschen über riesige Entfernungen und Wissensklüfte hinweg verbinden. transArchitektur, die Architektur jenseits der Architektur, ist eine Architektur der unsichtbaren Gerüste.

Unvertrautes

Wenn der Wandel sich beschleunigt, werden einst exotische Technologien ganz normal, bevor ihre Folgen durchdacht worden sind. Geblendet vom Blitz der künftigen Erfindungswelle, vergessen wir, unsere heutigen Erfindungen näher zu untersuchen.

Virtuelle Realität und Cyberspace sind in unser gesellschaftliches Bewußtsein mit der Macht einer Offenbarung eingetreten. Sie üben weiterhin eine große Faszination aus, auch wenn diese unartikuliert bleibt. Während jedoch die sie ermöglichenden Technologien verfügbarer werden und ihre Neuheit schwindet, laufen wir Gefahr, die Vision zur Gewohnheit, das Erstaunen zur Apathie werden zu lassen.

Eine Zeitlang schien es so, als würde die virtuelle Welt unserem eigentlichen Bedürfnis entsprechen, als könnte sie unserem eigentlichen Wunsch Form verleihen. Dann waren eines Tages die Computer da, wurden die Kästen der peripheren Geräte geöffnet und geriet die Magie zu einem Durchwandern der einfallslosen Nachahmung des Gewöhnlichen. Gerade als die Zeit kam, die in der Technik steckenden Potentiale zu verwirklichen, traf eine andere Welle an Versprechungen von Vollkommenheit in Gestalt des weit gestreuten Zugangs zum Internet durch das World Wide Web ein. Jeder, der sich noch daran erinnern kann, mit großen Augen eine Informationsperle von der anderen Seite des Planeten mit der Hilfe einer frühen Version von Mosaic oder Netscape gefunden und abgespeichert zu haben, hat vielleicht schon den abwertenden Effekt dieser bequemen Möglichkeit erkannt. Wenn wir einmal annehmen dürfen, daß das Netz wirklich funktionstüchtig und Information allgegenwärtig ist, dann gehen wir über zur nächsten Neuheit, wobei wir nicht mehr in der Lage sind, die Magie und den Sinn zu sehen, derart Unwahrscheinliches wie dieses Spinnennetz geschaffen zu haben, das den Planeten umspannt.

Die Wissenschaften haben einen großen Erfolg bei der Überwindung dessen erzielt, was zu einer ernsthaften Technophobie angewachsen ist. Mit der Vergangenheit zurecht zu kommen, bedeutet allerdings noch nicht, sich der Zukunft zu öffnen. In einem Klima des exponentiell sich beschleunigenden Wandels sind Langsamkeit und Zögerlichkeit sichere Formeln für Irrelevanz. Wenn täglich neue technologische Versuchungen eintreffen, verschärft der Zwang, den Schein von Bedeutung durch den Konsum einer Erfindung zu erwerben, eine ohnehin bereits schwierige Situation.

Der einzige Ausweg aus dieser verzwickten Lage ist, sich den neuen Technologien wagemutig und mit der Absicht zu nähern, die Grundlagen einer jeden Disziplin und ihre Rolle in der Welt zu hinterfragen, die um uns herum entsteht. Das sollte im Vertrauen darauf geschehen, daß die wichtigsten Aspekte jede Herausforderung überstehen werden - nicht weil wir darauf eingeschworen sind, sie zu schützen, sondern weil sie sich nicht zum Verschwinden bringen lassen.

Was wären, wenn die Mimesis der materiellen Welt ein partiales und begrenztes Ziel der virtuellen Technologien darstellt, einige stärker herausfordernde Ziele? In City of Bits hat William Mitchell systematisch unsere meisten Institutionen mit der Absicht untersucht, wie jede durch die Technologie niedergerissen und rekombiniert wird. Seltsamerweise verändert sich in dieser Darstellung alles und bleibt doch dasselbe. Die Auswirkungen dieses sozialen, politischen, ökonomischen und intellektuellen Abrisses nachzuvollziehen, bleibt dem Leser überlassen.

Das ist keine Überraschung. Der Erkenntnis, daß alles mutiert, folgt eine große paradoxale Pause. Es scheint nicht mehr zu sagen zu geben, auch wenn noch alles gesagt werden müßte. Wenn die Erfindung mit der Imagination zusammengeht und in diese hineinströmt, bricht der Einfluß der Fiktion in sich zusammen. Genau diesem Gefühl des Zusammenbruchs muß man Widerstand entgegensetzen.

Architektur ist tatsächlich wie die Kultur und die Identität rekombiniert geworden, aber die Rekombination führt bald zur Mutation, zum Ursprungsort von Monstern und Engeln. Die Wirklichkeit wird viel fremdartiger sein, als wir dies erwarten.