transArchitektur
Seite 4: Bruch und Reparatur - Wohnen an der Front des Denkens
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1829, in dem Jahr, als Nikolai Ivanovich Lobachevsky seine Theorie einer nicht-euklidischen Geometrie veröffentlichte, war die einst enge Verbindung zwischen Architektur und dem Rand des Wissens bereits nahezu aufgelöst. Fast gleichzeitig veröffentlichte Victor Hugo 1830 "Notre Dame de Paris", eine Erzählung, die ein architektonisches Werk in Buchform ist. 1832 gab Hugo die zweite und endgültige Fassung von "Notre Dame de Paris" heraus, der er ein Kapitel mit der Überschrift "Ceci Tuera Cela" (Dies wird jenes töten) hinzugefügt hatte. Das ganze Buch, besonders aber dieses Kapitel, setzt sich ausführlich mit der Erkenntnis auseinander, daß das Buch die Architektur getötet hat.
Hugo sagt, McLuhan vorwegnehmend, daß der langsame Tod der Architektur im 15. Jahrhundert mit der Erfindung der Druckpresse durch Gutenberg begann. Die Reproduzierbarkeit und Allgegenwärtigkeit des Gedruckten verliehen Ideen ein weitaus mächtigeres Verbreitungsmittel als die Architektur. In den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts war der Niedergang der Architektur offensichtlich. Vom Thron gestoßen und unfähig, mit den neuen Ideen mithalten zu können, wurde Architektur immer säkulärer und nach immer engeren utilitaristischen Gesichtspunkten gebaut, entfernte sie sich immer weiter vom Einfluß der außergewöhnlichen kontra-intuitiven Vorstellungen, die den ruhigen Gegensatz von Raum und Zeit ersetzten, der vor dem Eintritt der nicht-euklidischen Geometrien vorherrschte. Ihrer klassischen Rolle als gebaute Offenbarung des Denkhorizonts beraubt, verfügte Architektur nicht über die materiellen Mittel, der Wissenschaft in die exotischen Bereiche der Raum-Zeit/Masse-Energie-Relativität, der Quantenmechanik und der seltsamen Welt zu folgen, die wir heute das Standardmodell nennen.
Im Westen hatte die Architektur in einer gebauten Form das kosmologische Wissen jeder geschichtlichen Epoche dargestellt, zumindest seitdem Pythagoras erkannt hatte, daß die Harmonien durch das Verhältnis ganzer Zahlen bestimmt waren. Die Zahl erzeugte über die Struktur der Welt Musik. Platons Darstellung des Verhältnisses zwischen Zahl, Musik und Kosmologie in seinem Dialog Timaios hallte bis zum 19. Jahrhundert im architektonischen Denken wieder: Architektur sollte die gebaute Widerspiegelung der besten Erkenntnis sein, die Menschen von der Struktur des Universums besaßen.
Platon erwartete nicht, daß das menschliche Wissen statisch sein würde, auch wenn er sich vorstellte, daß die ideale Welt dies wäre. Zu Beginn des Timaios macht er deutlich, daß die im Folgenden ausgeführte Theorie nur eine "wahrscheinliche Erzählung" sei. Sie sei zwar so gut, wie man sie zu hören erwartet, aber bleibe nichtsdestoweniger eine Erzählung, weil Menschen niemals die Wirklichkeit vollständig erkennen können. Diese Annahme impliziert, daß dann, wenn sich das menschliche Wissen verändert, so bruchstückhaft und fehlerhaft es auch sein mag, auch die damit zusammenhängende Architektur sich verändern müsse: eine langsame Kunst, die dem langsamen Wachstum der menschlichen Erkenntnis folgt.
Zwischen dem Beginn und dem Ende des 19. Jahrhunderts verschwand eine ganze Welt und alle ihre stabilisierenden Konzepte zeigten sich lediglich als Sonderfälle von umfassenderen Strukturen, die sich durch Wandel und Variabilität auszeichnen. Es zeigt sich, daß die Euklids Geometrie, die man für die einzig mögliche hielt, nicht einzigartig war. Saccheri, Gauss, Bolyai und Lobachevsky entdeckten, daß andere konsistente Geometrien entwickelt werden können, die nicht auf dem fünften Axiom Euklids über parallele Geraden beruhen. Die Macht Euklids über den westlichen Geist war enorm, jedoch überzeugt sich Saccheri selbst, daß er falsch lag, wagte es Gauss nicht, seine Entdeckungen zu veröffentlichen, resignierte Bolyai, nachdem er von Gauss nicht anerkannt wurde, und realisierte man nicht gleich die Bedeutung des Werks von Lobachevsky. Erst durch Georg Bernhard Riemann wurde 1866 der Begriff des Raums mit n-Dimensionen verallgemeinert. Minkowski führte die Zeit als vierte Dimension ein und vereinte Raum und Zeit in der Raumzeit, aber das war ein ganz anderer Ansatz als der, daß der Raum mehr als drei Dimensionen haben kann. Einstein verwendete die Entdeckungen von Riemann und Minkowski bei der Formulierung der Relativitätstheorie. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sollte David Hilbert einen unendlich dimensionierten Raum vorschlagen. Zur Zeit von Heisenberg und Gödel wurde Gewißheit durch Wahrscheinlichkeit ersetzt und gezeigt, daß die Vernunft Grenzen und Inseln besitzt.
Die Zeit zwischen der Entwicklung nicht-euklidischer Geometrien und der Gegenwart war eine Periode des wachsenden Abstands zwischen dem, wie wir die Welt erkennen, und dem, wie wir diese Erkenntnis architektonisch zum Ausdruck bringen. Erst jetzt, mit der Ankunft des Cyberspace als einem neuen öffentlichen Raum, kann dieser Abstand auf der Suche nach einer angemessenen architektonischen Darstellung überbrückt werden.
Weil gezeigt werden konnte, daß verschiedene Geometrien theoretisch gültig sind, wurde die Lösung der Frage, welche unser Universum beherrscht, ein empirisches Thema. Für viele Mathematiker und Nicht-Mathematiker war die Erkundung einer vierten räumlichen Dimension ein natürlicher Ausgangspunkt.
Während des 20. Jahrhunderts fand die vierte Dimension viele Interpretationen und beeinflußte viele Denker und Künstler, aber nur wenige Architekten. Die meisten Bemühungen waren jedoch impressionistisch und auf einer schmalen mathematischen Grundlage. Selbst wenn diese Bemühungen ein tieferes mathematisches Verständnis zeigten, stellte die inhärente Schwierigkeit, zu einer Erfahrung von vierdimensionalen Phänomenen zu gelangen, für die Vorstellungskraft ein ernstes Problem dar. Auch wenn die Vorstellungskraft solche Grenzen überwunden hat, gab es keine Möglichkeit, wie die Ergebnisse solcher Gedankenexperimente in die Alltagserfahrung eindringen konnten.
Der gegenwärtig stattfindende Übergang von der Energie zur Information hat diese Bedingungen verändert. Wir haben einen Raum innerhalb der Information entdeckt, der frei ist von den Beschränkungen der materiellen Welt und der die Erkundung von alternativen Gesetzen fördert. Innerhalb dieses Raums haben wir auf der Suche nach einer seinem Wesen angemessenen Architektur einen neuen öffentlichen Bereich geschaffen. Was diesem Raum natürlich zu sein scheint, zeigt viele der Eigenschaften eines mehrdimensionalen, gekrümmten Raums.
Architekten sind mit dem Problem vertraut, einem zweidimensionalen Plan eine dritte Dimension hinzuzufügen. Wie aber läßt sich, nachdem der Plan jetzt tot ist, eine vierte Dimension hinzufügen? Eine solche Frage fordert alle Aspekte unserer Disziplin heraus. Es gibt keine theoretischen, praktischen oder pädagogischen Modelle für solche Erkundungen, was genau der Grund ist, warum solche Erkundungen interessant und wichtig sind.
Zunächst scheint das Problem entmutigend zu sein. Ab einem gewissen Punkt aber, wenn man darauf beharrt, in einem vierdimensionalen Raum arbeiten zu wollen, wird die anfängliche Unvertrautheit schnell durch eine immer klarere Intuition ersetzt, wie sich die Dinge verhalten müßten. Dieser Übergang geschieht schnell, wenn man in Echtzeit arbeitet. Kurz danach beginnt man, einen weiteren Vorteil zu entdecken.
Jeder Komponist von Formen, Worten, Tönen, Zahlen, Bewegungen oder Ideen ist zutiefst mit dem Wesen von Mustern beschäftigt, besonders mit jenen, die die menschliche Psyche ansprechen. Wie man solche Muster erzeugt, ist die tägliche Beschäftigung eines jeden Gestalters. Man kann sich daher das überraschende Gefühl der Offenbarung vorstellen, wenn man entdeckt, daß die in n-Dimensionen schwierig zu erzeugenden Muster das Ergebnis von viel einfacheren Verfahren in n+1-Dimensionen sein können. Man wird dann fragen, wie es mit der fünften, sechsten oder sechsundzwanzigsten steht. Die von Physikern zur Erforschung der Superstring-Theorie verwendeten mathematischen Modelle gehen in die Richtung eines Universums mit 26 Dimensionen.
Der Cyberspace wird in seinen vielen Formen nicht den wirklichen Raum ersetzen. Beide werden vielmehr in einem Amalgam verschmelzen, das sich bereits in Begriffen wie erweiterte Wirklichkeit und intelligente Umgebungen herauskristallisiert. Es gibt bereits intelligente Häuser und Zimmer. Die Bedeutung dieses Übergangs in, dann durch und vielleicht über den Spiegel hinaus besteht darin, daß die Erkundung von Ideen und Phänomenen wie die vierte Dimension nicht auf Computerbildschirme und Datenhelme beschränkt bleibt, sondern sich auf die von uns bewohnten wirklichen Räume erstreckt. Unsichtbare, aber bestimmte Informationsobjekte werden sich um uns herum bilden, wenn wir sie benötigen oder haben wollen. Eine Handbewegung in Rom wird eine Ereigniskette in Neuseeland auslösen, weil sie mit einem hyperdimensionalen Objekt zusammenhängt, das die beiden Orte durch ein Wurmloch im Informationsraum verknüpft. In zwei oder drei Dimensionen gefaltet wird dieses Objekt nur ein Punkt im Raum sein, der seinem Besitzer folgt. Gedreht und in die dritte Dimension projiziert oder mit dem Umriß einer uns interessierenden Raumregion verknüpft, wird er ein bestimmtes Volumen in der Nähe seiner Benutzer oder um sie herum besitzen.
Die Forscher am Xerox Parc, die "Kontext- und-Konzentrationszugänge" untersuchen, wie sich Teile des Internet darstellen lassen, haben bereits einen Web-Browser vorgeführt, der auf einer hyperbolischen Geometrie basiert. Es ist unvermeidlich, daß wir beim Betreten des Informationsraums in wachsendem Maß Phänomenen mit mehr Dimensionen und anderen Raumkonzepten begegnen werden. Neue Generationen werden zweifellos mit solchen Phänomenen genauso vertraut sein wie wir mit unserer Alltagswelt. Das menschliche Bewußtsein wird sich zu einem größeren Verständnis der Relationen erweitern, die zwar dem Blick entzogen, aber in einem nicht-lokalen Web vorhanden sind.
Phänomene mit mehr Dimensionen sind nur ein Bereich von Phänomenen, die wir intellektuell begreifen, aber uns nicht vorstellen können. Bioarchitekturen könnte der Name eines neuen Programm architektonischer Forschungen sein, die neue Erkenntnisweisen der Welt mit einem wachsenden Verständnis zusammenführen wollen, warum uns bestimmte Konfigurationen räumlicher Muster tief berühren. Bioarchitekturen könnten das räumliche Äquivalent dessen sein, was wir als Biomusikwissenschaft bereits kennen.